Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 979 im Original

Band V.Teil 3.1 Die endlose Linie – theoretisches Objekt

'Die endlose Linie' war eine gemeinsame Aktion von Bazon Brock und Friedrich HUNDERTWASSER. In Spiralform wurde vom 18. bis 24.12.1959 eine Linie durch die Räume der Hochschule für Bildende Künste, Hamburg, gezogen. Zur Aktion gehörten ein Plakat (von Bazon Brock) und ein Text (von Pierre RESTANY). Das Plakat war viermal gefaltet, der Text, auf rotem Papier gedruckt, unten links als Leporello angeklebt. Der Plakattext wird im folgenden block- bzw. zeilenweise in seiner jeweiligen Zugehörigkeit von oben links nach unten rechts wiedergegeben.

a) Plakattext

IHRE SCHLANKE LlNIE/Fluchtlinie/Bauchlinie/Hauptkampflinie
man sollte im Leben und Handeln stets/die große LINIE bewahren: weil der Führer/und der Duce niemals die große Linie aus/dem Auge verlieren, sind sie berechtigt, die/Neugestaltung Europas in Angriff zu nehmen.
die LINIEN des Lebens sind verschieden wie Wege sind und der Berge Grenzen
ihre schmutzige Wäsche untersuchte sie alle/Sonnabende und hing solche des winters/einige Tage auf Linien.
Urania, glänzende Jungfrau, hält mit ihrer/Gürtellinie in tobendem Entzücken das Welt-/all zusammen.
got weiz wol, ich tu on ez niergent/umbe wan der linien ze eren, diu mich/geleitet hat zuo miner ewigen selikeit./als unreht als diu linie ist gewesen in/ir selber in der zit und in der ewikeit,/alsus wil ich sin in der ewikeit, und/in der zit. ir sult wizzen, daz ich/der linien niht wil abe gan.
will PANKOW auch die letzten LEBENS LINIEN durchschneiden
hinter uns ist die Thür/uns hemmt alles, was wir vergessen
macht: so wird die Welt gefüllt
kinästhetische Gestalt
Verlaufsformen des Vielfältigen in Einem/nicht in Totalität versinken
die Aufgabe der Künste:/einen langen Strich ziehen oder reizen: ducere lineam
LINIEN – die Künste – nicht gerinnen lassen zum Objekt/sie aufreißen in die andere Dimension: die ZEIT
anfangen: ist Leibniz' Infinitesimalrechnung eine Lösung
selbst die/jüdische/Nation/schwankte/alle Augen-/blicke über/die schmale/schwer zu /haltende Linie /hinaus
durch den LINIENVERKEHR wird der Raum getötet
so nagt sie lächelnd sich die rosenfarbenen Nägel/besieht die Linien in ihrer weißen Hand/dreht ihren Ring herum und spielt mit einem Band.

Sarastro schwor, daß die schwarze Pittelkow/in direkter Linie von ihm abstamme.
die verfremdete Sprache entlastet nicht mehr/gegen das Ausbleiben des Bösen in der Welt
MAN kann nicht intendieren, empfangen zu wollen/gegen die wartenden Mütter
Denn wir wundern uns, wie gerade wir auf dem STRICH gehen
der Vorfall hängt. Besingt auf cirka 50 km den Weg zur Lustnatur.
Tage und Nächte ununterbrochen (einer muß wachsen)
Der ZUG einer LINIE aus dem Geist der Wüste/ein SPIRALOID/jenseits des tachistischen Sumpfes
Das längste Gedicht der Welt
BAZON BROCK | HUNDERT/WAS/SER
hauptamtlicher Beweger Itzehoe Gelegenheitsmacher | freut sich wahnsinnig/SPIRALOID U/N/D PINTORARISCH/tätig sein zu können
im Jahre des hervorbrechenden Unheils MCMLlX
Einstieg in die Wand
EXERZITIEN
Hamburg 18 Dez. 15.11
AKADEMIE LERCHENFELD
Einkaufskörbe für/Sinnsucher an der/Tageskasse 5,00 DM

b) Text des Leporello

Ein erstes Gefühl der Bekanntheit dessen, wovon wir sprechen!

