Bilderkriege. Eine Einführung
1. Gegenwärtig machen immer mehr Naturwissenschaftler die Entdeckung, daß die eigentlichen Gegenstände ihrer Arbeit von ihnen selbst hergestellte Zeichengefüge als Bilder, Texte und Modelle sind. Ob Röntgenbild oder Aufnahme des Positronenemissionstomographen, ob zeichnerische Darstellung der Funktion von Enzymen oder grafische Darstellung komplexer Systeme im Organogramm eines zu bauenden Güterbahnhofs –
immer und überall werden Bilder gelesen, Begriffe gebildet und mit ihnen hantiert, Modelle als Veranschaulichungen gebaut und experimentell modifiziert.
Astro- und Kleinteilchenphysiker gehen mit Metaphern (schwarzes Loch, Quark oder Glue) um wie früher die Lyriker mit der schwarzen Milch der Frühe. Die großen Attraktoren und die schwachen Wechselwirkungen wanderten aus der Bildhauerei, dem Theater und dem Kommunikationsdesign in die Mathematik und andere Bildgebungsverfahren mit universeller Geltung ab. Dabei bleibt es zweifelhaft, ob das Gros heutiger Naturwissenschaftler im Umgang mit der Metapher und dem Bild des Attraktors weiterkommt, als die Theaterautoren und Schnulzensänger mit dem großen Attraktor Liebe gekommen sind. Wer den Flirt als schwache Wechselwirkung und die Interpretation als leistungsfähige Koppelung von Systemen darstellt, findet als Poet Aufmerksamkeit. Es ist schwer zu sagen, ob die Normalwissenschaft mehr bietet als die Poesie der Naturbetrachtung. Nicht nur Heidegger liest man mit Gewinn als Gedankenlyrik; die Lehrbücher der Molekularbiologen sind die anregendsten Bilderbücher des Zeitgeistes, und der Dadaismus oder Surrealismus von Max Ernsts Histoire Naturelle findet heute seine Konkurrenz unter Wissenschaftstheoretikern und Gehirnverpflanzern.
Wissenschaft heißt heute Zeichenproduktion und Umgang mit diesen Zeichen, wie es die Künste seit 600 Jahren taten. Ein ungeheuer differenzierter, leistungsfähiger, erkenntnisstiftender und meinungsmanipulierender, machthöriger und machtkritischer Gebrauch. Und der Nutzen war stets ambivalent und ambiguitär, antinomisch und paradox; aber es gelang, selbst aus der Augentäuschung noch den Genuß des Durchschauens der Täuschung abzuleiten, Angst und Lust im gleichen Augenblick zu evozieren; Differenzen aufzuladen, wie z.B. die nur im Bilde mögliche Unterscheidung von Bild und Abgebildetem, von Zeichen und Bezeichnetem – eine Differenz, die in jedem Bildersturm und Bilderkrieg blutige Realität wurde. Heute führen die Wissenschaften solche Bilderkriege, und der Realitätshaltigkeit der Differenz zwischen Genomdarstellung und Menschenbild wird jedermann ausgesetzt, mag er sich noch so sehr wehren, den vermeintlichen Spitzfindigkeiten von Genetikern und Pharmazeuten Bedeutung zuzugestehen. Früher wehrte man sich so gegen die vermeintlichen Spitzfindigkeiten von Kunsttheorien und Künstlerphilosophen, die seit 1500 unter dem Programmnamen ut pictura poesis (auch künstlerisches Schaffen führt zu wissenschaftlicher Erkenntnis) firmiert. Heute lautet das Programm ut scientia poesis (auch Wissenschaft ist eine Form der ästhetischen Produktion).
Also liegt die Frage nahe, ob nicht die Künste mit ihrem sechshundertjährigen Erfahrungsvorsprung im Umgang mit selbstproduzierten Zeichengefügen den Naturwissenschaftlern, die damit gerade beginnen, einigermaßen von Nutzen sein könnten – sowohl bei der Vermeidung neuer Glaubenskriege aus der Gewalt naiver Begriffs- und Bildgläubigkeit als auch bei der demokratischen Selbstbeschränkung eines Wirkungsanspruches, dessen Fatalität im Programm „Der Staat als Gesamtkunstwerk“ traurige Berühmtheit der Künste hervorbrachte. Vielleicht ist doch noch zu vermeiden, daß ein analoges Programm „Die Welt als gesamtwissenschaftliches Konstrukt“ den teuflischen Triumph des Wissenschaftlers als Schöpfergottimitator zeitigt. In diesen Imitationskünsten, der „imitatio dei et christi“, waren Künstler einst Meister – Großmeister des Katastrophendesigns. Aber was sind schon Bosch und Picasso, der Weltgerichts-Michelangelo, Füssli und Artaud gegen die ABC-Schützen heutiger Wissenschaften.
