Magazin FILM 9/1965
Eine deutsche Filmzeitschrift
Eine deutsche Filmzeitschrift
Seite 46 im Original
Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt
Mit Selbstverstand lasse ich mich sehen in einem Eckladen Sophienstr./Weingarten zu Frankfurt: zwei große Schaufenster, der Boden des Lokals erhöht um einen halben Meter, Tisch, Schreibmaschine, Papier, Bücher, Klosett, Kochgelegenheit: Maniac at work, ein Schriftsteller bei der Arbeit. Die Passanten bleiben stehen, verwundert, aber beginnen, ihrem Eindruck zu vertrauen. So also werden „das Gedicht“, „der Roman“, der „sehr schöne Artikel“ geschrieben, nicht hinter der vorgehaltenen Hand, ganz ohne Gardinen im Strudel der bedingten Produktion neben Lebensmittelladen und Bäckerei, zwischen Tachometerwerk und Baugrube. Ich schlafe da, gehe auf den Topf, esse und schneide Nägel, schreibe, rede und bereite Material auf. Ein Ehepaar wagt sich herein, und während die Linie I zum erneuten Rennen durch die Stadt Richtung Stadion ansetzt, diskutieren wir einen Kapitelanfang zu dritt. Eine ältere Dame bittet um Auskunft zu einem Artikel von Jens in der „Zeit“, ein Student fordert Aufklärung, wieso Freud den Animismus als Autarkieerklärung des Menschen interpretieren kann, auch Wahlhilfen werden verlangt, Kindererziehung wird besprochen, Einspruch gegen einen Zahlungsbefehl eingelegt und ins Kino gegangen: „Machen Sie mich am einzelnen Bilde auf Ihre Theorien aufmerksam“!
Nun, was ist das? Ist das direkte Aktion ohne Strategie? Wille zum Wirken? Ein frivoler Blick ins Boudoir? Nacktheit der Götter?
Vor allem: Aufhebung des Rituals schöpferischer Arbeit und ihrer Tabuierung. Die proklamierte Abschaffung der Sphäre meiner Privatheit scheint mir zu gelingen, die Befreiung aus dem Unmut – wie in der Aufforderung des Arztes „Machen Sie sich bitte frei“. Festlich entkleidet des eigenen Umstandes, der Affektionen des Ich, die doch Krankheiten sind. Es ist die Konstituierung meines öffentlichen Sinnes. Der normale Politiker beharrt auf der nichtssagenden Geste: dem sicheren und vertraulichen Gespräch über den nachbarlichen Gartenzaun: der Volkskanzler bei seinen lieben Arbeitern des Hüttenwerks, der Schriftsteller bei seinen treuen Lesern im Altersheim. Na gut, er und sie, Heit und Keit, aber das bleibt nur ein Stück Leben zu Ausstellungszwecken, das private Paradiesgärtlein, der organisierte Himmel der Persönlichkeiten. Jedoch, ihnen fehlt entscheidend die Kanzel des Allgemeinen: wie z. B. die Badewanne Marats, das Schindeldach eines Bauernhauses, von welchem Saint Just zu sprechen pflegte, das blaue Papier Friedrich Sieburgs, das Bett der Dame Sittwell, der Kittel Benns oder eben mein Kopfstand in jener öffentlichen Stube.
Dieser neuerliche Versuch, mich gemein zu machen, zum allgemeinen Besitz zu erweitern, gilt der Differenz zum Übrigen, zu „Allem“, zum schlechten Allgemeinen: zu Mode und Tod.
Die Ritualisierung des Privaten
Wo das Erschleichen der Übereinkunft von Subjekten mit sich selber als Nation, Staat, Publikum etc. offenbar wird, liegt gesellschaftliche Realität frei. Das Erschleichen äußert sich in Repressionen der Kultur, auch als individuelle im Zwang zum Akzeptieren seiner Rolle, im Verbot des Ausschlusses von dem, was dazugehört. In solchen Zwängen erscheint gesellschaftliche Realität. Solcher Zwänge inne zu werden nicht nur als Opfer, sondern als selber repressiver Charakter, dürfte zum Schwierigsten im Bereich der Künste, der Machwerke heute gehören. Die langen Haare der Knaben entlarven leichthin unsere Mitleute als Agenten gesellschaftlicher Repression. Die Äußerung „Hier haben Sie zwei Mark, damit Sie dem Friseur ein Trinkgeld geben können“, enthüllt sogleich jenes Maß an nicht notwendigem gesellschaftlichem Zwang, der Repression heißt Das immernoch sogenannte Kunstwerk als Entäußerung von oder gegen gesellschaftliche Repression einsehbar zu machen, hält viel schwerer. Einen Vorstoß dazu habe ich im FILM 8/65 im Hinblick auf den Materialbegriff des Action-Films gemacht, in FILM 7/65 im Hinblick auf den Begriff der Handlung als segmentierten Zeitablauf im Action-Film.