Sie brachen also von Ramesses auf und lagerten sich in Sokkoth. Von Sokkoth brachen sie auf und lagerten sich in Etham, das am Rande der Wüste liegt. Von Etham brachen sie auf und wandten sich nach Phihahiroth, das Beelsephon gegenüber liegt, und lagerten sich vor Magdalum. Von Phihahiroth brachen sie auf und zogen mitten durch das Meer in die Wüste und wanderten drei Tage lang durch die Wüste Etham und lagerten sich in Mara. Von Mara brachen sie auf und kamen nach Elim. In Elim waren zwölf Wasserquellen und siebzig Palmen, und sie lagerten sich daselbst. Von Elim brachen sie auf und lagerten sich am Schilfmeere. Vom Schilfmeere brachen sie auf und lagerten sich in Daphka. Von Daphka brachen sie auf und lagerten sich in Alus. Von Alus brachen sie auf und lagerten sich in Raphidim. Von Raphidim brachen sie auf und lagerten sich in der Wüste Sinai. Aus der Wüste Sinai brachen sie auf und lagerten sich in Kibroth Hattaawa. Von Kibroth Hattaawa brachen sie auf und lagerten sich in Rethma. Von Rethma brachen sie auf und lagerten sich in Remmomphares. Von Remmomphares brachen sie auf und lagerten sich in Lebna. Von Lebna brachen sie auf und lagerten sich in Rassa. Von Rassa brachen sie auf und lagerten sich In Keelatha. Von Keelatha brachen sie auf und lagerten sich am Berge Sepher. Vom Berge Sepher brachen sie auf und lagerten sich in Arada. Von Arada brachen sie auf und lagerten sich in Makeloth. Von Makeloth brachen sie auf und lagerten sich in Thahath. Von Thahath brachen sie auf und lagerten sich in Thare. Von Thare brachen sie auf und lagerten sich in Methka. Von Methka brachen sie auf und lagerten sich in Hesmona. Von Hesmona brachen sie auf und lagerten sich in Moseroth. Von Moseroth brachen sie auf und lagerten sich in Benejaakan. Von Benejaakan brachen sie auf und lagerten sich bei Hor-Hagadgad. Von Hor-Hagadgad brachen sie auf und lagerten sich in Jetebatha. Von Jetebatha brachen sie auf und lagerten sich in Hebrona. Von Hebrona brachen sie auf und lagerten sich in Asiongabar. Von Asiongabar brachen sie auf und lagerten sich in der Wüste Sin, das ist Kades.

Eine Linie meint gern einen bedeutsamen kennzeichnenden Strich.

