›Besetzungen‹
Im Übergang zu den 70er Jahren hat Anselm Kiefer unter dem Titel ›Besetzungen‹ ein Aktionsprogramm realisiert, das man als großartige Zusammenfassung ähnlicher Programme anderer Künstler der 60er Jahre werten kann. Er reiste an verschiedenste Plätze und in verschiedenste Landschaften des Teils von Europa, der durch die Hitler-Armeen besetzt worden war. Kiefer zeigte sich dort jeweils öffentlich mit zum Hitlergruß erhobenem Arm so lange, bis Umstehende diese demonstrative Geste bemerkt und photographisch festgehalten hatten.
Naive Gemüter bestätigten sich ihre eigene demokratische Rechtschaffenheit, indem sie Kiefer nationalsozialistischer Gesinnung verdächtigten. Das ist so haltlos, wie es der Vorwurf an Klaus Staeck wäre, er sei ein CDU-Propagator mit der Aussage: »Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen«.
Der Vorwurf teutscher Mythomanie gegen Kiefersche Werke, die deutsche Mythologie zitieren – immer erneut erhoben –, ist so haltlos, wie es der Vorwurf gegen Psychotherapeuten wäre, ihre Patienten terrorisieren zu wollen, weil sie ihnen eben jene Symptome verstärkt verordneten, unter denen diese Patienten leiden.
Strategie der Affirmation
Ich weiß recht genau, wovon ich rede. Seit 16 Jahren versuche ich, ein derartiges Vorgehen als »Strategie der Affirmation« plausibel zu machen. (Vgl. hierzu: ›Ästhetik als Vermittlung‹ Bd. I, Teil 4: ›Eulenspiegel als Philosoph – Affirmation als Vermittlungsstrategie‹ und Bd. IV, Teil 5: ›Zur Verkommenheit des deutschen Bewußtseins – Affirmation als Widerstand‹.) Es hat nichts genützt, obwohl ich glaubte, mich dabei auf Überlegungen berufen zu können, denen man Aufmerksamkeit nicht verweigern kann: zum Beispiel auf Francis Bacons Maxime »Natura non nisi parendo vincitur«, was zu deutsch die Marxsche Sentenz abgibt: ›Man muß die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt‹.
Immerhin gibt es ja künstlerische Praxisbereiche, in denen diese Strategie der Affirmation sich als leistungsfähig erwiesen hat: in den Kampagnen der kollektiven Selbstanzeige zur Abtreibungsfrage; in den Kampagnen »Dienst nach Vorschrift«. Auch die medizinische Homöopathie verfolgt die Strategie der Affirmation.
Einer ihrer bedeutendsten Verfechter ist sogar sehr volkstümlich geworden, nämlich der deutsche Philosoph Till Eulenspiegel. Wobei man gleich dafür sorgte, daß Eulenspiegels Beispiel nicht nachgeahmt werden konnte: Indem man ihn zu einer Witzfigur verharmloste (heute von der aufgeklärten Kritik als Vorwurf hofnärrischer Klamaukmacherei gegen diejenigen Künstler erhoben, die die Strategie der Affirmation verfolgen).
Nicht nur das Volk, vor allem die hohen Herrschaften des Geistes haben ihre Schwierigkeiten mit dem Problem der Affirmation. Hatten sie Eulenspiegel als Narr stigmatisieren können, so erhoben sie seinen bisher bedeutendsten Nachfolger, Friedrich Nietzsche, zum Übermenschen, anstatt seine populären dicta, daß Gott tot sei, daß der Wille zur Macht die Menschen beherrsche, daß alles Schwache und Kranke vernichtet werden müsse, damit die Zukunft den Herrenmenschen gehöre, als das zu verstehen, als was sie gedacht wurden. Sie sind die Konsequenz des Selbst- und Weltverständnisses, das die bürgerliche Gesellschaft beherrschte.
Die Konsequenzen wurden auf das Radikalste, soweit wie nur immer möglich, durchdacht, um mit dem Schock, der von ihnen ausgehen sollte, die Bürger zu zwingen, jenes Selbst- und Weltverständnis endlich zu entdecken, von dem sie längst beherrscht wurden, obwohl sie immer noch das Gegenteil annahmen.
