Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 59 im Original

Band I.Teil 2.3 Der Prozeß der Individuierung

- Eine Zukunft des Geschlechts im unaufhörlichen Abschied von Ödipus

Buchbeitrag zu F. BÖCKELMANN (Hrsg.): ‚Maskulin - Feminin‘, Rogner & Bernhard, München 1971, S. 66-89.

3.1 Zum Prinzip Individuation (ein Verweis auf Eingeschlechtlichkeit, Ageschlechtlichkeit, Gemeingeschlechtlichkeit)

Die nachfolgenden thesenhaft gefaßten Überlegungen gelten einem allgemein beobachteten sozialpsychologischen Phänomen, das in seinen einzelnen Erscheinungsweisen kurz herbeizitiert werden muß.
Eine wachsende Anzahl von Mitgliedern unserer Gesellschaft - Männer wie Frauen - geht dazu über, in Habitus und Erscheinungsbild die Merkmale der Geschlechtszugehörigkeit zu verwischen bzw. vollständig auszuschalten durch Vorgabe einer neuen Einheit der Geschlechter. Eine andere Gruppe wechselt die Geschlechterrollen; vornehmlich wechseln Männer in die Geschlechterrollen von Frauen über. Solche Ununterscheidbarkeit oder der Wechsel der Geschlechter muß zumindest für die oberflächliche soziale Konfrontation nutzbringend sein, sonst würde sie nicht versucht.
Die Frage ist, worin dieser Nutzen besteht.
Die Frage ist zweifach zu beantworten; einmal im Hinblick auf die in Anspruch genommenen Erklärungen, die für das Aufgeben der Geschlechterrollen herangezogen werden; zum zweiten im Hinblick auf die Funktion der Geschlechterdifferenzierung zur Steuerung sozialer Prozesse.

3.1.1 Ideologische Begründung der Unisexualität*

* Unisexualität ist ein irreführender Begriffsname, der aus dem Amerikanischen übernommen wurde und nicht mehr ohne weiteres ersetzbar ist. #es muß darauf verwiesen werden, daß UNISEXUALITÄT nichts mit Sexualität zu tun hat, sondern als EINGESCHLECHTLICHKEIT zu verstehen ist.

UNISEXUALITÄT ist ein irreführender Begriffsname, der aus dem Amerikanischen übernommen wurde und nicht mehr ohne weiteres ersetzbar ist. Es muß darauf hingewiesen werden, daß UNISEXUALITÄT nichts mit Sexualität zu tun hat, sondern als EINGESCHLECHTLICHKEIT zu verstehen ist.
Unisexuelle behaupten, mit der Aufgabe der Geschlechterrollen mehr oder weniger automatisch auch andere soziale Rollen aufgeben zu können, die sie als unerträglich empfinden. Solche nicht mehr akzeptierten sozialen Rollen sind offensichtlich an das Merkmal der Geschlechtlichkeit gebunden.
Die Unerträglichkeit resultiert aus der nachdrücklichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit - vermuten die Unisexuellen; sie seien zu weit ausgeprägte Individualitäten, als daß sie sich in die vorgegebene Beschränkung des sozialen Verhaltens durch die Geschlechterbarriere fügen könnten.
Mit dieser vermuteten Relation zwischen individueller Entfaltung und der Fähigkeit zum Überschreiten tradierter Abgrenzungen von sozialem Verhalten beschäftigen wir uns nachfolgend ausführlich.
Funktional gesehen ist Geschlechterdifferenzierung ein Mechanismus sozialer Steuerung. Unisexuelle haben offensichtlich das Bestreben, sich dieser Steuerungsmechanik zu entziehen. Das scheint auch teilweise zu gelingen, soweit sich diese soziale Kontrolle informell äußert, also auf der Ebene der Verhaltenserwartungen, der Normenreproduktionen im sozialen Raum. Der Steuerungsmechanismus 'Geschlechtlichkeit' soll durch Unisexualität in Frage gestellt werden.
Anders verhält es sich mit den Wechslern des Geschlechtsbekenntnisses, den Sozialtransvestiten. Ihre Verhaltensbegründungen gehen davon aus, daß unerträgliche Geschlechtsrollenpflichten nur auf seiten ihres natürlichen Geschlechts herrschen. Deshalb versuchen Männer in den Genuß der Geschlechterrollen von Frauen zu gelangen; für sie bieten die Geschlechterrollen der Frauen Vorteile, die sie sich zu verschaffen suchen, und vice versa. Der Wechsel der Geschlechterrollen gerät mit dem Steuerungsmechanismus selber nicht in Widerspruch.

3.1.2 Funktionale Begründung der Geschlechterdifferenzierung

Das einigermaßen überraschende Resultat von Überlegungen zu diesem Sachverhalt besteht darin, daß Aufgabe der Geschlechterdifferenz und Wechsel der Geschlechterrollen eng miteinander verknüpft sind. Das wird verständlich, wenn man angibt, worin die Bedeutung dieses Steuerungsmechanismus der Geschlechterdifferenzierung liegt. Geschlechterdifferenzierung wird dann zu einem leistungsfähigen Steuerungsmechanismus, wenn in ihr ein fundamentales Prinzip der Natur- und der Gesellschaftsordnung gesehen werden kann. Fundamentales Prinzip der natürlichen Ordnung ist Geschlechterdifferenzierung als Dualismus von männlich/weiblich, hart/weich, oben/ unten, gut/böse, jung/alt, Hügel und Tal, Loch und Füllung; oder als momentane Einheit des Widerspruchs, d.h. als Modell der Versöhnung der entgegengesetzten Bestimmungen im Moment der sexuellen Vereinigung.
Als Prinzip der Gesellschaftsordnung ist Geschlechterdifferenzierung fundamental, wenn unter den Bedingungen des Tausches durch Geschlechterdifferenzierung das Tauschobjekt wertvoller gemacht werden kann. So hat die Ethnologie aufgedeckt, daß die berühmte Inzestschranke auf die Tauschbedingungen zurückzuführen ist, als ein Verfahren, das Tauschobjekt mit Wesensmerkmalen auszustatten, die den Preis des Tauschobjektes steigern. Geschlechterdifferenzierung als sozialer Steuerungsmechanismus in dieser Hinsicht war beispielsweise in höchstem Maße entwickelt, als die ritterlich-feudale Gesellschaft die Frauen zu anbetungswürdigen Heiligen stilisierte, die in dieser Stilisierung dem Zugriff profaner naturwüchsiger Triebäußerungen entzogen wurden; denn solche brutale Äußerung der Naturwüchsigkeit gehörte zum Lebensanspruch einer neuen sozialen Klasse: so glaubte sich das soziale System selbst vor drohenden Zerfallserscheinungen bewahren zu können. In etwa dieser Weise gilt auch heute noch Geschlechterdifferenzierung als sozialer Steuerungsmechanismus. Die Frau ist immer noch ein stilisierter Sozialcharakter, dessen Besonderheiten zugleich Einschränkungen sind; beispielsweise wird die allgemein vorgegebene Schutz- und Hilfebedürftigkeit der Frau als Einschränkung ihrer Verantwortlichkeit erlebt. Fürsorglichkeit ihr gegenüber versteht die Frau als Einschränkung des Selbständigkeitsanspruches. Auf der anderen Seite wird dem Mann Autonomie und Machtanspruch zugestanden mit der selbstverständlichen Annahme, daß er sich stets die Erfüllung seines Anspruchs erkämpfen kann. Geschlechterdifferenzierung gilt auch heute noch als fundamentales Ordnungsprinzip der Natur, insofern die Medizin, die Psychologie, die Verhaltensforschung usw. auf physiologische, psychologische, entwicklungsgeschichtliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen verweisen.