2. 1977 erschien die englische Erstausgabe des Buches The Self and Its Brain von Karl Popper und John Eccles. Von den im virtuellen und realen Dialog geführten Erörterungen der Autoren habe ich mich damals, bei sibirischer Kälte an der finnischen Südküste neben Eislochanglern sitzend, ködern lassen. Die verlockendsten Happen waren die glänzend verpackten Theoreme, daß auch nicht verkörperter Geist hypothetisch postuliert werden müsse und daß die Verkörperung des Geistes in den Funktionstypiken unseres Gesamtnervensystems nicht einmalig sei. Popper und Eccles gingen ausführlich auf Sperrys Experimente der frühen 60er Jahre ein, in denen er bei Epileptikern, die von ihrer Krankheit schwer beeinträchtigt waren, die Brücke zwischen den beiden Hirnhemisphären durchtrennte, um dann systematisch zu untersuchen, welche Auswirkungen dieser Eingriff auf Wahrnehmung/Bewußtsein und Kommunikationsfähigkeit der Patienten hatte. Vor allem ging es um die sprachliche Koppelung von Bewußtsein und Kommunikation und dabei wiederum um die Kooperation der verschiedenen links- und rechtshemisphärischen Leistungszentren, also um den
Zusammenhang von Wahrnehmung, Denken, Fühlen, Vorstellen als intrapsychische Prozesse bei der Verkörperung im Schreiben und Lesen von Wörtern und Bildern.
Meine Fragen an die Autoren lauteten: Müssen die seit dem 19. Jahrhundert untersuchten Synästhesien, aus denen z.B. Richard Wagner die Unumgänglichkeit des Gesamtkunstwerkes schlußfolgerte, nicht nur so verstanden werden, daß sie gattungsspezifische Zuordnungen von Sprachformen (Literatur, Musik, Malerei etc.) als haltlose Willkür, also als rein konventionell erkennbar werden ließen; mußte nicht vielmehr angenommen werden, daß bei jeder Wahrnehmungsaufgabe alle Leistungszentren der Hirnrinde aktiviert wurden – also beim Lesen auch die Leistungszentren für das Hören, für das Bilderanalysieren und -synthetisieren usf.? In Frage standen also die Kooperationsformen der Leistungszentren, wenn tatsächlich der menschlichen Wahrnehmung zur Aufgabe gemacht wurde, nur einen Text zu lesen oder zu hören, ein Bild als Gemälde zu betrachten oder vorzustellen, Formen oder Volumen haptisch zu erfassen. Meine Annahmen orientierten sich am Modell von in kürzesten Zeitfolgen beständig wechselnden Dominanzhierarchien zwischen den Leistungszentren, wobei jeweils dieselbe Wahrnehmungsaufgabe unter der Dominanz eines spezialisierten Leistungszentrums in Kooperation mit allen anderen abgearbeitet wurde. Mir schien dieses Modell brauchbarer zu sein als die später sogenannten Kaskadenmodelle, weil die wechselnden Dominanzhierarchien die bottom up und top down-Aktivierungen gleichzeitig und mit Bezug aufeinander ablaufen können und darüberhinaus die neuronalen Aktionspassepartouts definierbar blieben.
Natürlich stellte ich diese und eine Reihe anderer Fragen an die Neurophysiologen und ihre Gesprächspartner nicht in der Absicht, mich auf ihrem Arbeitsfeld selber zu betätigen, sondern um herauszufinden, welche Konsequenzen deren Problematisierungen für die ästhetischen Fragestellungen haben könnten. Dabei waren vor allem Fragestellungen mit sozial-psychologischen und kulturpolitischen Schlußfolgerungen von Interesse. Ich vermutete, daß mit naturwissenschaftlicher Argumentation den Unsinnigkeiten und Bösartigkeiten der Kunstrezeption nachdrücklicher begegnet werden könne als mit den herkömmlichen kunstwissenschaftlichen oder philosophischen Begründungen. Der pathetische Appell „Künstler bilde, rede nicht“ – eine komplette Verfälschung von Goethes Begriff, der heute bildnerisches Denken heißt – wurde zumeist hämisch und besserwisserisch gegen Künstler gewendet, die schon in der Materialisierung ihrer Werke bekundeten, daß die Autonomie der optischen Wahrnehmung bei der Bildbetrachtung eine Fiktion ist. Man unterschob diesen Künstlern, nur aus persönlicher Unfähigkeit oder in programmatischer Täuschungsabsicht Wort-Bild-Ton-Kombinationen als Materialkollagen vorzuführen, um den Betrachter mit Begriffen und Konzepten zu terrorisieren, weil sie unfähig seien, sie im Werk und als Werk eindeutig auszuweisen – und mit denen sie deshalb, abstrakt daherplappernd, den Betrachter überzogen. Ich hoffte, die ständigen Vorwürfe, das künstlerische Denken und Gestalten seien entartet und der Dilettantismus sabotiere anmaßlich den Kanon traditionell gesicherter Ausdrucksformen der Künste, würden langsam verstummen, wenn sich erst herumgesprochen haben würde, wie nahe die experimentellen Künste den naturwissenschaftlich begründeten Annahmen über die Natur unseres menschlichen Selbst- und Fremdbezugs gekommen waren (nachdem von Holst und Konrad Lorenz die neurophysiologischen Funktionsweisen unseren „Weltbildapparats“ entdeckt und die Verhaltensforschung Einsichten in die Naturgeschichte menschlicher Erkenntnisformen genommen hatten); und ich hoffte, daß die Achtung und Beachtung des Erkenntnisgewinns durch künstlerische Gestaltung Wissenschaftler animieren würde, intensiver mit Künstlern zusammenzuarbeiten.
Natürlich bleiben diese Annahmen naiv; denn als ich am 27.10. 1978 den versammelten Teilnehmern des Steirischen Herbstes in Graz „Die neurophysiologischen Grundlagen jeder Ästhetik“ zu demonstrieren versuchte, fand das auch bei Künstlern und Kunsttheoretikern keinerlei Resonanz. Das hat sich bis heute nicht geändert, denn die gegenwärtig modische Attraktivität von Linkshirn- und Rechsthirntypiken oder ähnlichem zeigt überdeutlich, daß man nur eine Autorität durch eine neue ersetzen will, aber keineswegs gesonnen ist, die Problematisierungsleistung der Neurologie oder Molekularbiologie auf sich selbst anzuwenden – also zu erkennen, daß jenes wissenschaftliche Arbeiten seinerseits auch eine ästhetische Operation ist, gegen die dieselben Einwände erhoben werden müssen und für die die gleichen Einschränkungen gelten wie für jede andere – sei es die Umsetzung einer Architekturzeichnung in einen Bau, einer Wirtschaftstheorie in die Wirtschaftspolitik, einer Vorstellung ins gemalte Bild, einer Anschauung in den Begriff oder generell von Produktionen der Bewußtseine in Kommunikation über sprachliche Vermittlung.
Mit der Neuronalen Ästhetik soll der Versuch gekennzeichnet werden, die begriffliche Fassung neuronaler Prozesse selber als ästhetische Operation zu entfalten und über korrespondierende Analogien zwischen „natürlichen“, alltäglichen, jedermann von Natur aus beherrschbaren Aktivierungen seines Weltbildapparates und den weltbildkonstituierenden Operationen der Wissenschaftler und Künstler, die ja auch nur über denselben Apparat wie jedermann verfügen, erweiterte und modifizierte Konfrontationen des Geistes und des Prinzips Leben mit ihren Verkörperungsformen zu schaffen.
Fazit: Nehmen wir an, wir wüßten, wie wir neuronal und biochemisch funktionieren, dann würde diese Kenntnis (abgesehen von ihrer Verwendung zur Restituierung medizinisch konstatierter Defekte) doch „auch nur“ zu einer Organoptimierung verwendet werden können. Genau um diese Optimierungen geht es aber ohnehin in den künstlerischen oder wissenschaftlichen Strategien, von unseren Gehirnen Gebrauch zu machen.