Es nützt nichts mehr, dem Gegner nachzuweisen, daß seine Behauptungen ›falsch‹ sind. Man muß den Gegner dazu zwingen, seine eigenen Behauptungen ganz ernst zu nehmen, indem man sie selber zunächst einmal gelten läßt - ja, ihnen derart zustimmt, daß ihr Anspruch sich über alle anderen gegenteiligen Ansprüche hinwegsetzen könnte. Dann werden Konsequenzen sichtbar, die auch den mit der Existenzauslöschung bedrohen, der diese Ansprüche gerade noch glaubte, gegen alle anderen verwirklichen zu müssen.
Ein derartiges Vorgehen bis zum Rande des Abgrundes, bis ins Zentrum der Hölle meint die ›Revolution des Ja‹ meint die Strategie der Affirmation.
Affirmation ist nicht Zustimmung als sich unterwerfende Anerkennung, sondern Radikalisierung eines Zustimmung fordernden Anspruches – bis der aus sich selbst heraus zusammenbricht. Affirmation ist also nicht Position (die bloße Setzung eines Anspruchs), sondern tatsächlich Negation der Negation. In ihr werden nicht Spruch und Widerspruch in einer neuen Einheit versöhnt, sondern als nur aufeinander Bezogene und auseinander Entwickelte überhaupt begründbar. Weder der Anspruch noch der Gegenanspruch können aus sich heraus sinnvoll begründet werden: Sieg des einen über den anderen vernichtet beide.
Wenn etwas von den Philosophen in Deutschland gedacht worden ist, was auch andere als für sich bedeutsam zu bedenken hätten, dann ist es die Entwicklung des eben zitierten Gedankens.
Die Entfaltung dieses Gedankens in der Praxis betreiben vor allem die Künstler, seit Nietzsche und Wagner ihren Streit begannen. Dabei behaupte ich ja wohl nicht ganz zu unrecht, daß Männer wie der junge Fritz Teufel Künstler waren, die ihren Handlungsbereich über die Kunst hinaus ausgedehnt hatten. Teufels Antwort auf die Aufforderung eines Richters, sich in der Anklagebank zu erheben, ist nahezu ebenso populär geworden wie entsprechende Antworten Eulenspiegels: »Aber gern, wenn das der Wahrheitsfindung dient.« Daß Teufel und andere die Museen verlassenden Künstler der damaligen Zeit doch nicht ganz verstanden hatten, was die Strategie der Affirmation besagt, zeigt die Tatsache, daß sie zur herkömmlichen Form der Auseinandersetzung im Kampf von Macht und Gegenmacht zurückfielen oder sich in sie zurückzwingen ließen. Ein Syberberg (vgl. hierzu ›Syberberg‹, S. 441-443), ein Kiefer haben das verstanden. Es bleibt zu hoffen, daß ihre Kritiker das möglichst bald auch verstehen werden, damit auch sie wenigstens einige Schritte über den Stand der Diskussion dieser Probleme hinauskommen, wie er in der Auseinandersetzung Nietzsches mit Wagner bereits erreicht war.
›Bilderkrieg‹ als affirmatives Verwirrspiel
In zwei großen Bilderzyklen, ›Verbrannte Erde‹ und ›Bilderkrieg‹, gibt Anselm Kiefer dem Betrachter ganz unmittelbare Hinweise auf sein Vorgehen: ›Verbrannte Erde‹ ist ein Terminus aus der Kriegsgeschichte und bezeichnet sowohl die Absicht eines Angreifers wie eines Verteidigers, dem jeweiligen Feind nichts mehr in die Hände fallen zu lassen, was ihm nützlich sein könnte. So haben die sich verteidigenden Russen auf dem Rückzug vor Napoleon ihre eigenen Dörfer und Städte angezündet – ein zunächst abstruser Gedanke: sich selbst zu schaden, um dem Gegner zu schaden, beziehungsweise etwas verteidigen zu wollen, indem man es zerstört. Und genauso abstrus erscheint der Gedanke eines Angreifers, das zu zerstören, was er eigentlich haben wollte. Hätte er es nicht haben wollen, so wäre sein Zugriff auf die Besitztümer der Feinde nur schwer verständlich.
