Vorwort zum Katalogband Fritz SCHWEGLER ‚Stücke zum Glücke‘, W. Hake, Köln 1973.
Über die Arbeiten Schweglers zu sprechen, ist aus dem Stand möglich, fast notwendig, denn Schwegler selber arbeitet aus dem Stand. Man kann auch sagen, Schwegler operiere punktuell. Die Leistungsfähigkeit seiner Vorgehensweise besteht gerade in dem augenblicklichen, voraussetzungslosen Zugriff aufs Problem.
Augenblicklich und punktuell soll heißen, daß sich Schwegler innerhalb seiner natürlichen und alltäglichen Lebensbewältigung äußert. Seine künstlerischen Bilderzeugungen sind die Resultate der jeweils unmittelbaren Arbeit an alltäglichen Lebensproblematiken. Er arbeitet künstlerisch, wie andere innerhalb der gleichen alltäglichen Lebensbewältigung kaufmännisch oder handwerklich oder hausfraulich arbeiten. Wie Hausfrauen, Schlosser, Kaufleute usw. Schraubschlüssel, Besen, Kurstabellen usw. benutzen, verwendet Schwegler seine Technik der Bilderzeugung. Seine Ausdrucksfähigkeit ist für ihn Instrument der alltäglichen Lebensbewältigung. Die Ausdrucksfähigkeit wird nicht auf kunstimmanente Problemzusammenhänge ausgerichtet.
Demzufolge sind auch seine Bilderzeugungen nicht darauf angelegt, als Kunstwerke zu gelten, sondern als Resultate eines exemplarischen Bewältigens der Lebensanstrengung. Exemplarisch deshalb, weil Schwegler dem Betrachter seiner Arbeiten nahelegt, auf die gleiche Weise vorzugehen wie er selber; er zielt auf Übertragbarkeit seiner Arbeitsweise. Man kann Übernahme und Gebrauch seiner Arbeitsweise genauso erlernen, wie man das hausfrauliche oder handwerkliche oder kaufmännische Arbeiten erlernt. Es ist von Nutzen, klar zu sehen, daß Schweglers Vorgehen eben gerade wegen der Übertragbarkeit exemplarisch ist und nicht wegen der Außerordentlichkeit einmaliger Leistung. Nicht die nur einem einzelnen Künstler zur Verfügung stehende Ausdrucksfähigkeit ist bei ihm zu bestaunen, sondern die Art, wie er uns etwas vormacht. Was er vormacht, ist von größter Wichtigkeit: er demonstriert, daß es einem einzelnen sozialen Subjekt immer noch möglich ist, sein Verhältnis zu seiner Lebensumgebung in anderer Form und mit anderen Resultaten auszubilden, als es die üblicherweise für diesen Zweck in Schulen und Ausbildungsstätten antrainierten sind. Das Kriterium für die Frage, ob Schweglers Verfahren die gewünschten Resultate hat oder nicht, liegt darin zu prüfen, welchen Anteil der alltäglichen Lebensprozesse er auf diese Weise zu erfassen versteht, ohne in unstatthafter Weise die Komplexität der sozialen Welt herabzudrücken.
Für eine solche Überprüfung bedarf es gerade wegen Schweglers punktuellen Vorgehens der Gesamtheit seiner Arbeiten. Denn nicht die einzelne konstruierte Aussage holt die grundlegenden Vorstellungen und Erfahrungen, die Schwegler in der Welt macht, aufs Papier. Das einzelne Arbeitsresultat kann nicht wie ein Kunstwerk zum gröNen Teil seine Bedingungen aus sich selbst demonstrieren. Die Einzeläußerung bei Schwegler muß zufällig bleiben. Erst die Addition und Reihung der Einzelaussagen erlaubt einen Rückschluß auf Schweglers instrumentelle Weltaneignung. Solchem Zwang zur Addition in der Reihe geht Schwegler bewußt nach. Das erklärt die Unzahl seiner bisherigen Arbeiten, die sich aber, wie gesagt, nicht einer unerschöpflichen künstlerischen Kreativität verdanken, sondern Konsequenz seines Vorgehens sind. Da ich die Gesamtheit seiner bisherigen Arbeitsresultate nicht kenne (wahrscheinlich gibt es niemanden außer Schwegler, der sie kennt), ist eine definitive Aussage über die Leistungsfähigkeit des Schweglerschen Vorgehens nicht möglich. Ich für meinen Teil kann mich aber mit dem zufrieden geben, was ich gesehen habe, um sagen zu können. daß für mich sein Vorgehen nicht nur akzeptabel ist, sondern daß ich es zu übernehmen versuche. Insgesamt gibt es nur wenige gelungene Entwürfe von Notationssystemen, also instrumentell einsetzbare Ausdrucksformen, so zum Beispiel das Notationssystem Diter ROTs oder das von FILLIOU oder George BRECHT. Unter diesen scheint mir das Schweglersche am besten generallsierhar zu sein für den Gebrauch durch andere als die Urheber.
