Während unserer Exerzitien in der Klasse 213 wollte ich mit Lesungen, Projektionen, Schreibtafeldemonstrationen und chorischen Wiederholungen bei den Studierenden nachhaltige Unterweisung erreichen. Zentrale Bedeutungsfelder bildeten die Linien des Lebens, der Faden der Parzen, die Spur in der Wüste, das von Stacheldraht umzäunte Lager, die Windwellenmuster am Strand, die Ackerfurchen, die Notenschriften, die Zebrastreifen, die Sträflingskleiderstreifen, die Linienkombinationen als kinästhetische Gestalten, auf den Strich gehen, eine Verbindung schaffen mit Verkehrslinien, Vermessungslinien wie die um den Globus verlaufenden Längen- und Breitengrade. Ich las entweder entsprechende Passagen aus dem „Handbuch des Aberglaubens“ vor, das ich aus der Staatsbibliothek am Dammtor neben dem Gebäude der alten Universität entliehen hatte, oder aus dem Alten Testament, aus der Apokalypse des Johannes oder aus den Schriften der Herren Noack, Paetzold und Trunz, deren Vortragskunst im Hörsaal mir noch im Kopfe nachklang.
[...]
Die große Hamburger Linie von 1959 war die international erste und größte Verwandlung einer künstlerischen Gestaltform – Hundertwassers Spiraloide – in ein von den Rezipienten geschaffenes Kunstwerk. [...]
Das Exerzitium der Großen Linie sollte den Studierenden in der unbedrängten Gelassenheit einer Vorweihnachtswoche die Geschichte des Ornaments und dessen sprachliche, metaphorische, poetische Parallelen nahebringen. Durch die Dominanz der Künstler in allen Gestaltungsberufen war die Beschäftigung mit der kulturell prägenden Kraft des Ornamentierens in Misskredit geraten. Mit dem Kunstgewerbe wollte niemand etwas zu tun haben, obwohl ja nicht die Kunstakademien, sondern die Kunstgewerbeschulen, das heißt die angewandten Künste und Wissenschaften, fast alle Entwicklungen in der Industriegesellschaft vorangetrieben hatten. Die Hamburger Kunsthochschule war bis in die Nachkriegszeit eben eine Kunstgewerbeschule gewesen.
Wir nahmen uns vor, die Linie unter Beteiligung aller jeweils Anwesenden kontinuierlich, also ohne jedes Absetzen beim Farbauftrag und ohne jede Unterbrechung zu ziehen. Das hieß, dass jeweils zwei Aktionisten zusammenarbeiten sollten. Zwei weitere standen für die Ablösung im Fall des Falles bereit. Ein Team bestand also aus vier Akteuren, die vier Stunden durchzuhalten hatten wie eine Wache an Bord eines Schiffes. In dem Raum gab es Zonen, in denen die Freiwachen schlafen konnten. Von Zeit zu Zeit legte der Programmatiker Brock neue Platten auf, las aus den vorher präparierten Texten vor, hielt kleine Vorlesungen oder bediente den Kontakt nach außen – zu Poppe und Frau Geesche, die stets warme Getränke (Tee, Kaffee, Brühe) und belegte Brote, auch mit ausdrücklicher Hilfe des Nachtportiers der Kunsthochschule, anboten. Der Hundertwasser-Förderer Siegfried Poppe hatte auch die Aufsichtshilfskraft gestellt und honoriert, da normalerweise die Hochschule nachts nicht betreten werden durfte.
Alles verlief nach Plan, ja weit darüber hinaus. Junge Leute beteiligten sich, die wir zuvor nicht gesehen hatten. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war durch etwas boulevardeske Berichte in den Zeitungen geweckt worden. Wir legten großen Wert auf die Erinnerung an das sprichwörtliche Motiv: „Während die Bürger schlafen, brennt im Kreml, in der Reichskanzlei, im Vatikan noch Licht, das die unermüdliche Fürsorge der Führer anzeigt.“ Gerade durch die Aufmerksamkeit der Hamburger Zeitungen und ihrer Leser fürchtete Direktor von Oppen, zumal er nicht vor Ort weilte, die Skandalisierung seiner Anstalt und verlangte deshalb, die Aktion nach zwei Tagen und zwei Nächten abzubrechen, damit die Hausordnung seines Instituts wieder durchgesetzt werde. So geschah es.
In der von Bazon verfassten Programmankündigung (Din A1 mit angehängtem Textleporello von gut einem Meter Länge) war die Fortführung der Linienziehung außerhalb der Hochschule vorgesehen: durch die Grünanlagen, Straßen und über die Alster hinweg ... Diesen Teil der Aktion galt es jetzt der Fantasie der Bürger zu überlassen: die Stadt als Kollektivkörper, durchzogen von einer täglich anwachsenden Zahl roter Äderchen, den Bewegungsspuren der Bewohner, dem Notat ihrer Lebensläufe: ein Beziehungsdiagramm in nicht mehr durchschaubarer Größe.
Wir zogen Bilanz bei Geesches Spätnachmittagskaffee. Hundertwasser war gezeigt worden, dass die innere Logik des ornamentalen Gestaltens auf Totalität abzielte – vom bearbeiteten Blatt über den Arbeitstisch hinaus den Arbeitsraum, die Siedlung usw. erfassend. Das war das Gegenmodell zur Vereinheitlichung durch Stil. Nicht die einzelnen Objekte wurden dem einheitlichen Ausdruckswillen unterworfen, sondern sie wurden in ihrer Verschiedenheit zu Trägern einer Kontinuitätsbehauptung, die durch Ornamentieren im endlosen Rapport zustande kommt. Hundertwasser sah seine generelle Einstellung bestätigt, dass gestalterische Arbeit nicht von alltäglichen Lebensvollzügen abgetrennt werden sollte. Dafür stand das Schlagwort der „Einheit von Kunst und Leben“. Lehrer sollten also versuchen, jede noch so banale Geste oder Aktivität mit dem betonten Ausdruck von Sinnhaftigkeit auszufüllen. Das entspricht ganz und gar der Aufforderung von Novalis, das Leben zu romantisieren.
Bazon war höchst zufrieden, seine angestrebte Form des beispielhaften Lehrens (action teaching) vorgeführt zu haben. Er sah sich als „Künstler ohne Werk“ bzw. als „Künstler des Nichtwerks“, wie der Ankündigungstext besonders hervorhebt. 1959 hatte sich von Paris her die Konzeption des offenen Kunstwerkes durch die Texte Roland Barthes’ herumgesprochen. Das war eine der Konsequenzen, die aus der teuflischen Widerlegung des Werkanspruchs im Gespräch von Adrian Leverkühn mit den Teufeln des Scharfsinns folgten. Wenn das pathetische Werk in Konkurrenz zur göttlichen Schöpfung dem Künstler in gottloser Zeit nicht mehr gelingen konnte, dann blieb eben das Nichtwerk! Die Große Linie war für Brock ein beispielhaftes Nichtwerk.“
(Aus: Bazon Brock: Er schrieb gerade auch auf krummen Linien. Ein Reenactment der Hamburger Linie (1959). In: Hundertwasser – Schiele: Imagine Tomorrow, hrsg. von Hans-Peter Wipplinger. Köln 2020, S. 60 ff.)