Den Wahnsinn dieser Art von Vorgehen, den man philosophisch vornehm als »Dialektik« verbrämen kann, überträgt Kiefer auf die Handlungen des Künstlers. Jede künstlerische Arbeit löscht durch ihren Anspruch scheinbar eine andere aus. Jedes neue Werk eines Künstlers leugnet den Anspruch des vorhergehenden, vollständig und abgeschlossen zu sein. Jede Auseinandersetzung des Künstlers mit vorgegebenen Werken bedeutet zwangsläufig eine Verstümmelung, Verfälschung, ja Zerstörung des Vorgegebenen. Gerade das leidenschaftliche Interesse an der Auseinandersetzung hat besonders gravierende, verstümmelnde und verfälschende Konsequenzen. Dennoch malen? Warum dennoch nicht darauf verzichten, weiterzuarbeiten?
Der zentrale Topos des Wagnerschen Musikdramas ›Parsifal‹ heißt »Erlösung dem Erlöser«. Er wurde in der totalitären Umsetzung zu der alles rechtfertigenden Aussage »durch Untergang zum Sieg«, »durch Zerstörung zur Auferstehung«.
Totalitäre Gestalter des Lebens beschworen nach dem Ersten Weltkrieg, daß die Niederlage Deutschlands in Wahrheit ein Sieg gewesen sei, weil sie über eine kurze, dramatische Übergangsphase den Nationalsozialismus erzwungen habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Niederlage Deutschlands als wahrhafter Sieg verstanden, weil die Deutschen so gezwungen gewesen seien, ihre Produktionsanlagen radikal zu modernisieren, wodurch sie im Wirtschaftskrieg den alten Siegern überlegen gewesen seien, denn die Sieger hätten ja ihre Produktionsstätten und Anlagen behalten können beziehungsweise sich die veralteten deutschen Anlagen durch Reparationen aufgenötigt. Dieses metaphorische affirmative Verwirrspiel durch ständigen Wechsel der Wirklichkeitsebenen entfesselt Kiefer in seinen Gemälden. Es hatte ja tatsächlich Künstler gegeben, die – wie Yves Klein – mit wirklichen Flammenwerfern auf ihre wirklich brennbaren Leinwände losgegangen sind. Eine Manifestation hart an der Grenze zum Totalitarismus der Bilderstürmer. Rettung der Kunst, indem man ihren totalen Anspruch gegen sie selber verwendet? Kraft durch Frevel?
Im Zyklus ›Bilderkrieg‹ übersetzt Kiefer in das eigene Werkschaffen die Vorgänge eines der zahlreichen historischen Bilderkriege – den, der zwischen 730 und 840 das byzantinische Imperium erschütterte. Bilderfeinde – und das ist wieder ein affirmatives Verwirrspiel - waren die eigentlichen Bilderfreunde. Denn sie trauten dem Bildwerk tatsächlich die Kraft zu, das auf dem Bild Dargestellte real werden zu lassen. Die Bilderfreunde hingegen sind eigentlich den Leistungen der Bildwerke gegenüber sehr skeptisch eingestellt, weil sie die Darstellungen des Bildwerkes nur für zeichenhafte Verweise auf etwas unerreichbar fern Bleibendes verstanden. Das Gemälde war für sie nur symbolische Repräsentation des Abgebildeten und Dargestellten.
Die Bilderfeinde ließen sich zur Zerstörung oder zum Verbot der Bilder hinreißen, weil sie dem Bildwerk die höchste denkbare Kraft zutrauten – nämlich die Identität zwischen Abbild und Abgebildetem, zwischen gedanklichem oder visionärem Konstrukt und seiner faktisch wirksamen Entsprechung.