Diese hohe Generalisierbarkeit des Schweglerschen Verfahrens wird natürlich erkauft durch einen weitergehenden Verzicht auf ästhetische Sensation. Denn die vielzitierte 'Skurrilität' Schweglerscher Bildkonstruktionen verdankt sich nicht der Absicht, das Bild ästhetisch aufzuladen oder es ästhetisch interessant zu machen. Der Eindruck der Skurrilität entsteht aus der Unnachgiebigkeit und Rücksichtslosigkeit, mit der Schwegler seine Gegenstandvereinzelungen im Bild betreibt. Das Ende eines Elefanten oder der Fuß eines Elefanten oder der gerollte Rüssel eines Elefanten oder die Nasenspitze vor schwarzer Wand wirken 'skurril' eben durch ihre Isolation aus einem Sehkontext und einer Gegenstandszuordnung. Vereinzelung ist eine Voraussetzung eines analytischen Verfahrens und wird von Schwegler auch im Sinn des genaueren Betrachtens und Untersuchens eines Gegenstandes angewandt. Ein Bestandteil eines wahrgenommenen Gegenstandes wird vereinzelt, um ihm gegenüber schärfere und weiterreichende Erhebungen anstellen zu können. Das in der Vereinzelung Analysierte muß aber, um das Resultat innerhalb eines Erkenntnisprozesses benutzen zu können, wieder zu Aussagen synthetisiert werden. Eines muß mit dem anderen verknüpft werden. Es ist verständlich, daß Schwegler diese Verknüpfungsleistung nicht bildsprachlich, sondern wortsprachlich erbringt. (Das tut übrigens auch ROT.) Allen seinen mir bekannten Arbeiten fügt Schwegler textsprachliche Versionen desselben Problemzusammenhangs hinzu. Diese Texte erfüllen die Forderung nach Literarisierung des Bildes, wie BENJAMIN sie gegenüber Bilderzeugern generell aufgestellt hat. Denn bis auf den heutigen Tag kann erst in den Literarisierungen die Synthetisierung von Aussagen gelingen, weil die instrumentelle Bildsprache noch nicht so weit entwickelt ist, daß sich aus ihr über die Analyse hinaus bereits Urteile ausdrücken ließen. Diese Möglichkeit besteht nur im Bereich der Konstruktion von Bildern, wie sie Künstler mit der Intention auf das Herstellen von Kunstwerken verfolgen. Schwegler geht es ja ausgesprochenerweise nicht um diese Intention. Am besten läßt sich die Funktion der Literarisierung für solche Vereinzelungen instrumenteller Bildsprache erfassen, wenn man im Vergleich zu Schwegler die beliebten Bilderdrudel anführt. Nur wird bei dem Drudel die Literarisierung nicht vom Bildkonstrukteur, sondern vom Betrachter verlangt. Ohne die Literarisierung aber ist ein Drudel nicht verstehbar. Schweglers Literarisierungen erweitern die Textfunktion, worauf ich mit dem folgenden, willkürlich herausgegriffenen Beispiel hinweisen will: In der Arbeit 'Prächtiger Elefantenfuß' heißt es: "Den sehe man sich mal an. Das heißt, erst muß man ihn sich natürlich machen, damit man ihn ansehen kann." Das ist inhaltlich zu verstehen bzw. programmatisch und sagt: Die Bildkonstruktion in der analytischen Vereinzelung von Gegenstandsbereichen ist notwendig, um den Gegenstand als einen wahrnehmbaren zu konstruieren. Das Herstellen des Bildes ist im analytischen Aspekt eine Konstruktion und im synthetischen Aspekt eine Rekonstruktion des Gegenstandes. Die Erkennbarkeit des Gegenstandes wird erst garantiert durch seine Konstruktion im Bild, die Beurteilbarkeit wird erst garantiert durch die Rekonstruktion in der Erfahrung. Das heißt, der analytisch aufgeschlossene Gegenstand wird wieder zurückversetzt in den Erfahrungszusammenhang, den der Zeichner aus dem Umgang mit den Gegenständen bereits gewonnen hat. Der Gegenstand wird zunächst in der Vereinzelung fremd und unbekannt gemacht, um ihn, wieder eingebracht in den Erfahrungszusammenhang, zur Erweiterung und Veränderung dieser Erfahrung nutzen zu können. Schweglers Arbeiten sind also keine künstlerischen Entwürfe einer autonomen Bildwelt oder Entwürfe individueller Mythologien eines Weltverständnisses, sie zielen ab auf die Erfahrungen der schon gegebenen Welt, soweit sie gegenständlich in der Lebensumgebung und das heißt im Wahrnehmungsfeld auftreten. Man muß sich also nicht auf künstlerische Spekulationen einlassen, sondern auf Vorgehensweisen bei der Weltaneignung, und das eben heißt, daß Schweglers Arbeiten auch für Nichtkünstler exemplarisch im oben angegebenen Sinn sein können.
Allerdings haben auch die prächtigsten ElefantenfUße SchwegIers noch einen Pferdefuß. Wer das Schweglersche Vorgehen so ausschließlich benutzen würde wie Schwegler selbst, könnte damit kaum seine Lebenschancen garantieren. Es gibt nämlich noch keine berufsspezifischen Handlungsfelder der Gesellschaft, in denen ein Nichtkünstler unter Anwendung der Schweglerschen Gebrauchsanweisung konkret lebensbewältigende Arbeit leisten könnte. Für uns kann also Schweglers Beispiel nur eines sein und nicht das ausschließliche. Diese Relativierung wird einem künstlerischen Bilderzeuger heute noch übel angerechnet, weil man nicht zugestehen will, daß künstlerisches Arbeiten auch direkt instrumentell verstanden werden kann. Es soll der herrschenden Meinung zufolge immer noch mythologisch, weltschöpferisch anspruchsvoll sein.