3.1.3 Natürliches Dualismusprinzip und gesellschaftliches Tauschprinzip

Der Zusammenhang von Einschleifen der Geschlechterrollen und Wechsel der Geschlechterrollen liegt darin, daß Geschlechtlichkeit wahlweise aus dem Prinzip fundamentaler Naturordnung wie aus dem Prinzip fundamentaler Gesellschaftsordnung begründet wird.
Diejenigen, welche Geschlechterrollen ganz aufgeben wollen, gehen von der gesellschaftlichen Begründung der Geschlechtlichkeit aus und versuchen, sie auf die Begründung durch Naturdualismus umzustellen, wobei sie das spezielle Modell der Versöhnung adaptieren. Leben dürfte aber unter dieser Voraussetzung eines Dauerkoitus äußerst problematisch sein; zumal das Versöhnungsmodell durch die Erkenntnis beschädigt wurde, daß die bloße Vereinheitlichung der Gegensätze durchaus noch nicht ihre Einheit darstellen muß.
Umgekehrt versuchen diejenigen, die Geschlechterrollen wechseln, aus der Begründung der Sexualität durch das Dualismusprinzip in die Begründung durch das Tauschprinzip überzugehen, da unter Tauschbedingungen Geschlechterpolarität klar kalkulierbare Vorteile gewährt. Begründet man Geschlechtlichkeit aus der Natur der Sache, so kommt jeder ohne Anstrengung in ihren Genuß. Die soziale Begründung der Geschlechterdifferenzierung ist hingegen nur durch Mühe und Anstrengung zu erreichen. Naturgeschlechtlichkeit ist gleichsam bedingungslos zu haben; Sozialgeschlechtlichkeit ist bedingt.

3.2 Das autonome Individuum – Individuierung als historische Errungenschaft

3.2.1 Individuierung und Unterwerfung

Die wesentlichste und entscheidendste Bedingung für Sozialgeschlechtlichkeit ist die Mitgliedschaft in einem sozialen Zusammenschluß. Der Erwerb solcher Mitgliedschaft, die Vergesellschaftung des Einzelnen spielt deswegen eine zentrale Rolle. Volle Entwicklung der Mitgliedschaft im Sozialverband steht so in direkter Beziehung zur Ausbildung sozialer Geschlechtlichkeit. Für unsere gegenwärtige Gesellschaft ist der Erwerb der Vollmitgliedschaft im Sozialverband auf den Begriff der Individuierung zu bringen.
Wie bereits erwähnt, gilt es, den Zusammenhang zwischen Individuierung und sozialer Geschlechtlichkeit zu untersuchen. Für uns bestimmend ist dabei die Entstehung der Gesellschaft als institutioneller Begründung der Beziehungen von Gesellschaftsmitgliedern. Mit anderen Worten: Wir haben auszugehen von jenen Umwandlungsprozessen, die als objektive Veränderungen mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft auszumachen sind. Diese Prozesse erschließen sich nicht unmittelbar, sondern in der historischen Aufbereitung, die sie beispielsweise durch SHAKESPEARE in seinen Dramen erfahren haben.
SHAKESPEARE schildert die Umwandlung der archaischen Familienbetriebe feudaler und absoluter Regentschaft in bürgerlich autoritäre Verwaltung der Macht, und zwar in einem historischen Augenblick, in dem durch die Größe der Sozialverbände die Kontrolle ihrer Mitglieder durch blutsverwandtschaftliche Bindungen an andere nicht mehr möglich war. Wo bis dato aus der verläßlichsten Bindung der Menschen aneinander, wo also bis dato aus den Verwandtschaftsverhältnissen die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung und Erweiterung des Lebens abgeleitet werden konnte, mußten nun Institutionen errichtet werden, die den Zusammenhalt der sozialen Gruppen erzwangen durch In-Dienstnahme der Individuen, durch deren Verpflichtung auf die Zwecke sozialen Handelns. Diese Zwecke waren vorgegeben in der Aufrechterhaltung der sozialen Bindungen und damit in der Aufrechterhaltung der Institutionen.
Mit der Zunahme der sozialen Dichte ging die Partikularisierung einzelner Gesellschaftsmitglieder aufgrund des Erwerbs von wirtschaftlicher Macht einher. Diese Verselbständigungstendenz mußte ebenfalls institutionell aufgefangen werden. Durch institutionelle Ausbildung von Selbstbewußtsein, von Reflexionsfähigkeit und Antizipationskraft unter Voraussetzung wirtschaftlicher Verselbständigung konnte eine neue Begründung von stabilen Sozialbindungen erreicht werden. Diese neue Begründung der sozialen Bindung wurde konstruiert als Vertrag zwischen autonomen Individuen. Die Besetzung bestimmter sozialer Positionen machte aus diesen Individuen Persönlichkeiten, die in der Lage waren, ihrerseits die Leistungen feudaler Herren zu erbringen.
Die Umwandlung wirtschaftlich bedingter Partikularität der Gesellschaftsmitglieder in den Entfaltungsanspruch von autonomen Persönlichkeiten bestimmen zwei wesentliche Faktorenkomplexe: Zum einen die Verselbständigung der sozialen Beziehungsform 'Familie' zum allgemeinen Beziehungsmuster nichtverwandter Angehöriger einer Gesellschaft; also die Überführung des Familienverbandes in den Gesellschaftsverband, wobei die einzelnen Menschen auch weiterhin in erster Linie durch die Familie sozialisiert wurden. Deshalb kollidierte das Vergesellschaftungsziel ‘Ausbildung autonomer Persönlichkeiten’ ständig mit den Sozialisationsbedingungen. Dieser Widerspruch muß skizziert werden als Zusammenhang von Individuierung und Unterwerfung. Der zweite Faktorenkomplex, der die Umwandlung bestimmte, umfaßt die Konstruktion von Gesellschaft unter der Voraussetzung, daß ihre Mitglieder insgesamt für sich die jeweils gleichen Autonomiebestrebungen in Anspruch nahmen.
Vergesellschaftung des Menschen heißt: Ausbildung von Gesellschaftlichkeit durch Konfrontation mit dem Wesen der Gesellschaftlichkeit.