Die zu strickende Geschichte

Fünf Herren werden sich in der Klasse HUNDERTWASSER der staatlichen Akademie für bildende Künste in Hamburg versammeln. Um dorthin zu gelangen, werden sie folgenden Weg beschreiten (während jeder von ihnen einen Faden von außen um seinen rechten Zeigefinger laufen läßt): Aus den Streuungen Gottes, 10.27, Nebelnester, Spiralnebel, Milchstraße, Sternwolken, Fixsternhimmel geraten sie ins Planetensystem. Von dort in unser Sonnensystem, auf unsere Erde, in die westliche Hemisphäre auf einen Kontinent, nach Europa, nach Mitteleuropa, nach Deutschland, nach Norddeutschland, nach Hamburg, Hamburg 27, Hamburg Lerchenfeld, Lerchenfeld 13, Akademie, zwei Treppen hoch, linker Hand, Mittelpunkt des Raumes 213. Sie werden dort jeder mit jeweils einem Gesicht einer nackten Wand gegenüberstehen, jeder mit seinen vier Gesichtern also vier nackten Wänden.
Was fordert eine leere Wand, wie hebt an ihrem Widerstand das Erleben an?
Franz MON antwortet darauf: an einer mauer stehen fünf mit dem ohr an der mauer. es ist nichts zu hören. keiner hört etwas. das nichthören ist so laut, daß es von jedem eine art des widerstandes fordert. die arten sind: langsam mit dem ohr die wand hinabrutschen, weil, wenn der körper kleiner wird auch das nichthören kleiner wird; der körper, der in sich zurückkehrt, dröhnt in sich; mit den flachen händen neben dem kopf abwechselnd die wand schlagend; mit dem kopf selbst die wand (das nichthören dauert zwar an, aber es wird doch etwas gehört); den platz des hörens nach rechts oder links verschieben. dies letzte ist die ehrlichste art, sie kommt kaum vor. erfolg hat jedoch die art, die nur einmal vorkommt, weil sie nur einmal vorzukommen braucht, wie alles was mit der sache nichts zu tun hat: die wand mit einem taschenmesser anzubohren, bis sie durchlässig wird; derjenige, der ein taschenmesser besitzt, leistet keinen Widerstand mehr und die wand leistet keinen Widerstand. er blickt durch die winzige öffnung, die er in höhe seines nabels unbemerkt von allen zustande gebracht hat.
Diesen Punkt gilt es auch für uns zu finden. Herr MON beschränkt sein Interesse auf diesen Punkt und die Fläche der Wand. Der Punkt brennt sich ein, wird damit Ausweg, durch den sich Herr MON den eigentlichen Anforderungen entzieht, ohne sich gleichzeitig seine Haare derart wachsen zu lassen, daß wir an ihnen immer noch eine Spur seines Verschwindens behielten. Gerade dieser Spur aber gehört unsere ganze Aufmerksamkeit. Denn wir wollen unserem eigenen Verschwinden endlich auf die Spur kommen. Wir wollen die Linie ziehen, die ununterbrochen allem Lebendigen ausfließt, ohne dabei gleich Verdinglichung des Bewußtseins zu treiben. Wir wollen das Schicksal alles Zeitlichen knüpfen in einen Strang. Wenn auch nur in einem Generalstabsplan für den Ernstfall, der nie eintreten wird, solange Philosophen und Künstler nicht auch alle politische Macht ausüben. Dann allerdings Gnade allen denen, die nicht ihr Leben in einem Zimmer verbringen können. Der Ernstfall wäre folgender:
Am 18. Dezember dieses Jahres um 15.11 (das ist der Zeitpunkt, da Jonas im Bauche des Walfisches untertauchte – die Berechnung ist das Ergebnis eines sechssemestrigen Studiums des Verfassers an deutschen Hochschulen) beginnt allen menschlichen Lebewesen ein roter Faden hinten herauszuwachsen, sobald und solange sie sich angestrengt bewegen. Mäusen, Insekten und Elefanten soll ein solcher Faden nicht wachsen, denn sie wiederholen nur den Menschen und können nichts dafür. Der Faden ist weder durch scharfe Schneidewerkzeuge noch durch das Zuklappen eines Sargdeckels zu durchtrennen. Eine Zeitlang ließe er sich unterwandern, bis kein Rücken mehr tief genug sich zu beugen vermöchte. Am 23. Dezember gegen 3 Uhr morgens hätte sich das Selbstbewußtsein derart entwickelt, daß der normale Lebensraum der Menschheit einschließlich der Luft- und Wasserstraßen von einem dichten Liniengewirr übersponnen wäre. Resultat, soweit es offensichtlich: Regression auf den Stein, das Leben im Kopfe, die heilige Weiße und Leere, wo sie sich noch erhalten hat. Jedermann bekäme nur einmal in seinem biblischen Leben die Möglichkeit, seinen rechten Arm bedeutsam zu heben und damit unwiderruflich das Ende zu treiben.
Auf einfachste Weise wäre jener letzte gordische Knoten, jene unabdingbare Situation geschaffen, auf die selbst Naturwissenschaftler warten (2. Hauptsatz der Thermodynamik). Der Verfasser hat mit obiger Annahme seinem alten Wunsche genügt, auch einmal Anlaß zu einem tödlichen Irrtum zu werden. Denn darauf läuft doch alles hinaus. Was gilt schon der Geschichtsschreiber, nachdem die großen Schlachten geschlagen worden sind, obwohl oder besser: weil er stellvertretend für Tausende an der Hypertrophie des Gedächtnisses leidet, der psychischen Spur, die unserer Linie ähnlich sein mag: die hypothetisch angenommenen Veränderungen, welche frühere Erlebnisse im Organismus, besonders in der Gehirnsubstanz zurückgelassen haben. Wir werden also unsere eigene Schlacht einrichten, Einmannschlachten, denn letztlich kommen wir uns ja selber aus der Linie entgegen. Für den Fall der Niederlage halten wir Papier und Bleistift bereit. Über den Verlauf der Aktion wird sehr genau buchgeführt werden: über die Wachablösungen, Kommandos, menschliche Unzulänglichkeit. Das Ziehen unserer Linie gleicht einem internationalen Staffettenlauf ohne den obligaten sportlichen Ehrgeiz. Im Ganzen aber wird das Unternehmen ein einziger Marathonlauf; von einer Siegesbotschaft wird niemand sprechen wollen, um nicht sterben zu müssen. Wir hoffen, nicht gezwungen zu werden, einen von uns zum Opfer zu bringen.
Natürlich hat die Linie einen Sinn, aber der Sinn ist nicht das Gemeinte. Es ist nicht der Sinn, den man denkt, man denkt aus dem latenten Kraftzentrum jenes Sinnes. Des gleichen, in dem ALEXANDER seinen Indienzug antrat. ERATOSTHENES den Weg von Alexandria nach Syene ausschritt, um den Umfang der Erde zu berechnen. PETRARCA jenen Gipfelmarsch auf sich nahm, mit dem er die Renaissance einleitete. COLUMBUS den Horizont zerschnitt. GOETHE seine italienische Reise durchführte. Sie alle nahmen schon damals eine Linie mit, die heute an den Wänden der Hamburger Akademie ankommt.
Obwohl der Satz: "zieht die Linie" weder wahr noch falsch sein kann, sind in dieser Aufforderung nahezu alle Probleme angeschlitzt, denen wir uns heute in den beiden freien Künsten gegenüber-gebunden finden. Während wir unser Hauptgeschäft führen, werden wir Kolleg halten über: Anfang, schlechte Unendlichkeit, Blindheit, Kontinuum, Unmittelbarkeit, Sinn, Gestus, Motorik, die Leere, Negation, ereignislose Zeit, Zeitbegriff, Auslösungszwang, Ablauf und Widerstand, und gemeinsam ein Buch schreiben, das im Februar nächsten Jahres in München bei einer 'nota'-Veranstaltung vorgeführt werden wird. Um bei unserer etwa einwöchigen Klausur und Leibesgemeinschaft uns wenigstens so weit zu bringen, daß wir uns wie durchschnittliche Liebhaber zurufen können: "you are really initiated now", sei angedeutet, wie die Linie aus dem Unmittelbaren resultiert und zum Begriff unterwegs ist.