Jetzt will ich mich einem weiteren Moment gesellschaftlicher Repression, wie es im B-picture erscheint, auf die Spur machen und es stellen: der Ritualisierung, der Celebralisierung des Privaten als Mode und seiner „zeitlosen“, geschichtslosen Bewahrung im Tode, den man im Action gestorben sieht. Gesellschaftliche Repression ist begleitet vom Applaus ihrer Agenten, welche das Publikum ausmachen. Gesellschaftlich rezipierte Kunstwerke haben affirmativ zu sein, bejahend zu sein, um Applaus zu erhalten, d.h. die Zustimmung des Publikums zu seinem eigenen Begriff vom Kunstwerk. Der Applaus, die Bejahung, gilt sich selber, ist Bestätigung, sich nicht geirrt zu haben. Ist Ausdruck der erwarteten und auch eingetretenen Identifizierung des Werks durch den Künstler mit dem Publikum. Die Fixierung des Werkes in der Gesellschaft ist deren eschatologischer Zielpunkt, den erreicht zu haben die Versicherung abgibt, Gesellschaft sei nicht das Opfer des Werkes, sondern seine Intention, sein Endzustand. Und also sein Tod, denn die strenge Intentionalität der Gesellschaft führt in den Tod als der gewährleisteten Bewahrung ihrer selbst. Der strenge Ausdruck solcher Intentionalität ist die Mode. Weshalb der empirische Charakter, das Vollmitglied der Gesellschaft, schießt und tötet, wie weiter unten ausgeführt werden wird. Der Applaus gilt also dem Tod des Werkes.
Wer nicht applaudiert, gilt als ungesellig, als verneinend, weil er sich dem Ritual der Korrespondenz, dem Begräbnisakt entzieht. Jedes Ritual gilt aber nur als die Institutionalisierung des Privaten (seiner Angst, alleingelassen zu werden, seinen Wünschen, seiner Bedingtheit). Sie leistet eine momentane Aufhebung der gesellschaftlichen Unterschiede zum Zwecke ihrer Erklärung und Begründung; weshalb „das ganze Volk“ sich vereint „in der Andacht vor dem Kunstwerk“, um hinterher um so sicherer in die Vereinzelung der Interessen zurückzufallen und sich darin sicher zu fühlen. Das substantialisierte Interesse ist der Konsum, die Partizipation an der selbstgezeugten, durch eigene Arbeit reproduzierten Natur; wobei durch den Konsum notwendig Aufhebung der Privatheit, Selbstverzehr der Subjekte intendiert wird; um der Selbstaufhebung zu entgehen, flüchtet sie in den Tod als den Fortbestand des individuellen Lebens mit anderen Mitteln, in neuem Kleide: als Mode.
Die Zelebralisierung des Konsums ist die Mode, der scheinende Aufgang eines Allgemeinen, eines allen Vermittelten (des Todes), der den Individuen einen Teil ihres Lebens vorweglebt und abnimmt, seine Entscheidungen kanalisiert und beliebig oft reproduziert, was ihnen den Charakter der Allgemeinverbindlichkeit zuzusichern scheint. Wäre aber Mode tatsächlich Signum des konkret Allgemeinen und nicht nur ritualisierte Individualität, so könnte jenes Allgemeine regreßpflichtig gemacht werden, welcher Versuch „die Zeiten waren nun einmal so, deshalb ist das und das so geschehen“ lächerlich scheitert Denn das Allgemeine ist gerade die ausgehaltene Einzelheit, das durchgehaltene Besondere (das blaue Papier, die Badewanne, der Kopfstand), also das ganze Gegenteil von Mode.
So wird das Bestreben, unverwechselbare Individualität zu bewahren, zum Akt der Konformation, zum Tod. Das Unverwechselbare ist ja allem Modischen zu eigen und macht gleich, was sich entschieden zeigen wollte. Das Courrègekleid der „modischbewußten Frau“, die „Bücher der Einzelgänger“ sind eben die aller bewußten Einzelgänger, als welche sie Einzelgänger nicht länger sind. Die Mode ist der Tod des Einzelnen als Subjekt wie als Objekt gesellschaftlicher Interaktion (Begegnung). Die Mode als das Immergleiche des Immeranderen (des nur an anderen Erfahrbaren) wird zur inhaltlichen Bestimmung des Todes, den Karl Kraus als „letzten“ Schrei (le dernier crie = Mode) beschrieb.
Diesen Zusammenhang konkret werden zu lassen, ist das konstatierbare Wesen des Action-Films. Abstrakt, als Schein, läßt es sich auch im Tode der Monroe, in den Autobahnriten der amerikanischen Jugendlichen, den Kraterspielen der Japaner bedeuten, wobei der Unterschied etwa zu dem Werthertod und den nicht gesellschaftlich organisierten Todestrieben früherer Entwicklungsstufen erscheint: ihnen war der Tod noch metaphysische Kategorie, Glaubenszwang oder die aus sich entrollte Dynamik der reinen Tat. Da nach dem Tode die Erwartung auf Etwas stand, galt das Leben auf es hin. Sobald Gesellschaft das Leben des Einzelnen als in ihr erfüllt auffaßt, gilt der Tod als Bestätigung der Gesellschaft, als das ewige Leben unter Einschluß aller Wahrheiten, denen es nicht gelungen ist, die Gesellschaft abzuschaffen, worauf alle Wahrheit tendiert, um nicht am herrschenden Unheil teilzuhaben. Weil die Wahrheit geworden ist und werden wird, steht sie der Bewahrung der Gesellschaft als dem ganzen Leben entgegen. Die Bewahrung wirkt als Zwang, gegen den Kunst und Philosophie sich behaupten zu müssen glauben, ohne zu verstehen, inwieweit sie gerade dadurch reaktionär werden, weil sie neben den nach innergesellschaftlicher Rationalität ablaufenden Prozessen ein reines Unveränderliches als Sein behaupten. Diese Kunst und Philosophie werden so zur Mode.
Der Tod kann nicht mehr als Einspruch gegen die selbstgegründete Rationalität verstanden werden, sondern nur noch als ihre Bestätigung und Fortsetzung. [Als] der als heutiger schon historische Tatbestand. Was ihn historisch macht, ist seine Wahrheit, die im Action-Film erscheint, denn nur in ihm erfährt man in dieser Gesellschaft noch etwas über den Tod.
Es gibt für die Wahrheit keine Möglichkeiten, außerhalb der von der Gesellschaft angebotenen Formen zu erscheinen. Ganz im Gegensatz zu der üblichen Auffassung, daß die Gesellschaft die Wahrheit hinter der Fassade zu verbergen suche, um sie nicht wahr sein zu lassen, läßt sie sie aus eben demselben Grunde überall schamlos zu als Unterhaltung.
Den Zuschnitt der Wahrheit aufs gesellschaftliche Subjekt kann man als Unterhaltung definieren. So kann sehr gut der Tod im Kino unterhalten. Leider kann nicht jedem die Unterhaltung auf die Weise verdorben werden, wie mir Anfang August:
verabredet mit Peter Iden saß ich im MGM. Gegen 15 Uhr sahen wir Nero übers brennende Rom blicken, überwältigt vom Charisma des originären Künstlers, als welcher er sich durch die Vernichtung Roms zu betätigen suchte. Größer als Homer, wahrer als die Vermittlung ist die Wirklichkeit, sagte Nero, wie jeder unreflektierte Künstler, und ließ Rom brennen, um es „künstlerisch zu bewältigen“. Die Wirklichkeit hat ästhetisch eben nur in ihrer Vernichtung und Aufhebung etwas zu bieten, weshalb viele schlechte Künstler bis hin zu Hitler immer wieder in die Politik flüchten als der Möglichkeit, die Realität, Vernünftigkeit zu vernichten um der Schönheit willen. Die Weisen haben’s gewußt und die Oberlehrer [gebeten], deshalb die „Künstler“ von der Politik auszuschließen. Denn es ist ein Irrtum, anzunehmen, die Politik sei als einzige noch Sphäre des unvermittelten Eingreifens in die Wirklichkeit, weshalb grobschlächtige Gemüter es in ihr so weit brächten. Als nun Nero es bis zum Kunstwerk gebracht hatte und gegen 15 Uhr aufs brennende Rom sah, wo die 21 000 Einwohner des Stadtzentrums sich anschickten, aus Gründen der „Wirklichen Kunst“ mitsamt ihrer Stadt eine modische Veränderung zu erfahren und somit starben, wir aber von ihrem mannigfachen Tode unterhalten wurden, setzte die Projektion aus (der Ton lief weiter) und nach schwarzen Sekunden lasen wir zum Originalton von QUO VADIS: „Herr Iden bitte sofort melden, der Vater ihrer Frau ist gestorben“.
Die Lückenlosigkeit des Ablaufs von Film und Realität war unterbrochen. Was wir eben noch als bloße Einübung der Riten verstanden und mitvollzogen hatten als Zuschauer im Kino, forderte von uns eine peinlich genaue Wiederholung unseres Lebens als Film, in welchem der konkrete Tod ebenfalls nur Moment eines ableitbaren, anschaubaren Handlungsverlaufs sein durfte. Doch wir als Kriegskinder hielten das Spiel noch nicht durch, wie es vielleicht schon bald den Jüngeren virtuos und perfekt gelingen wird. Wir waren kleinmütig gebannt vor der Schlagzeile am Kiosk, die des Tags von Hiroshima gedachte: noch einmal drehte sich der Heckschütze der B-29 Enola Gay, der Sergeant Georg C. Carson, nach der Stadt um. „Holy Moses, what a mess“, hatte er gesagt, dieweil Nero: „Beim Jupiter, was für ein Kunstwerk habe ich geschaffen!“ Da wir indes nicht mehr auf dem Kunstwerk bestehen, verzichten wir auch auf die Realisierung des letztmöglichen Kunstwerks gutbürgerlicher Art: den Weltuntergang: statt der großen Häufungen von Kapital und Vernichtung die schöne Kontinuität von Moden und Toden.
Die Fortsetzung „Der empirische Charakter schießt“ folgt im FILM 10/65.
Buch · Erschienen: 1976 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Fohrbeck, Karla
Buch · Erschienen: 1976 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Fohrbeck, Karla