3.2.2 Individuierung als Machtkampf

Man glaubt, mit Gründen vermuten zu können, daß in der Phase ödipaler Sexualität das Individuum in radikaler Weise mit eben dieser seiner prinzipiellen Gesellschaftlichkeit konfrontiert wird. Gesellschaftlichkeit ist nicht hinreichend bestimmt in der Erfahrung von Abhängigkeit, Zuneigung, Fürsorge, Hilflosigkeit, Entzug oder Gewährung von Befriedigungschancen, wie sie dem kleinen Kind schon zugemutet werden, denn Unerreichbarkeit eines Objekts durch seine Schwere oder seinen Umfang oder seine Ferne ist durch Lernen überwindbar.
Auch die Nähe oder Ferne zur Mutter, die für die Selbsterfahrung des Kindes die wichtigste Bezugsgröße darstellt, kann reguliert werden durch kommunikatives Verhalten, welches das Kind im Schreien, Klappern, Locken, Strampeln usw. praktiziert. Gesellschaftlichkeit wird darüberhinaus erst in der Erfahrung individueller Ohnmacht total. Gesellschaftlichkeit umschließt das Aushalten-Können einer Reihe nicht überbrückbarer Distanzen, Unerreichbarkeiten und Unveränderbarkeiten, für die es keine durch noch so große Anstrengung einholbare Begründungen gibt. Gesellschaftlichkeit wird in ihrem vollen Umfang erst in der Vernichtungsdrohung erlebt, die der eigenen Individualität gilt.
In der Phase ödipaler Sexualität ist ein Mensch bereits in der Lage, Ansprüche auf Respektierung seiner Individualität zu stellen. Denn in der Phase ödipaler Sexualität vergleicht sich ein Kind zum erstenmal mit den Bezugspersonen. Der Vergleich zielt auf Gleichstellung des eigenen Anspruchs mit dem Anspruch der Bezugspersonen. In der Phase ödipaler Sexualität überschreitet das Kind die Fähigkeiten zum Selbstgenuß und zur Selbstwahrnehmung in Richtung auf Individualität, d.h. in Richtung auf seine Auffindbarkeit im Zusammenhang mit anderen. Es verlangt die Zuschreibung von Identität durch andere.
Genitale Sexualität ist per se nur in bezug auf andere befriedigbar; ist abhängig von der Anerkennung oder Duldung durch andere.
Die Bedeutung der Phase ödipaler Sexualität liegt darin, daß die unmittelbaren Bezugspersonen des Kindes diesen Anspruch abweisen, wodurch das Kind veranlaßt wird, sich in die Position des anderen zu setzen, indem es diese Position des anderen für sich reklamiert. Übernahme der sozialen Position meint Erwerb der Fähigkeiten, aus denen der Widerspruch gegen die eigene Willensäußerung hervorging. Identitätszuschreibung wird nur erreichbar durch Entfaltung des eigenen Anspruchs in der Nutzung der so erworbenen Macht. So wird das Kind dem brutalen Wesen seiner Gesellschaftlichkeit ausgesetzt mit der Erfahrung, daß soziale Beziehungen, in die der Identitätsanspruch eingeht, Konkurrenzen um Machtpositionen sind. Primär natürlich um die Machtpositionen der Väter. Die Identitätszuschreibung durch andere muß durch Positionserwerb erzwungen werden, was die Unterwerfung anderer unter den eigenen Anspruch beinhaltet. Unter den obwaltenden sozialen Bedingungen ist Durchsetzung der Individualität und weitergehende Ausbildung von Identität nur zu erreichen durch die erzwungene oder zugestandene Unterwerfung anderer.
Es ist sicherlich bisher überschätzt worden, daß die Sozialisation jeden Menschen in unterschiedlichste soziale Gefüge eingliedert, so daß jeder gleichzeitig Machtrollen und Unterwerfungsrollen auszubilden hat. Genauere Beobachtungen zeigen, daß angeeignete Fähigkeit zur Übernahme von Machtrollen sich in jeder sozialen Konfrontation durchsetzt; sie ist nur durch Entgegensetzung größerer Macht einschränkbar, aber nicht widerlegbar.

3.2.3 Soziale Individualität als historische Errungenschaft

Die Skizzierung der Entwicklungsbedingungen der soziaien Formation, wie sie die bürgerliche Gesellschaft darstellt, führt zu analogen Resultaten für das Problem der sozialen Individuierung.
Der gesellschaftliche Zusammenschluß von vielen bei Aufgabe blutsverwandtschaftlicher Beziehungsregulierung und gleichzeitiger Ausbildung des Gesellschaftsverbandes nach dem Muster des Familienverbandes zeigte schon in der frühen Entwicklung der ständischen Gesellschaft unüberwindbare Schwierigkeiten. Die ständische Gesellschaft war die erste institutionelle Fassung einer Gesellschaft als 'Familie der Familien'. Selbst die Außenbeziehungen von Familien wurden als Außenbeziehungen der sozialen Großgruppen nachgebildet, was sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat in der Bereitschaft von Betriebsangehörigen, ‘für unsere Firma durchs Feuer zu gehen’.
Die Struktur gesellschaftlicher Großgruppen als Familienclan oder gar Stamm blieb für die gesamte bürgerliche Gesellschaft verbindlich über allen Wechsel der objektiven Lebensbedingungen hinweg.
Der Kern des Widerspruchs bürgerlicher Konzeption von Gesellschaft ist eben darin zu sehen, daß diese historischen Veränderungen auf gleichbleibende Struktur des sozialen Lebens bezogen werden mußten. Familie wurde zur Gesellschaft, aber die Familienmitglieder wurden keine gesellschaftlichen Subjekte, d.h. die Einzelnen waren nicht fähig, sich aus dem familiären Zusammenhang herauszunehmen, sich ihm gegenüber zu objektivieren.
Die ersten Verwirklichungen solcher Objektivation als Individualität des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft hatten durchgehend den Charakter des Asozialen, des Herausgefallenseins oder Ausgestoßenseins; auch das ist heute noch in der Klassifikation sozialer Rollen deutlich anwesend - etwa bei den Künstlern, Schauspielern, Literaten, Wissenschaftlern, die als erste ihre Sozialbeziehungen vom Muster der Familienmitgliedschaft lösten. Allerdings haben diese Personen erst spät bürgerliche Existenzen geführt. Sie lebten zum großen Teil ursprünglich unter der Autonomiegarantie des Adels und waren deshalb aus der Problemkonstellation ausgenommen.
Feudale Individualität jedoch war immer schon dadurch ausgebildet worden, daß jemand an die Spitze der Gesellschafts- oder Machtpyramide hinaufgeholt wurde. Solche Identität war bloß sozial, nicht aber personal.

3.2.4 Personale Individualität als historische Errungenschaft

Der Beginn der Ausbildung personaler Individualität ist an ganz andere Bedingungen des sozialen Lebens geknüpft gewesen. Sie entstand tatsächlich aus einer Partikularisierung, aus der Vereinzelung von Interessen, von Überlebensinteressen.
Die immer stärker werdende Abhängigkeit der Menschen von Naturbeständen (Zunahme der Bevölkerung, verheerende Seuchen, Naturkatastrophen und die klerikalen Drohungen des nahen Weltunterganges, welche allerdings doch schon beinahe rational abgewiesen wurden, dafür jedoch kollektive Panikbereitschaft schufen) führte zur verstärkten Fürsorge für sich selbst unter notwendiger Ausschaltung anderer. Diese Komponente des Wirtschaftsverhaltens ist natürlich in die Tauschbeziehungen eingegangen: insofern ist bürgerliche Kaufmannsaktivität Spekulation mit der Zukunftsangst, der sich der Kaufmann selbst durch Besitz von 'Lebensmitteln' entziehen kann.
Was zugleich verständlich macht, daß erst in Krisensituationen bürgerliche Wirtschaftsweise sich voll entfalten kann: der 'Krisengewinnler' ist der ausgeprägteste Typ des bürgerlichen Wirtschaftssubjekts.
Kaufmann zu sein war die einzige bürgerliche Daseinsform, in der zugleich die 'Mittel des Lebens' beschafft und über sie im Bedarfsfalle verfügt werden konnte.
Dieses panische Zusammenraffen und Horten knapper Güter ist zum Grundstock bürgerlich/kaufmännischer Aktivität geworden, wobei Individuierung zunächst nichts anderes als wirtschaftliche Autonomiebestrebung hieß.
Max WEBER hat an der 'protestantischen Ethik' nachgewiesen, wie solche Verselbständigung der wirtschaftenden Einzelnen oder Kleingruppen rationalisiert wurde; wie sie nachträglich mit Gründen versehen wurde, die als Glaubensbekenntnisse legitimiert waren.
Erst solche Rationalisierung begründet die Kategorie der Persönlichkeit als die Einheit sozialer Existenz und individueller Aneignung bzw. Repräsentation.
LUTHERs Lehre von der Gleichunmittelbarkeit aller Menschen zu Gott, und zwar der einzelnen Menschen, kennzeichnet diesen Übergang von der Vereinzelung der Individuen zur Ausbildung als Persönlichkeiten, wenn auch LUTHER noch solche Verselbständigung als Kindschaft faßte. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist es niemals gelungen, 'Persönlichkeit' 'ideologisch rein' auszubilden, was für die oben zitierte Grundwidersprüchlichkeit der Sozialstruktur der bürgerlichen Gesellschaft spricht. Erst die Persönlichkeitsbestimmung 'Genie' nimmt die totale Entfaltung des sozialen Partikularismus in der bürgerlichen Gesellschaft auf. Erst der Sozialcharakter Genie verdeutlicht auch den vollständigen Gleichheitsanspruch des Bürgertums gegenüber den Inhabern der politischen Macht, dem Adel. In der Gestalt des Genies konnte der Bürger sich dem feudalen Potentaten vollständig gleichstellen.
In dieser Gleichstellung wurde der Bürger tatsächlich 'geadelt'. Gerechtfertigter Anspruch auf Gleichstellung war aber fürs Bürgertum bereits die Garantie endlicher Überlegenheit, da es selbst den größeren Teil der Gesellschaftsmitglieder stellte.
Das unternehmerische, wissenschaftliche, künstlerische Genie als die entschiedenste Ausprägung der bürgerlichen Persönlichkeit, aber auch die vorher versuchten und teilweise geglückten Ausprägungen 'Meister', 'Ratsherr', 'Handelsherr' sowie die in Anlehnung an feudale Muster entstandenen 'Gentleman', 'Kavalier', 'Senator', 'Politiker', ist auf personale Konfrontation mit Natur und Gesellschaft angewiesen; Konfrontation auch mit sich selbst, wobei im wesentlichen die personenbezogene Aneignung der Sphäre des Objektiven erreicht werden sollte.
KANT hat das extrem eindeutig formuliert, wenn er bürgerliche Aufklärung als Selbstaneignung beschrieb.

3.2.5 Autonomie als Fähigkeit zur Selbstunternehmung

Sich selbst zu haben, über sich selbst bestimmen und verfügen zu können, sich selbst zu leiten, setzt die Kenntnis dieses Selbst voraus: zu wissen, was man sei und wie, also Identität zu haben. Identität ist denn auch das wesentliche Moment der ausgebildeten Individualität des Bürgers - mithin auch das Gefährdetste seiner Existenz, das Moment seiner potentiellen Zerstörung und des Untergangs. Identitätsverlust ist Persönlichkeitsverlust – weit mehr als ein bloßer Gesichtsverlust, der schließlich nur eine Dimension des Lebens in Gesellschaft entzieht.
Für den Bürger regulierte schließlich Identität als wesentlicher Bestand der Persönlichkeit alle Formen sozialen Lebens - sie war der Gegenstand oder das Moment seiner Gesellschaftlichkeit. Gesellschaft war ihm die Äußerungsform seiner Persönlichkeit, weshalb er zu Recht glauben konnte, die Gesellschaft sei sein Unternehmen, die neueste, letzte und folgenreichste Unternehmung, da er so sich selbst unternahm.
Der Höhepunkt jeder Ausbildung zur Lebensfähigkeit bestand für den Bürger in der Fähigkeit zur Selbstunternehmung, nachdem er die Naturgesetze und die Kraft der Götter, die gegenständliche Welt des Raumes und die der geschichtlichen Zeit tätig sich angeeignet hatte. Was darüber hinaus noch möglich sein könnte, hatte er aus sich selbst zu machen: das Humanum, das zivilisierte Subjekt zukünftiger Geschichte. Wo ihm bisher die Gesetze des Handelns aufgezwungen worden waren, wo er bisher selbst nur Objekt des Weltlaufs gewesen war, sollte er nunmehr sich selber von Rechts wegen bestimmen.
Das ist ein Hinweis auf die ansonsten kaum mehr einsehbaren Erörterungen zum Problem der Willensfreiheit, ja der dreifaltigen Freiheit des revolutionären Subjekts: Freiheit von …, Freiheit durch … und Freiheit zu … Dieses Moment der Äußerungsfähigkeit, der Aktionsfähigkeit des Individuums machte die Autonomie der Persönlichkeit aus. Autonomie als Substantialität der Persönlichkeit: die Fähigkeit, sich selbst die Gesetze des Handelns zu geben, sie einzuhalten bzw. zu durchbrechen und deren Konsequenzen gewollt zu haben.

3.2.6 Autonomie als Menschenrecht (KANT)

In der Autonomie ist denn auch jenes institutionell ausgebildete Bindungsglied der vielen bürgerlichen Individuen zu sehen, das noch notwendig nach Aufgabe der bis dato leistungsfähigsten Zusammenhalte, der Familienbeziehungen, gefunden werden mußte. Wenn nämlich das Ziel jeglicher Lebensorganisation in der Ausbildung der Persönlichkeit zu sehen war, Überleben jedoch an Zusammenarbeit mit anderen hing, wurde die Verknüpfung dieser beiden Voraussetzungen zum eigentlichen Problem der bürgerlichen Gesellschaft. Das Konzept der Lösung dieses Problems, das tatsächlich niemals gelöst worden ist, hat KANT entworfen unter Verwendung einer Reihe ihm bedeutsam erscheinender Vorformulierungen. KANTs Vorschlag geht auf die Gleichheit aller autonomen Individuen aus, ja, er verlegt die Bedingungen für Autonomie in das Wesen solcher Autonomie selber. Autonomie ist nur möglich, wo sie als Autonomie aller Mitglieder der Gesellschaft durchzusetzen ist. Auch dafür hat KANT eine konkrete Bestimmung entwickelt, die in vielem neueren soziologischen Theorien nahekommt. KANT meint, daß die bestimmte Gleichheit nur als Gegenseitigkeit ausbildbar ist, als die wechselseitige Vorgabe von Erwartungen, die ein Individuum dem anderen als Mittel des sozialen Lebens zur Verfügung zu stellen hat. Gesellschaft ist die institutionelle Verwaltung der Angebote auf Lebensvoraussetzungen, die ein Individuum den anderen macht.
Dabei hat KANT freilich vorausgesetzt, was nicht voraussetzbar war, daß nämlich alle Mitglieder der Gesellschaft überhaupt schon in der Lage sind, solche Angebote zu machen. Auch er hat sich von dem bürgerlichen Selbstverständnis leiten lassen, daß das prinzipiell möglich sei - und wo es nicht geschehe, da lägen subjekt-gebundene Gründe vor: also Einzelfälle, die auch besonderen Bestimmungen unterlägen. Auch KANT hat nicht gesehen, daß es den Unterschied aufs Ganze macht, ob Gleichheit hergestellt wird, um Differenzierung zu ermöglichen, oder ob Unterschiedenheit und Unvergleichbarkeit gebändigt werden müssen durch die Konstruktion von Gleichheit.
Historisch war nämlich Differenzierung vorgegeben als Privileg der Besitzbürger. Gleichheit sicherte nur das Weiterbestehen solcher Differenzierung ab. Wer sich nicht schon verselbständigt hatte, wurde auch von der Gleichheit nicht eingeholt. Er blieb ununterscheidbar und doch ungleich. Erst die Formierung sozialer Klassen hat einen Schritt darüber hinaus ermöglicht, der wenigstens Gleichheit der Ununterschiedenen, der Nichtindividuierten brachte.
Doch hat KANT auch ohne Bezug auf die geschichtlichen Gegebenheiten der bürgerlichen Gesellschaft (daß sie aus großen Gruppen nichtbürgerlicher Mitglieder bestand) darauf verweisen können, daß Freiheit und Gleichheit allein auch die bürgerliche Gesellschaft nicht ausreichend bestimmen konnten.
Er hat die revolutionäre Forderung nach Brüderlichkeit am extensivsten ausgelegt, was ihm die Sozialrevolutionäre am heftigsten vorwarfen: die transzendentale Einheit des Subjekts, und das heißt: die verfassungsmäßige Konstitution von Gesellschaftlichkeit ist auf den realen Bestand der Welt angewiesen. Gesellschaft gibt es nur als Totalität der menschlichen Existenz auf dieser Erde. Die bürgerliche Gesellschaft kann nur gerechtfertigt werden, wenn sie Weltgesellschaft ist. Solange sie das nicht sein kann, bleibt auch die bestverfaßte aller Gesellschaften, wie es die bürgerliche bisher gewesen war, auf Brüderlichkeit, das heißt auf Vermittlung durch die Idee eines höchsten Zieles, angewiesen. Solange muß auch diese bestverfaßte Gesellschaft nur eine vorübergehende sein, eine, die ihre Bedingungen noch nicht in sich aufgenommen hat.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit heißt: Autonomie und deren Bedingung heißt: Autonomie und notwendigen Verzicht auf sie.

3.2.7 Das Gesetz der Kompossibilität - (LEIBNIZ, MARX und LUHMANN)

Es gibt keine eindeutigere Festlegung dieser Entwicklungsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft auf ihre historische Überwindung hin als diese KANTische. Sie ist erst später von anderen Voraussetzungen her mit scheinbar ähnlichem Resultat wieder erarbeitet worden, wofür leider nicht auf KANTische, sondern auf LEIBNIZsche Vorstellungen zurückgegriffen wurde. Wenn MARX in jenem Widerspruch, den die bürgerliche Gesellschaft so eindeutig entfaltet hat, das Bewegungsgesetz der gesamten Geschichte erkannt zu haben glaubte, ging er auf Positionen zurück, die LEIBNIZ innehatte.
LEIBNIZ hatte eine Konstruktion der Gesellschaft aus der monadischen Differenzierung, aus der Totalität der Vereinzelten/Individuierten abgeleitet, und zwar wurde so die bestehende Gesellschaft zu einer jeweiligen Konsequenz und Fortführung der schon gewesenen Welt. LEIBNIZ ist dabei die erste Entwicklung einer Naturdialektik gelungen - was in heutigen Terms dem Entwurf eines Strukturgesetzes gleichkommt. LEIBNIZ' Fassung der Naturdialektik als Strukturgesetz ist am kürzesten in seiner zentralen Kategorie der Kompossibilität zu fassen, das ist die Verträglichkeit bzw. Nichtverträglichkeit des je Einzelnen mit anderen. Was sich nicht verträgt, schließt sich damit aus einem möglichen Zustand der Welt aus.
Das bedeutet, daß der gegebene Weltzustand immer schon als Resultat des Wirkens jenes Widerspruchs anzusehen ist, den die KANTische Theorie erst als besonderen der bürgerlischen Gesellschaft erkannte. Nach LEIBNIZ gilt das Gesetz der Kompossibilität seit allem Anfang an: denn erst durch dieses Gesetz hat sich der jetzige Weltzustand aus einer Fülle möglicher anderer herausgebildet. Kompossibilität ist das Selektionsmuster der Möglichkeiten, die dadurch gelöscht werden.
Was also die Welt ist, ist sie mit Notwendigkeit, aufgrund des Wirkens des Gesetzes der Kompossibilität. Materialistische Theorie hat daraus die Entwicklungstendenz des Weltablaufs ableiten wollen.

3.2.8 Das Prinzip der Affirmation - HEGEL und die Kybernetik

Die Tiefenpsychologie formulierte LEIBNIZ' strukturalen Ansatz zur Verbindlichkeit des Triebschicksals um. LEIBNIZ wie MARX wie etwa LUHMANN (und das ist eine mehr als befremdliche Zusammenstellung) sind mit ihren Vorstellungen zur Selektion der Möglichkeiten an Grundeinsichten vorbeigegangen, die heute von der Kybernetik vorgetragen werden, die aber von der transzendentalen Dialektik bereits ausgemacht wurden (und das ist ebenfalls eine mehr als befremdliche Zusammennennung): Kompossibilität oder tätiger Widerspruch können sich gar nicht mehr frei auswirken, wenn eine bestimmte Reihe von Wirkungsfolgen einmal erreicht ist.
Wenn sich eine Reihe von Operationen rückkoppelt, ist das Prinzip der Rückkopplung nicht mehr anwendbar. Dann steht das System still, gleichsam eine total verfahrene Situation, die sich nicht mehr auf die gleiche Weise entwirren läßt, wie sie entstanden ist. Das hat zur Formulierung der Theorie vom qualitativen Sprung geführt, die von den Existentialisten, den Katastrophikern des Denkens zur Auffassung pervertiert wurde, die Welt befinde sich permanent im Aus.
Die transzendentale Dialektik wie die Kybernetik haben andere Konsequenzen aus der Stillstellung durch freies Wirken der Kompossibilität oder des Widerspruchs gezogen: sie haben den Widerspruch inhaltlich gefaßt als das Problem der menschlichen Erkenntnis beispielsweise darin, daß der infinitive Regreß und Progreß durch Affirmation aufgehoben werden müssen. Dadurch kann verhindert werden, daß die bestehende Welt eine unvergleichlich größere Bedeutung erhält als die bloßen Möglichkeiten der Veränderung. Die Welt, das System menschlicher Gesellschaften in jeweils veränderten Bedingungen, braucht nicht auf die Einhaltung ihrer Entstehungsgesetze vereidigt zu werden. Eine andere Zukunft bleibt erwartbar.

3.2.9 Bauer, Bürger, Edelmann - die Zukunft als Handlungsentwurf

Aus der Knappheit der Güter und dem einzelnen Interesse, für seine Zukunft vorzusorgen, bildete sich die Lebenshaltung heraus, die 'wirtschaften' heißt. Bäuerliches Wirtschaften hatte seit eh erfolgreich den Kreislauf von Beschaffen, Verfügen und Einsetzen geschlossen, solange nicht feudale Knechtschaft diesen Kreislauf immer wieder zerstörte. Dem Bauern war immer schon möglich, sich selbst zu versorgen und zugleich die Voraussetzungen für zukünftige Autonomie zu schaffen. Bauern haben soziale Reproduktion analog dem Naturkreislauf vom Samen, der zum Samen wird, ausgebildet.
In Städten lebende Gesellschaften, Leben in einer bestimmten sozialen Dichte, konnte in dieser bloßen Aufrechterhaltung der Wiederholungsmöglichkeiten nicht aufgehen, da es eben vielen nicht möglich war, die prinzipielle Wiederholbarkeit ihres augenblicklichen Lebens zu sichern. Die Unterscheidung derer, die die prinzipielle Wiederholbarkeit ihres Lebens sichern konnten, von jenen, denen das nicht gelang, wurde zu einem Bestandteil des Kreislaufs, der diesen Kreislauf langsam aufsprengte und die Bewegung ausrichtete, so daß sie niemals in sich selbst zurückkehren konnte.
Die Aufsprengung des Naturkreislaufs zu einem ausgerichteten sozialen Geschehen verdankt sich jenem Unterscheidungsprinzip, das nach LEIBNIZ ein Unverträglichkeitsausschluß und nach MARX ein Verträglichkeitsausschluß ist.
Beide Prinzipien sind nicht ausreichend, was auf der Ebene natürlicher Evolution bereits von DARWIN ausgemacht war: erstens gibt es qualitative Sprünge, die Mutationen - was bedeutet, daß die Evolution sich nicht der Durchsetzung eines bestimmenden Gesetzes verdankt, es sei denn, man könnte das Gesetz der Gesetzlosigkeit formulieren; zweitens gibt es Anpassung, was bedeutet, daß Kompossibilität des Unverträglichen erreicht werden kann und daß der Widerspruch stillgestellt werden kann.
Für das städtische Wirtschaftssubjekt ist das Gesetz des Unverträglichkeitsausschlusses mit dem Gesetz des Verträglichkeitsausschlusses als permanenter Kampf um eine befriedete Zukunft ausgebildet worden. Wo es dem bäuerlichen Selbstversorger um die Wiederholbarkeit des Gegebenen ging, mußte es dem in seiner unmittelbaren Existenz nicht gesicherten Stadtbewohner um einen zukünftig wenigstens erreichbaren Zustand gehen: die Angst um die Zukunft konnte auch dadurch eingeschränkt werden, daß man die Zukunft festlegte was eben nicht so rein ideologisch war, wie man das später verstehen wollte. Denn inzwischen ist über das Wesen der sich selbst erfüllenden Prophetien einiges ausgemacht worden, was die Objektivität jenes Vorgehens belegt.
Der Kampf der Wirtschaftssubjekte kennt eine Besonderheit. Alle Beteiligten hatten das gleiche Ziel, nämlich befriedete Zukunft. Sie hatten nicht die gleiche Ausgangslage. Das unterscheidet den Kampf feudaler Potentaten von dem bürgerlichen Existenzkampf. Die Ritter waren nur Rivalen, die die Bedingungen des Kampfes nicht in Frage zu stellen brauchten, weil sie alle diese Bedingungen erfüllten. Die Bürger wurden zu Konkurrenten, deren Kampf beständig durch Infragestellung der Bedingungen gefährdet war.
Die tyrannische Strenge der Standesregeln bezeugt, wie schwer es gewesen sein muß, überhaupt Bedingungen durchzusetzen.
Mit der Durchsetzung von Bedingungen für den bürgerlichen Existenzkampf wurden jedoch immer weitgehender die ungleichen Startbedingungen zementiert, die für städtische Gewerbetreibende z.B. als Begabungs- und Fähigkeitsdifferenz typisch sind. Deshalb hat das verhältnismäßig kurze Wirken des Konkurrenzprinzips dazu geführt, daß einige Bürger schon sehr bald das allgemeine Ziel der Zukunftssicherung erreicht hatten.
Sie mußten Konsolidierung betreiben und nahmen darin Verkehrsformen und Vorgehensweisen der ländlichen Autonomen an, deren ganze Lebenstätigkeit aus der Aufrechterhaltung des gegebenen Zustands bestehen mußte, aus der hinkünftigen Ermöglichung des Gegebenen.
Diese Potentialität des Zukünftigen, die in der Gegenwart gebunden bleibt, sichtbar, konkret, gegenständlich und darin unleugbar durch andere - diese erfolgreiche Feststellung des Kommenden in dem gegebenen Zustand ist der Besitz. Für den Bauern hat der Boden selber die Potentialität der Zukunft dargestellt. Er war deshalb der entscheidende Besitz.
Bürgerlicher Besitz konnte nur in der Fähigkeit bestehen, die Zukunft nach dem gleichen Gesichtspunkt zu gestalten wie die Gegenwart; unter der Voraussetzung, daß selbstverständlich sich Umstände und Zeitläufte ändern würden (wie das durch sich ausbreitende Kenntnisse von Standesgeschichte und durch Traditionsbildungen der Kommunen zur Anspruchslegitimierung erfahrbar geworden war).
Bürgerlicher Besitz bestand in der Sicherung der Wiederholbarkeit jener Handlungen, die zu dem wünschenswerten Jetztzustand geführt hatten. Diese aufgespeicherte Handlungsfähigkeit, diese jederzeit aktivierbare Kraft der Tätigkeit und Arbeit war und ist das Geld.
So muß verstanden werden, daß der Konkurrenzkampf der Bürger tatsächlich nur um Erwerb von Besitz geführt wurde - nicht aber um Ruhm oder Erkenntnis oder Schönheit oder Lust, welches samt und sonders noch die Handlungsziele ritterlichen Rivalenkampfes gewesen sind.
Wobei nochmals daran erinnert sei, daß für den bürgerlichen Gewerbe- und Handeltreibenden Erwerb des Besitzes und Verfügung des Besitzes zusammenfallen. Das erst macht die entscheidende Überlegenheit kapitalistischer Wirtschaftsformen aus. Das Ansammeln möglicher Zukunft durch und für das bürgerliche Wirtschaftssubjekt ist selber schon Zweck und nicht nur Mittel. Dadurch entfällt der handlungsverzögernde und hemmende Aufbau einer Differenz zwischen kurzfristigen und langfristigen Handlungsmotivationen: Frustration wird umgangen, Orientierungslosigkeit und Zielkonflikte vermieden.
Die über Jahrhunderte unzerstörbare Handlungsfähigkeit des Bürgers, die Konsequenz und Beharrlichkeit seines Vorgehens, die Fixierung des beschränkten Handlungshorizontes über alle Störungen und Hinderungen hinweg ist auf jenen Charakter der Wirtschaftsformen zurückführbar.

3.3 Resümée

3.3.1 Autonomie und Konkurrenz – die Entstehung des bürgerlichen Subjekts

Die im Familienverband vorgegebene Einheit von Daseinsfürsorge des Einzelnen und der Gruppe, in der er lebt, brach auseinander, als die Zahl der Mitglieder solcher Sozialverbände rapide zunahm, sich immer mehr solcher Verbände etablierten, kurz als die soziale Dichte zunahm. Das Beziehungsgefüge der Menschen wurde dadurch zertrennt in zwei wesentliche Komponenten: erstens Partikularität wirtschaftlichen Handelns, zweitens Institutionalisierung abstrakter, nicht auf Verwandtschaftlichkeit gegründeter Bestimmung sozialer Existenz.
Die latente Problematik solcher bürgerlichen Existenz lag darin, daß Autonomie nicht tatsächlich ausbildbar wurde. Es blieb bei der bloßen Verselbständigung von Individuen; andererseits konnte das Prinzip der Konkurrenz, des Widerspruchs sich nicht durchsetzen - die soziale Kennzeichnung der Bürger ging doch mit Ausbildung des Besitzes als Form der möglichen Zukunft zurück auf feudale Muster der Beziehung von Mächtigen und Schwachen; auf die von Mitgliedern des Verbandes, die eine Zukunft und solchen, die keine Zukunft besaßen. Letztere wurden in kürzester Zeit die überwältigende Mehrheit. Hier treffen sich die durch die Sozialisationsbedingungen hervorgebrachte Abhängigkeit von Identität und Unterwerfung und die objektive Entwicklungstendenz der bürgerlichen Gesellschaft als historische Unmöglichkeit zur Verwirklichung des Gleichheitsanspruchs. In dieser Fatalität befinden wir uns gegenwärtig.
Die Beschwörung von Entwicklungstendenzen als Übergang vom histoire zum posthistoire, als Übergang von der bürgerlichen zur post-industriellen Gesellschaft vermag daran nichts zu ändern. Deshalb ist es um so dringlicher, sich mit den Versuchen der Problemlösung zu beschäftigen, die gegenwärtig bei voller Erkenntnis der gegebenen Bedingungen unternommen werden.