Wir wollen nicht einfach das Komplizierte abgrenzen und das Elementare vermehren. Das Linienziehen ist kein Vorgang, an dem wir Thesen verifizieren wollen. Nicht Situation eines naturwissenschaftlichen Experiments. Nicht Flucht eines Denkens, das sich selber nicht traut, in die bloße Unmittelbarkeit. Zwar gilt nach wie vor für die Künste: "vergegenständliche tapfer", doch nur so weit, als sie sich immer erst ihre eigene Unmittelbarkeit vorgeben müssen.
In gewisser Weise allerdings ist die Linie ein Modell: ein ständiges Wechselspiel zwischen dem ein für alle Mal Ausgesprochenen und der Veränderung durch mögliche weitere Erfahrungen. Die moderne Subjektivität scheint darin zu bestehen, keine Erfahrungen zu machen.
Wir sahen, daß die Wand ihren Widerstand gegen den Menschen nicht durchhält. Sie muß das Eindringen gestatten. Ist der Bleistift einmal in die Wand eingetaucht, dann wird das Sichtbarwerden der Linie nur noch von unserer Konzentration abhängen. Der Gedanke, daß der Anfang zufällig ist, bedeutet nicht, daß der Gedanke eines Anfangs zufällig ist. (Weitere solcher Anfänge waren: eine in einer Schachtel mitgebrachte Fliege wird freigelassen und berührt zum erstenmal die Wand. Das Bild einer Frau, die nur mit ihrer Haut angezogen ist, wird auf die Wand projiziert, ein Anfänger geht auf sie zu, wird verlockt, ihr zu folgen und befindet sich, sobald die Projektion aussetzt, in der Wüste; ein angewiderter Besucher spuckt an die Wand; in der Mitte des Raumes wird in bezug auf die Nord-Südachse der Anfangspunkt durch die Werte festgelegt: X h = ho, x t = t1 und Raumwinkel y = 23 Grad 27 Minuten (= Schiefe der Ekliptik, Winkel der Abweichung des Herzens von der Körperachse usw.)
Die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Das Ziehen der Linie ist unmöglich, wenn man nicht diesen Satz berücksichtigt. Wenn jemand mir sagt, "ich reise nach New York ", weiß ich, daß er niemals ankommen wird. Er wird mir sagen müssen: "ich mache jetzt eine Bewegung." Die Kernsätze aller bisherigen Kunst waren vom Typus des Satzes: "ich reise jetzt nach New York." Wie aber erhebt man sich von einem Stuhl? Wie sah die Welt aus, ehe sie entstand? Ist der Anfang von Etwas ein scharf markiertes Ereignis'? Wie ist der infinitesimale archimedische Punkt zu gewinnen'? Reicht die Erklärung aus, daß Ruhe und Bewegung nicht gegensätzlich, sondern graduell voneinander unterschieden sind? Wenn nicht, ist das Bewußtsein ein geheimnisvolles Vermögen, die Kluft zu überspringen?
Wir werden den Anfang als Bestimmung der Linie zu ihrem Ende einführen, das unabsehbar ist. Das aber heißt: damit Etwas anfangen kann, muß schon immer Etwas auf dem Wege sein. Was auf dem Wege ist, ist ein Zufälliges, das durch unsere Freiheit bestimmt wird. Diese Bestimmung ist der Grund der Linie.
Die Linie muß schon etwas Bestimmtes sein, wenn ich sie ziehen will. Wenn aber der bestimmte Anfang gedacht wird, setzen wir ihn als schon hinter uns liegend voraus. Die unendliche Möglichkeit des Anfanges wird also von einem konkreten Anfang eingeholt werden. Die Linie impliziert nicht nur einen Anfang, sondern auch welchen: den besten aller, weil den einzig wirklichen. Die Differenz von Zeit und Werden des Vereinzelten ist geleistet, wir sind bei der Natur.
Warum der Anfang gestaltenarm ist, wissen wir nicht. Die Linie ist Gestalt. Die Linie ist nicht Summe unendlich vieler einzelner Punkte. Denn durch beständiges Hinzufügen von 1 kann Unendlich nicht entstehen. Die Linie hat aber den Appetit, Streben, Begierde, ins Unendliche fortzulaufen. Den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit zu erreichen. Dauernder Übergang vom Noch-nicht ins War-schon. Drittes ist für sie nicht gegeben. Anders als für die Linienzieher, die ihr jeder in dem ihm entsprechenden Material (Bleistift, Tinte, Urin des Propheten, Ölfarbe) auf den Weg helfen. Ihre Subjektivität ist von anderer Zeitlichkeit als die naturhafte äußere Zeit und die Eigenzeit der Linienziehung. Sie vermögen die Zeit zu metrisieren, sie aufzuheben, ihr Dauer als die Größe der Zeit zu verschaffen. Dauer und Moment sind nichts Außerzeitliches. Deshalb ist für sie die Linie schon von vornherein in alles andere verstrickt. Die Gesamtheit der wahrnehmbaren Geschehen sind ihnen erfaßbar in der Linie. Jeder Weltpunkt, der mit dem jeweiligen Aktualpunkt der Linie koexistiert, kann mit diesem in einer Weltlinie verbunden werden. Alles Weltgeschehen wird der Linie nach und nach angenäht. Ein Zeitfolgeverhältnis der Punkte untereinander ist erst zweiter Ordnung, wenn auch für das Denken unabdingbar. Die Zeit als Ordnung des nicht zugleich Existierenden ist immer nur Ordnung einzelner Teilmengen von Weltpunkten. Wohingegen Gleichzeitigkeit nicht im Zeitverlauf erfaßbar ist. Damit aber wird das Eine möglich, welches das diskret Vielfältige in sich aufgehoben hat. Dann aber läßt sich sehr wohl über das Eine philosophieren, es erhält Akzidenz.
Die Linie ist der Umfang des Begriffs Zeit. Sie synkronisiert alle Zeitstufen. Die Kunst ist das Aufheben des Nicht dieser Linie.
Für die praktische Durchführung liegen Bestimmungen vor. Was es heißt, daß die Linie uns scheinbar durch Tür und Fenster entkommt, wird an Ort und Stelle vorgeführt.
Wenn die Linie über verschiedene Materialien (Fensterglas, Kacheln usw.) rund herumgeführt wird, so werden sich die Linienzieher wie Reisende verhalten, die an die Küste des Ozeans, hohe Gebirge usw. kommen.
Aus Gründen der Eindeutigkeit des Zeitbegriffes – und weil mit dessen Gegenteil nichts mehr erreicht wäre – sollen sich die einzelnen Linien nicht schneiden.
Indessen bleibt die Linie fehltrittvalent. Sie hat eine endliche Ausdehnung, also Haut und Haut will an Haut, es könnte sein, daß ein Linienzieher versucht würde. Deshalb hat er eine Zusicherung auf Linientreue zu leisten. Das Dennoch wird uns überraschen.
Da die Linie eigentlich als auf einer unendlichen Wand gezogen gedacht werden muß bzw. als im Inneren eines Fabrikschornsteins gezogen, hier aber in einem viereckigen Raum erscheinen wird, nimmt sie die Gestalt einer SPIRALE an. Der Betrachtende (Prof. Bense täte das sicher) wird eine ideale Spirale gleicher Windungszahl darüber legen. Die Schnittpunkte, ihre Verteilungsfunktion ZdL = f (L) dL, die dazugehörigen Amplituden usw. sind Unbekannte, die über den Ablauf von Begebenheiten in der Zeit Aufschluß böten. Alle Formen menschlicher Reaktionen (Schmerz, Müdigkeit, Frische, Stoffwechsel, Freude usw.) werden in die Linie eingehen.
Erfahrungen des Endes von Etwas stehen uns noch bevor. Vielleicht werden wir die Linie durch das Dach des Hauses hinausführen und mit ihr die labyrinthische Architektur begründen (das hieße: die Linie wird das ganze Gebäude der Hochschule einnehmen. In welche Richtung auch immer ein Blick zu werfen möglich wäre, er träfe die Linie).
Aus den vielen Beiträgen, die wir von anderen Künstlern erhalten haben, sei vor allem die des amerikanischen Dichters Emmett WILLIAMS über "die Linie und das Verfahren der letzten Antwort" erwähnt. Die Beiträge werden während der Aktion für den endgültigen Text bearbeitet.

"Freund, es ist auch genug. Im Fall du mehr willst lesen, so geh und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen." A. SILESIUS

Idee des Projekts und Texte: Bazon Brock.

Für ihn war die Genesis der Linie obiger roter Faden: die Erscheinung der Totalität aller möglichen Aspekte in einer menschlichen Tätigkeit, die nicht mehr spezifisch 'künstlerisch' ist. Es gibt keinen ästhetischen Standpunkt. Die Reindarstellung des Nur-Dichterischen ist unmöglich. Diese Linie ist das erste der großen Nichtwerke, denen Brock sich im Laufe seines Lebens unterschieben wird.

Wie weit das bisherige Lebenswerk des Malers HUNDERTWASSER mit dieser Linie in eine Spirale unvorstellbaren Ausmaßes verwachsen ist, beschreibt Pierre RESTANY, Paris, folgendermaßen: 

HUNDERTWASSER et la Spirale

L'idiopathie narcissiste d'HUNDERTWASSER constitue l'indispensable phénomène psycho-physiologique par lequel l'artiste, surmontant sa difficulté d'être, rejoint la chaîne obscure et immémoriale des gestes premiers de notre espèce. Il participe ainsi de l'essentielle continuité de la symbolique millénaire dont la trace, liée a l'avènement de l'homme, a jailli de la nuit des temps préhistoriques.
La vision d'HUNDERTWASSER est dominée par la notion esotérique du Centre, elle-même figurée par le mouvement répétitif de la spirale en infini déroulement. La Répétition conçue par le peintre sur le mode de «l'automatisme», s'identifie chez lui au processus créateur et à toutes ses résonances universelles et nécessaires.
Le réseau subtil d'associations qui traverse de part en part l'œuvre d'HUNDERTWASSER repose sur un empirisme de la spirale tout aussi commun au mésopotamien qu'à l'aztèque ou au celte irlandais.
La spirale, représentation du relatif et du devenir, évoque la cyclique continuité de la Répétition, Loi du Monde: de la Lune aux phases régulières, de l'Eau renaissante au sein de la vague et de la marée, de la Femme aux menstruations périodiques. Lune-Eau-Femme, voilà la trilogie passive de la Fécondité, la pleine disponibilité créatrice.
Et c'est pourquoi la spirale appelle d'emblée la notion de jonction qui lui est complémentaire. L'initiale continuité du paléolithique est reprise par les civilisations sibériennes dans la trilogie correspondante, spirale-serpent-éclair, prélude à l'accouplement des deux reptiles, emblème mexicain de la pluie.
De même que la spirale est suscitée par la notion de Centre, nombril de toutes les naissances dont elle figure l'ombilical cordon, elle appelle à son tour l'entrelacs. Le nœud de la spirale évoque l'union et la vie. C'est l'Ankh égyptien, le fil de tous les labyrinthes, l'embryon de toutes les croix. Le nœud a été l'écriture des populations pré-incasiques. L'entrelacs de formes animales, végétales ou totalement schématisées jusqu'au pur contour linéaire et géométrique, figure toujours – à l'origine – la fécondation. De la spirale naît enfin l'arbre de vie. La spirale enserre ainsi, pour la défendre contre l'ennemi profane et mieux la dévoiler a l'initié, le centre secret de la Matrice Humaine. Tous les symboles qu'elles rencontre au cours de son développement évoquent la Répétition de l'acte créateur primordial auquel l'Eau et la Lune sont intimement liées. Le Déluge et le Baptême régénèrent, la Lune contrôle et initie. La continuité est à la fois dans l'ordre et dans le désordre: l'orgie dyonisiaque rend immortel. Le philtre sacré ouvre au buveur le cercle des Dieux.
Le rationalisme solaire sera impuissant à détruire la continuité de la spirale: on la retrouve dans l'art copte, l'enluminure irlandaise, la sculpture romane. L'art baroque en manifestera les effets souverains, sous la forme des volutes de façades, des mascarons de fontaines ou de clefs de voûte, dans les sinuosités du drape, dans l'élan des lignes végétales. Modern style, Jugendstil, Art nouveau en recueilleront le message. Barcelone avec GAUDI retrouve l'esprit cosmique de la grande tradition romane. Mais bien plus que Paris, Londres, Munich ou Berlin, c'est dans la Vienne cosmopolite et raffinée de la fin du siècle dernier que la continuité spiraloïde devait trouver son épanouissement suprême. HUNDERTWASSER est le plus authentique héritier actuel de la tradition baroque viennoise. Aucun peintre autrichien contemporain ne manifeste un attachement plus profond à cette continuité cosmogonique.
La spirale d'HUNDERTWASSER est autrichienne, baroque, romane, celtique, copte, mésopotamienne. Issue tout naturellement de la symbolique millénaire, elle est cosmogonique et architectonique. Elle figure le plan de défense du centre naturel, les fondations de l'autel de la fécondité. Replié sur lui-même, le labyrinthe devient sanhédrin, enceinte autour de l'arbre sacré, source de la connaissance.
Toute opération qui tend à intégrer la spirale dans l'architecture ne peut avoir qu'un seul motif: la protection du centre. Peu importe si HUNDERTWASSER nous en impose sa vision personnelle. La spirale qui court sur les quatre murs d'une maison en régénère la structure, des fondations à la charpente: c'est la plus efficiente de toutes les moisissures.
Aujourd'hui la magie cosmogonique est hors-la-loi. Nous qualifions de canular, de charlatanisme, d'hallucination collective les gestes symboliques immémoriaux qu'un rituel obscur et officiellement renié nous pousse à extérioriser. Que pouvons-nous y faire? Rien. Tout nous est permis, sauf de changer le sens académique des mots. Alors, sans retenue, buvons le sang des logiciens dans le crâne des sorcières. Sacrifions au désordre cyclique de la vis sans fin, à la continuité orgiaque de la spirale.

Pierre RESTANY
Hommage à tous les spiraloïdes d'HUNDERTWASSER,
Paris, le 23 novembre 1959, jour du troisième quartier de la lune.

Die endlose Linie, Bild: Gemeinsame Aktion von Bazon Brock und Friedensreich Hundertwasser an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, 1959.
Die endlose Linie, Bild: Gemeinsame Aktion von Bazon Brock und Friedensreich Hundertwasser an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, 1959.

siehe auch: