Buch BESUCHERSCHULE d 7

Die Hässlichkeit des Schönen - Spaziergänge Tempelgänge Paradegänge

Besucherschule zur d7, 1982
Besucherschule zur d7, 1982

Fotos: Lothar Koch. Verantw.: Walter Spötter
Besucherschule zur Documenta 7: Die Hässlichkeit des Schönen

  • Spaziergänge durch die Ausstellung – Im Gehen sehen
  • Tempelgänge in der Documenta – Im Sehen verstehen
  • Paradegänge zur d 7 – Im Verstehen weggehen

Erschienen
1981

Autor
Brock, Bazon

Verlag
D+V Paul Dierichs GmbH & Co KG

Erscheinungsort
Kassel, Deutschland

ISBN
3-920453-03-6

Umfang
133 S. : zahlr. Ill. ; 28 cm

Seite 50 im Original

10 Rückriem

An vier Orten der Ausstellung plaziert, muß sich Rückriem zweimal als Bändiger der hohlen Gesten einsetzen lassen, mit denen Katharina Sieverding ihre Monumentalfarbfotos an die Wand klatscht. Sollte das witzig sein, vielsagend, je einen geballten Rückriemblock unüberwindbar fest vor die Sieverdingschen Großphrasen zu setzen? Wer sich aufbläst, kann leicht platzen; wer sich allzu kostbar macht, wird dabei arm. Freundschaft ist etwas Schönes, wenn sie auch Schwächen mit umfaßt. Die Freundschaft von Rudi Fuchs zu Katharina Sieverding hätte sich, wenn sie denn besteht, nur darin zeigen können, daß Freund Rudi der Freundin Katharina die Teilnahme an der d 7 mit diesen Do-it-yourself-Übungen ausgeredet hätte. Der Laie staunt und der Fachmann wundert sich, wo denn hier und an vielen anderen Ausstellungsstücken die uneinschränkbaren Qualitätskriterien geblieben sind, die Rudi Fuchs anderen Ausstellungsmachern in guter Absicht vorhielt. Das beschworene Geheimnis der Kunst entfaltet sich hier in seinem wahren Anspruch: "Du solltest mich nicht nach meinen Gründen fragen, weil ich mich schäme, Dir Banalitäten auftischen zu müssen." Aber Scham ist die einzige menschliche Regung, die man in jedem Fall vollständig akzeptieren kann.
Noch unmittelbar vor Eröffnung des Fridericianums konnte man Rückriem und seine Helfer beobachten, wie sie die beiden keilförmigen Rohblöcke um 5 cm verschoben; jene keilförmigen Rohblöcke, die, mit je einer geschnittenen Standfuge in zwei Teile gespalten, wie aztekische Torpfeiler die optische Achse seitlich fassen, welche durch den linken Flügel des Erdgeschosses vom Byarsschen Goldturm bis zum Merz-Spiralfeld verläuft. Der Hinweis auf den arbeitenden Rückriem soll nicht anekdotisch gemeint sein, vielmehr daran erinnern, daß Bildhauer die ausgeprägteste Beziehung zu ihrem Material haben; sogar die bloße körperliche Anstrengung wird bei ihnen zu einem Akt der Wahrnehmung. Aktionslust und die ihr folgenden Erschöpfungen stimulieren die Wahrnehmung bis zur Hellsicht (die gleiche Erfahrung haben wir sicher alle schon in Ausnahmesituationen des Alltags erlebt).
Wer einen guten Bildhauer arbeiten sieht, hat das Gefühl, daß nicht der Bildhauer den Stein, sondern der Stein den Bildhauer bearbeitet. Seit Michelangelo berichten die Bildhauer, daß nicht sie dem Stein Gestaltungen aufzwingen, sondern daß der intensive Umgang mit dem Stein ihre Vorstellungen davon prägt, was in dem Stein steckt und bloß noch enthüllt werden will.
Eine Ahnung von dieser Beziehung vermitteln uns sogar noch die kümmerlichen Arbeiten Pistolettos auf dieser documenta, die in Gips und Kunststoffmachee die Faust andeuten, die aus dem Stein hervor will. Was für ein schamloses Getue, wenn man sich an die vollendet unvollendeten Sklaven Michelangelos erinnert!
Rückriem ist ein kraftvoller Bildhauer und auf jeden Fall darin ein guter Künstler, daß er eine eigenständige Vermittlung dieses Problems demonstriert. Sein Konzept bleibt dem Stein nicht äußerlich: Zwar schlägt er den Stein frei und gliedert ihn auch; da er aber spürt, wie unangemessen und hochmütig es wäre, dem Stein einen Formgedanken so vollständig aufzupressen, wie die Model den Teig preßt, fügt er die zersägten Blöcke wieder zusammen. Die Standfugen fordern uns auf, den Zusammenhang von Inhalt und Form, von Material und Gestalt, von Struktur und Oberfläche, von Konzept und Realisierung weniger als platte Identität unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit von Material und Form zu sehen, sondern diese Zusammenhänge als stets offene Fragen zu würdigen.