3.3.2 Dreimal Unisex

Nimmt man die zitierten Erscheinungen der Geschlechtsentdifferenzierung auch nur als Beispiel für solche Problemlösungsversuche, so lassen sich aus ihnen doch generelle Tendenzen ablesen.
Das auffallendste Konzept wird von den Neuformulierern sowohl der bürgerlichen wie auch der marxistischen Positionen vertreten. Seine Ausprägung findet es als Institutionenlehre dergestalt, daß gesagt wird, Gesellschaft habe einen höchsten Zweck für alle ihre Mitglieder verbindlich zu machen. Alles, was im jeweiligen Augenblick realiter ablaufe, sei nur im Hinblick auf diesen verbindlichen höchsten Zweck zu beurteilen, wobei gleichgültig ist, ob sich dieser Zweck als Setzung oder als immanente Notwendigkeit darstellt. Die objektive Entwicklung der Gesellschaft, die in Geschichte aufbewahrt wird, würde demnach nur der Versuch sein, die Gesellschaftsmitglieder immer nachdrücklicher auf die Erreichung dieses Zwecks auszurichten und einen immer größeren und umfangreicheren Aspekt ihres sozialen und personalen Daseins durch den Zweck bestimmen zu lassen; wobei verbindlich vorausgesetzt wird, daß dieser Zweck selber nicht mit dem sozialen oder personalen Dasein der Einzelnen identisch wird. Dieser Zweck kann nicht in der Konstruktion von Existenzformen der Menschen gesehen werden.
Die Optimalisierung der Zweckausrichtung hängt ab von dem Ausbau der sozialen Institutionen.
Innerhalb unseres zitierten Beispielsbereiches entspricht dem die Notwendigkeit zur Aufgabe der Geschlechterdifferenz, um auch Frauen für die Erreichung des angestrebten Zieles einsetzen zu können. Es erhöht sich die potentielle Kraft zur Erreichung des Zwecks, wenn jedes Gesellschaftsmitglied einsetzbar ist.
Die vorgeführte Entdifferenzierung der Geschlechter ist in diesem Fall durchaus keine Lüge des Systems und keine ideologische Verklammerung des Unvereinbaren. Das gilt sowohl für maoistische wie für westliche Unisexualität. Es sei nur noch einmal darauf hingewiesen, daß es bereits im Westen in den zwanziger und dreißiger Jahren unisexuelle Tendenzen gegeben hat, für die - im Gegensatz zu heute - die Angleichung der Geschlechter an den vom Mann vorgegebenen Erscheinungstyp galt. Bubikopf und Krawatte, Hose und Hut, wie sie in den zwanziger Jahren als auffallendste modische Ausrichtung des fraulichen Erscheinungsbildes auftraten, sind in den dreißiger Jahren bereits nahtlos in ihre soziale Funktion überführt worden, wenn auch die Flakhelferuniform und das Kampfhabit weiblicher Militärangehöriger doch eine gewisse Einschränkung der Ausgangsform darstellen.
Immerhin war die unisexuelle Tendenz auch damals schon funktionell begründet. Auch damals schon wirkte sie in einem bestimmten Maße zweckorientiert, indem sie eingeschliffene Rollen der Frau radikal veränderte und die über Jahrhunderte bestehenden Prägungen des Sozialcharakters Frau in kürzester Zeit zerbrechen konnte.
Gesellschaftsmitglieder, die im Augenblick bei uns Ausbildung von Unisexualität betreiben, sind mit größter Wahrscheinlichkeit Menschen, deren gesellschaftspolitische Vorstellungen auf die Durchsetzung eines allgemein verbindlichen Zwecks ausgerichtet sind.
Daß unsere Unisexuellen in überwiegender Zahl Jugendliche und junge Menschen sind, darf nicht ohne weiteres als Unverbindlichkeitshinweis abgewertet werden. In diesem Sinn wurde bereits einmal behauptet, daß nur Jugendliche und junge Menschen sich unisexuell präparieren könnten, da nur die Physiologie ihrer Körper das zulasse. Wer je in einem FKK-Gelände ältere Männer und Frauen sah, dürfte überzeugt sein, daß es viel leichter wäre, 60jährige Männer und Frauen in ihrem Erscheinungsbild gleichzumachen.
Eine zweite Erscheinungsform von Unisexualität tritt als Asexualität innerhalb unseres skizzierten Problemlösungsversuches auf. Für sie gibt es ebenfalls historische Analogien, etwa die religiösen Zusammenschlüsse von Mönchen und Nonnen, von weltlichen und geistlichen Orden. Auch für sie war der durch Kleidung und Verhalten ausgebildete Habitus mehr oder weniger einheitlich. Die zwischenmenschlichen Beziehungen blieben weitestgehend von der Geschlechterpolarität frei; sie wurden umgestellt auf Bruder/Schwester-Beziehungen. Unisexualität als Asexualität wird in der gegenwärtigen Phase der Freigabe der Sexualität für die Vermarktung in einem hohen Maße attraktiv, auch wenn bisher keine bedeutenden sozialen Gruppen auszumachen sind, die sich aus der Bestimmtheit durch Geschlechterbeziehung auf die ageschlechtliche Bruderbeziehung umgestellt hätten.
Erinnert sei aber an eine große Zahl radikaler politischer Äußerungen, die sich ausdrücklich auf Ageschlechtlichkeit als eine Voraussetzung für selbstaufopfernde, altruistische Haltung beziehen. Die seltsamste dieser Begründungen besteht darin, daß Ageschlechtlichkeit handlungsmotivierend werden kann, wenn ohne die geringste Einschränkung nach dem Muster der Sublimierung verfahren wird.
In einer dritten Gestalt tritt Unisexualität als Gemeingeschlechtlichkeit auf. Gemeint sind die Männerbünde und matriarchal organisierten Gesellschaften vom Typ der Amazonen.
Unisexualität als Gemeingeschlechtlichkeit zielt auf seit mythischen Zeiten tradierte Vorstellungen, in einer Person die Einheit der polaren Geschlechter zu erreichen, wobei der After des Mannes das an ihm auffindbare primäre Geschlechtsmerkmal der Frau darstellt, und die große Mutter als permanente Weltschöpferin nach dem Prinzip der eingeschlechtlichen Vermehrung wirkt. Es ist keineswegs zufällig, daß die Armeen als Männerbünde stets in erheblichem Maße Homosexualität produzierten. Die Isolation und das Auf-sich-selbst-angewiesen-Sein des Soldaten erzwingt geradezu Vorstellungen der geschlechtlichen Autonomie. Der in Todesgefahr und beständig in außerordentlichen Situationen agierende Soldat oder mythische Held ist versucht, sich tatsächlich unabhängig von notwendigen Bindungen an andere zu machen, die ihm gleichsam stets vergegenwärtigen, unvollständig zu sein und damit sich nur als Mittel zum Zweck begreifen zu müssen. Nicht unerheblich ist, daß die für unsere Kultur entscheidenden Schöpfungsmythen von einem Modell solcher Gemeingeschlechtlichkeit des Menschen als der noch ungeteilten Kraft des Lebensprinzips ausgehen.
Diese wenigen Andeutungen dürften insoweit argumentative Kraft haben, als das bürgerliche Prinzip der Entfaltung persönlicher Autonomie sowohl individualpsychologisch wie gesellschaftsgeschichtlich auf Interdependenz von Unterwerfung und Macht angewiesen ist, ohne sie indes tatsächlich als allgemeines Prinzip unter dem Gesichtspunkt der Verfügbarkeit durch alle gewähren zu können.

3.3.3 Objektwelt als Lebenswelt

Wollte man die zitierten Tendenzen zur Unisexualität werten als objektive Prozesse eines Gesellschaftsumbaus, dann wäre nicht zu bestreiten, daß ihnen tatsächlich Modellcharakter zukommt.
Individualpsychologisch wäre die Phase ödipaler Sexualität geringer einzuschätzen, als das bisher für die Entwicklung der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft mit Grund angenommen werden muß. Es wären dann solche Entwicklungsformen hervorzuheben, die Vergesellschaftung nicht mehr unter dem Gesichtspunkt verständlich machen, daß die Sozialisierten lernen, die Positionen der Sozialisierenden einzunehmen. Das hieße, daß Vergesellschaftung nicht mehr angewiesen wäre auf die Fähigkeit zum Machterwerb durch das einzelne Individuum. An die Stelle der Positionsübernahme tritt die Aneignung des allgemeinen gesellschaftlichen Handlungszwecks. Sie kann auf die Ebene von Weltaneignung beschränkt bleiben, die durch Objektbeziehungen leistbar ist. In der Tat scheint in der vaterlosen Gesellschaft bereits die Regulierung von Sozialbeziehungen über die Objektwelt sich anzudeuten, was das kritische Moment einschließt, daß soziale Beziehungen nur noch auf der Ebene von Objektbeziehungen ausgebildet werden. Zustände der objektiven Welt treten an die Stelle von Bezugspersonen. Das ist nur dann möglich, wenn die Objektivität der Welt nicht mehr in Frage gestellt ist durch Knappheit und Katastrophen und durch herrschaftsbedingten Widerruf.
Die Konstituierung der objektiven Welt war für das Bürgertum bereits Zweck, weil sie auf diese Weise Zukunft der einzelnen Persönlichkeiten sicherte. Innerhalb der hier zitierten Tendenzen ist das Produzieren der Objektivität nur Mittel. Die Zukunft der Gesellschaftsmitglieder ist aus dem gegebenen Lebenszusammenhang herausgenommen und als das Andere, die absolut neue Qualität gekennzeichnet.
Bürgerliche Zukunft ist nicht mehr erreichbar und braucht nicht mehr erreicht zu werden.
Die Wertung dieser gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungstendenz wird darauf verweisen müssen, daß sie sich in auffälliger Weise jenen Zuständen annähert, die für frühe historische Gesellschaften vermutbar sind.
Doch macht es einen gravierenden Unterschied, daß unsere Gesellschaft die alles verändernde Phase bürgerlicher Weltschöpfung durchlaufen hat. So ist das Gleiche nicht mehr das Gleiche - darf es nicht sein.

siehe auch: