Radiobeitrag SWR2

Autor: Johannes S. Sistermanns
Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff
Produktion: SWR 2020

Das Hören hilft, sich zu orientieren, offenbart Naturgesetze, ermöglicht einen Zugang zu unserem Wesen. Es muss erst von Nerven decodiert werden, es erschließt Dimensionen einer akustischen Realität.

Erschienen
15.09.2020, 23:03 Uhr

Station
SWR2

Sendung
SWR2 MusikGlobal

Length
57 min

Erscheinungsort
Stuttgart, Deutschland

Dimensionen des Hörens

Von Johannes S. Sistermanns

Auszug Beitrag Bazon Brock (43:50-48:49):

O-Ton Bazon Brock 1
D.h., Stille ist ebenso wie der Zwischenraum zwischen den Worten oder den Noten der Ort der Nichtdefiniertheit. Und den braucht es eben, um von einer zur nächsten Note zu kommen, um von einem Wort zum anderen, einem Satz zum anderen.

O-Ton Bazon Brock 2
Also ist Stille, Ewigkeit, Größe nur noch als begriffliche Ausarbeitung, d.h. als das, was wir in uns als Gedanken tragen, möglich. Stille gibt es nur noch in uns und nicht mehr außerhalb. Wir können die Stille nur selbst als psychische Leistung in uns erzeugen, mit den Techniken, die die Zen-Buddhisten und andere zur Verfügung stellen, nämlich sich abzuschalten von jedem Außenreiz, von jeder Einwirkung, um dann eben Stille als das Resultat der eigenen psychischen Optimierung zu erzeugen.

Johannes S. Sistermanns
Wir hören Bazon Brock in seiner persönlichen Perspektive der Stille als Situation sowie kompositorisches Material und dann gefolgt von seinem ganzheitlichen Stille-Erlebnis im schweizer Engadin.

O-Ton Bazon Brock 3
Der Klang ist in der Tat viel weitergehend als das Bild, das historische Assoziationsmedium. Es sind nicht die Erfahrungen, die wir in der Visualität mit uns tragen, die diesen metaphysischen Schauder erzeugen, sondern es ist die Musik. Und wir haben es in der Tat ja von den Komponisten gelernt: Wenn etwa Beethoven die Idee der Programmmusik entwickelt hat – Sommer, Nachmittag, Gewitter zieht auf etc. –, dann war das der demonstrative Zugang zu einer natürlichen Voraussetzung des Menschen, zu sich selbst. Das ist der berühmte Wahrnehmungseffekt des eigenen Herzschlages als Grundvorgabe für die Rhythmik überhaupt, die wir kennen. Das sind die Wahrnehmungen der Geräusche des Unsichtbaren, denn man musste vor allen Dingen in der Nacht, in der Frühzeit der Menschheit– ja sogar noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein – vor allen Dingen in der Nacht, wo das Visuelle ausgeschaltet war und der Blick sowieso nicht weiter kam, orientieren, denn die Gefahr kam aus dem Dunklen. Das Dunkle war nur durch das Hören durchdringbar. Also ist das Hören der metaphysische Sinn schlechthin, der das, was nicht den anderen Sinnen zugänglich, was nicht evident ist, kritisch beobachten und bewerten kann: gefahrvoll /weniger gefahrvoll, vertraut / unvertraut.
Ich hab mal so Experimente gemacht, indem ich mich auf eine Hütte im Engadin zurückgezogen habe, um dort so etwas wie Depravationserlebnisse freiwillig zu machen, also Beraubung der sinnlichen Wahrnehmung. In der Einsamkeit dieser Hütten die man auch nicht ohne eigene Hilfe verlassen konnte. Man konnte auf den Grat nicht alleine runter, sondern der Bauer, dem die Hütte gehörte, musste einen selber mit zwei Mann jeweils das Essen heraufbringen und auch selber einen runterleiten. Das war doch erstaunlich, wie sich da plötzlich die Welt zu einem metaphysischen Echoraum weitete. Man saß oben, sah die Sterne, die natürlich wiederum nur ein Bild des Urrauschens, des weißen Rauschens, des kosmischen Rauschens manifestierten – man kann ja nicht stumpfsinnig sehen, sondern man muss es immer assoziieren mit anderen Wahrnehmungen. Und erlebte dann, wie sich der Sinn für die Wahrnehmung des fernab sich Ereignen als vermutete Wahrnehmung, also etwa das Weltenecho ergab. Ich hab nachts tatsächlich auf dieser Hütte Echos aus dem Weltall empfangen und immer kontrolliert, ob das Halluzinationen oder Wahngebilde waren, sie trennscharf von der ganz nah gewordenen Wahrnehmung von Mäusen, Rehen und anderem Zeug , in der Regel gab’s da die Gamsbock’n, isoliert. Das ist natürlich das Großartige: Wir leben nicht in der Welt als einer sichtbaren Einheit, sondern als in einer Hörbaren, in einem Echo gebenden Raum. Und alles, was uns wirklich auf anderes vermittelt, ist das Echo, das wir zurückerhalten. Wir schreien vor Verzweiflung oder aus Angst oder in Freude etc. und erwarten das Echo. Und das Echo erst ist das, was uns in der Welt orientiert. Und das ist Metaphysik.