Totalitäre Bilderstürmer sind immer in Wahrheit Bilderanbeter. (Byzantinischer Bilderstreit, vgl . hierzu: ›Ästhetik als Vermittlung‹: Kap. ›Der Wirklichkeitsanspruch der Bilder‹ S. 264ff. und darin ›Geschichte des Bilderkrieges um das Realismus-Problem‹, S. 317-334.)
In Kiefers Zyklus ›Bilderkrieg‹ werden diese Sachverhalte namentlich, also begrifflich, zitiert. Sie finden ihre tatsächliche Entsprechung im Vorgehen des Malers selbst, der sich in dem Maße in seine Gestaltungsfreiheit begibt, in dem er sein Werk definitiv werden läßt, es vollendet. Er unterwirft sich den von ihm gerade selbst erst vollzogenen künstlerischen Handlungen, wird zum Bildanbeter. Andererseits kann ja die schöpferische Freiheit vom Künstler nicht dadurch gewahrt werden, daß er jede Festlegung seines Vorgehens auf der Leinwand sofort und ausdauernd widerruft. Das könnte nur dazu führen, entweder gar nicht mehr zu malen, oder aber das eigene Werk nur noch in permanenten Übermalungen ein und desselben Ausgangsmaterials bestehen zu lassen.
Kiefer löst diesen Konflikt, indem er den Anspruch des Werkes auf abschlußhafte Vollendung, auf Autonomie, durch Pathosformeln repäsentiert – ›heroische Sinnbilder‹ von etwas faktisch Unmöglichem. Dem Werk wird Existenz, das heißt Dauer und Wirkungsanspruch zugestanden, aber nur als prinzipiell Unvollendetem, Ruinösem, Torsohaftem; Charakterisierungen, die schlechthin für Totalkunst gelten. (Vgl. hierzu ›Der Hang zum Gesamtkunstwerk‹, S. 58-64.)
Kiefers hochentwickelte Malkultur widerspricht dieser Charakterisierung nicht. Sie ist eine totalitäre Geste der Verwirklichung von Malerei – oder der von Kunst überhaupt. Sie richtet sich aber nicht mit ihrem Anspruch auf Geltung und Unterwerfung an die Menschheit, sondern gegen das Werk selber. Es wird zur Ruine, (vgl. hierzu ›Ruine als Modell der Differenz‹ in diesem Band S. 176-187) der einzigen Form, in der etwas Geschaffenes tatsächlich Dauer beanspruchen kann.
Zwar überlegte auch Speer, wie seine Architekturen anzulegen seien, damit sie in ferner Zukunft noch als Ruinen Bestand hätten, aber er konnte gerade nicht verstehen, was für die Totalkünstler selbstverständlich ist: daß solche Architekturen von allem Anfang an nur als Ruinen zu rechtfertigen sind. Das dialektische Verwirrspiel enthüllte sich schnell. Kaum waren Speers Bauten errichtet, verwandelten sie sich in Ruinen, das heißt in Totalkunstwerke. Als solche bezeugen sie, daß die Verwirklichung einer Utopie nicht in ihrer hundertprozentigen Umsetzung in die Alltagswelt gelingen kann, sondern daß eine Utopie verwirklicht wird, indem man sie als bloße Utopie rettet, um von ihr her fundamentale Kritik an jedem absoluten Anspruch von Wahrheit und Vollendung leisten zu können.
Plan – affirmative Realisation
Im ›Unternehmen Seelöwe I‹ von 1975 wagt sich Kiefer – wie in einigen anderen Werken der gleichen Schaffensperiode – an die bisher anspruchsvollste Konstruktion eines übergeordneten Zusammenhangs: die christliche Dreifaltigkeit oder Dreieinigkeit. Im Rahmen unserer Betrachtung wäre das ein Gesamtheitskonzept als theologisches Aussagensystem – also »Gesamtkunstwerk« (vgl. hierzu ›Der Hang zum Gesamtkunstwerk‹, S. 58-64). Die Dreieinigkeit ist im ›Unternehmen Seelöwe I‹ durch drei beuysbraun gemalte Küchenstühle repräsentiert, die auf einer durchsichtigen Glasplatte parallel und in gleichem Abstand voneinander gezeigt werden. Die Glasplatte schwebt über – oder ruht auf – den Häuptern behelmter Männer, die in drei Marschsäulen mit entsprechenden Untergliederungen ungefähr so aufmarschiert sind, wie SA und SS auf dem Reichsparteitagsgelände. Die Kolonnen erstrecken sich vom Bildmittelgrund bis in den tiefen Bildhintergrund. Sie scheinen in herbstlich-düsterer Ackerlandschaft zu stehen. Vor der Front der Kolonnen in Schrägsicht von oben: eine überdimensionierte Zinkbadewanne, auf deren Wasseroberfläche drei Kriegsschiffe in Linie operieren. Das mittlere Schiff des Geleitzugs steht am Bug in Flammen. Die Rauchschwaden verhüllen bereits die vorderen Glieder der Kolonnen.
Der Feuerschein reicht hinauf bis zu den Stühlen, so daß die Stühle Schatten werfen. Im Bildvordergrund und seitlich der Wanne erdfarbene Schwaden, die über Männerköpfe ziehen. Rechts unten im Bildvordergrund der Titel ›Unternehmen Seelöwe‹ – wie alle Inschriften bei Kiefer im mühsamen ductus der Kinderhand, zu der offensichtlich auch die Hand des Malers wird, wenn sie mit bildsprachlichen Mitteln Begriffe zu vergegenwärtigen sucht.
»Unternehmen Seelöwe« war der Deckname für die von Hitler geplante Eroberung Englands. Der Plan konnte nicht ausgeführt werden. Das lag aber nicht daran, daß Hitler die prinzipielle Haltlosigkeit jeder Art von Welteroberungsplänen eingesehen hätte, sondern weil ihm die Mittel fehlten, den fertigen Plan tatsächlich auszuführen. Nun führt ihn Kiefer affirmativ als Totalkunstwerk aus. Die affirmative Übersteigerung in enthüllender Absicht wirkt als Parallelisierung zwischen Dreieinigkeit als theologischem Systemkonstrukt, dem Sandkastenspiel der Militärs und dem Schaffen eines Kunstwerks. Sandkastenspiele wie Gemälde behaupten einen bestimmten Zusammenhang zwischen
Plan und Ausführung,
Begriff und Anschauung,
Abbild und Abgebildetem,
Zeichen und Bezeichnetem.
Wird diese Beziehung als Identität verstanden, dann werden das künstlerische Werkschaffen, das militärische Sandkastenspiel und jegliche planmäßige absichtsvolle Handlung totalitär.
Kiefer behauptet – wie ich das ›Unternehmen Seelöwe‹ verstehe – daß das christliche Dreifaltigkeitsmodell den bürgerlichen Zukunftsgestalter dazu verführt hat, seine längst entchristlichte Welt nach dem Modell der Dreifaltigkeit zu realisieren. Aber die theologische Systemkonstruktion der Dreifaltigkeit ist kein Modell, darf nicht als Handlungsanleitung verstanden werden. Wer das dennoch tut, zerstört die Dreifaltigkeit, entleert den christlichen Himmel, stößt die Dreifaltigkeit von ihrem Thron, auf den Stühlen sitzt niemand mehr. Die Geist und Tat verwandelnde Kraft – die formierten Massen – tragen eine Leerformel, den Fetisch der Begriffsgläubigkeit. Ihre Bewegung erstarrt zum Dauerzustand wie Lava zu Stein, wie der Gedanke zur Formel, wie die Liebe zur Gewohnheit, wie die Kraft zur Gewalt.
Der folgende Textteil ist dem Artikel ›Avantgarde und Mythos. Möglichst taktvolle Kulturgesten vor Venedigheimkehrern‹ in Kunstforum International, Bd. 40, 4/89, entnommen.
Es ist verständlich, daß ein sowohl sehunerfahrener wie mit den Problematiken der Affirmation unvertrauter Betrachter annehmen kann, er habe es bei Kiefers Bildern mit einem bloß positiven Ausweis germanophiler Mythologie zu tun, anstatt mit deren Affirmation.
Ein unerfahrener Mensch wird schließlich in allem nur das sehen, was er sehen will. Wer seinerseits gegen derartige schwarz-weiß-rot gemalten Mythen gefeit ist, weil er sie als Mythen und nichts anderes versteht, also sie nicht als Abbildungen liest, wird keinen Anlaß haben, sie durch Verdrehung und Projektion zu verleugnen. Dazu ist nur genötigt, wer seinen Anteil an ihnen nicht kennt; wer seine Omnipotenzphantasien, seine Sehnsucht nach Stillstellung des Weltlaufes in einem ihm sinnvoll erscheinenden Zustand, wer seine Versuchung zur Erpressung anderer durch Bereitschaft zur Aufopferung nicht zu erkennen wagt.
Die Kieferschen Werke muten dem Betrachter derartige Erkenntnis seiner selbst in den Erzählungen zu, die wie der Parzival-Mythos derart überwältigend sind, daß man sie keinem individuellen Urheber verdankt glauben kann, und die deshalb den Eindruck erwecken, als habe sich in ihnen so etwas wie Geist eines Kollektivs, gar der Geist der Menschheit zu erkennen gegeben.
Künstler und Mythos
Darin liegt eben die Gefahr von scheinbar urheberunabhängigen Aussagen, die, weil sie keinem Individuum mehr zuschreibbar sind, über alle Individuen gleichermaßen hinweggehen. Mythos ist Erzählung, die urheberunabhängig geworden ist und daher einen allgemeinen Geltungsanspruch zu rechtfertigen scheint. Positive Wissenschaft verfährt auf gleiche Weise, sie ist der heute allein gefährliche Mythos. Ihre Geisteshelden rühmen sich des Verdienstes, selbst nicht mehr als Individuen in den Aussagen aufzutreten, die sie repräsentieren. Sie haben ihren Geist dem Geist geopfert in der erpresserischen Hoffnung, als Agenten der Wahrheit dafür belohnt zu werden, daß sich das Geschehen in der Welt genauso entwickelt, wie sie es vorausgesehen und gewollt haben.
Dagegen gibt es nur den Einspruch der Künstler, wenn wir, und das scheint besonders heute sinnvoll zu sein, als Künstler alle diejenigen verstehen, die auf gar keinen Fall bereit sind, als Aussagenurheber hinter ihren Aussagen zu verschwinden; ganz gleich, ob sie nun Künstler im Wissenschaftsbereich, im Sozialbereich oder im Kunstbereich sind.
Am dringlichsten wäre das Bestehen auf der Aussagenurheberschaft in der Politik, wo man am leichtesten reüssiert, wenn man sich als geistloser Agent des großen Geistes, als Verwirklicher kollektiver Mythologien, als interesseloser Beförderer von Ideen präsentiert. Wer das nicht tut, wird als bloßer Macher auf dem Boden der Realitäten festgenagelt.
Kiefers Versuch, die heutigen und die alten Mythen aufzusprengen, indem man ihre ganz menschlichen Urheber in ihnen wieder sichtbar macht – sie also als die Geister zeigt, die sie tatsächlich waren –, heißt eben nicht, den Teufel affirmativ mit dem Beelzebub auszutreiben. Man darf ihn gar nicht vertreiben wollen, weil man sonst der Illusion verfallen könnte, das Übel aus der Welt bringen zu können.
Diesem Irrtum verfallen unsere positiven Wissenschaftler, die von Problemlösungen sprechen, ohne zu verstehen, daß Probleme nur ›lösbar‹ sind, indem man neue schafft.
Diese Herren betrieben Problemlösung auf allen Ebenen nur als ein Unsichtbarmachen. Sie verwandelten das sichtbar Böse und den sichtbaren Schmutz in Gifte, die von den menschlichen Organen nicht mehr wahrgenommen werden können.
Aufgabe des Künstlers ist es, auf Wahrnehmbarkeit, auf Sichtbarkeit dessen zu bestehen, womit wir als Problem auszukommen haben, ohne hoffen zu können, es jemals aus der Welt zu bringen.