Zeitung Die Tagespost

Erschienen
12.04.2024

Erscheinungsort
Würzburg, Deutschland

Die Deutschen: Weltgeltung nur noch im Wolkenkuckucksheim

Interview: Ute Cohen

Herr Brock, kürzlich habe ich den Titel Ihres neuen Buchs einem Kollegen gegenüber erwähnt und damit blankes Entsetzen ausgelöst. Ist das ein gutes Zeichen, dass Sie noch zu schockieren vermögen?

Ja, vielleicht zeigt es an, dass wir jetzt erst eine Chance hätten, das Problem der deutschen Identität überhaupt sinnvoll zu diskutieren. Bisher waren die Überlegungen „Was ist des Deutschen Vaterland?“ „Was ist des Deutschen Charakter?“ überformt von fürchterlichen ideologischen Blähungen. Jetzt könnte man im europäischen Kontext genötigt sein, das zu ändern und dann zu einer besseren Verständnis zu kommen, als das bisher der Fall war.

„Eine schwere Entdeutschung“, so der Titel, ist das eine Feststellung oder ein Appell?

Beides. Es ist eine Feststellung in dem Sinne, dass von Goethe bis zu Thomas Mann über den Hauptakteur Friedrich Nietzsche das Programm der Entdeutschung immer wieder zum Thema gemacht worden ist und in allen Facetten bearbeitet wurde. Es ist eine Forderung, sich gegen die historische Inbesitznahme von kultureller Identität durch die totalitären faschistischen Regime zu wehren. Das heißt, man müsste jetzt in der Lage sein, unter europäischen Gesichtspunkten die Herausbildung einer kulturellen Identität ganz anders zu verstehen als bisher.

Die erste Reaktion beim Nennen des Titels lautet: Geht's da um den großen Austausch? Verstehen Sie Entdeutschung als Abschaffung des Deutschen oder als einen Reinigungsfeldzug gegenüber fehlgeleitetem Deutschsein?

Das zweite ist der entscheidende Punkt, Die meisten Menschen haben nicht verstanden, dass 1945 nicht die Verabschiedung der Programmatiken kultureller Identität, wie sie das Dritte Reich bewirtschaftete, stattgefunden hat, sondern eine Verlagerung. Die Suprematie, die Vorherrschaftsfantasien des Deutschtums gegenüber den Russen, Polen, gegenüber den östlichen und südlichen Ländern war nicht mehr durchhaltbar. Aus der Forderung „Wir bestimmen die kulturelle Identität aller anderen“ wird „Wir sorgen für alle anderen“. Der jetzige bundesrepublikanische Deutsche sagt: Wir sind ein unermesslich reiches Land, wir sind die einzigen, die korrigieren, was die anderen versiebt haben. Das Überlegenheitsgefühl des Nationalsozialismus zeigt sich heute darin, dass wir als Lehr- und Zahlmeister für alle anderen gelten wollen.

Wohnt dem Entdeutschen der Anfang eines neuen Deutschseins inne oder der Universalismus?

Es geht auf den Universalismus zurück. Deutschsein heißt Menschsein. Die Irreleitung der wagnerianischen, wilhelminischen und hitlerschen Politik gilt es zu korrigieren. Deutschsein hatte sich ursprünglich ja nicht auf reale Machtausübung gestützt, sondern auf geistige und intellektuelle Fähigkeiten. Die Weltgeltung durch Musik, Philosophie, Literatur und das humboldtsche Universitätskonzept fand als Ideenausübung statt – im Wolkenkuckucksheim, mit Heinrich Heine gesprochen.

Sie ziehen einen „Anschluss an das vorwagnerianische und vorwilhelminische Deutschland in all seinen kulturell-religiösen, künstlerisch-wissenschaftlichen, politischen und sozialen Potenzialen“ in Erwägung. Wie darf man sich das vorstellen?

Indem man zur Kenntnis nimmt, was Goethe, Nietzsche oder Thomas Mann zur Entfaltung von intellektuellen Kräften der Deutschen gesagt haben: Durch Lernen von denen, die das Desaster der permanenten Selbstzerstörung Deutschlands vorausgesehen und erkannt haben. Man kann von ihnen lernen, dass das Deutschsein auf den Positionen der humanistischen Tradition gründet und dass man den Naturgesetzen und der Entstehungsgeschichte des Menschengeschlechts zu entsprechen hat. Das kommt einem Widerruf des 20. Jahrhundert gleich, in dem die Deutschen als „Weltmacht“ zu triumphieren versuchten.

Besteht nicht die Gefahr, dass der „Widerruf des 20. Jahrhunderts“ gerade das Auslöschen des historischen Bewusstseins befördert? Wie kann man dem entgegentreten?

Durch Kenntnisse der Geschichte. Das aber ist das Problem, dass die Schulen dieser Aufgabe nicht gewachsen und die bürgerlichen Familien nicht mehr darauf vorbereitet sind. Der Begriff des Fortschritts muss neu gedacht werden: Fortschritt ist nicht das Verlassen aller Positionen zugunsten von Neuem, sondern die Anerkennung der Gesetze, die für alle gelten: der Naturgesetze. Wenn wir heute eine Klimakatastrophe haben, dann heißt das, die Menschen haben diese Gesetze nicht anerkannt, sondern sich großmäulig darüber hinweggesetzt.

Ist der Geschichtszyklus verdammt zur Wiederkehr des ewig Gleichen?

Verdammt sollte man das nicht nennen. Wir müssen die Wirkung der Gesetze der Natur besser verstehen. Das ist das Ziel aller Naturwissenschaft. Das ist die große Tröstung der Menschheit. Es gibt das ganz fantastische Unveränderliche, Unabdingbare, Absolute in Gestalt der Naturgesetze.

Und die Kulturwissenschaften?

Die Kulturwissenschaften lernen zu verstehen, warum die mächtigsten Großreiche aller Zeiten – wie die der Ägypter, der Perser, der Chinesen, der Römer, der Briten – zugrunde gingen, obwohl sie ja als Mächtigste über alle Gegner hätten triumphieren müssen. Daraus haben wir für die unmittelbare Zukunft Europas zu lernen.

Augustinus bestand auf der Möglichkeit des immer erneuten Beginnens: initium ut esset, creatus est homo (Der Mensch wurde erschaffen, damit ein immer erneutes Anfangen möglich ist). Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Man darf die Hoffnung nicht verlieren, dass sich der Weltlauf nicht in der Ziellosigkeit erschöpft. Wir müssen hoffen können, uns auf einen „Sinn im Sinnlosen“ zu einigen, indem wir z. B. die blutige Auslöschungskonkurrenz der Individuen, der Völker und der Unternehmen in eine alle Kräfte potenzierende Kooperation überführen.

Wenn das Christentum geprägt ist durch die Hoffnung auf Wandel, wie deuten Sie dann heutige religionskritische Vorbehalte?

Die christliche Religion ist weltweit in eine schwierige Situation gestürzt worden, weil alle Welt sie mit dem Kolonialismus verbindet. Die großen Kolonialisten des 15. bis 20. Jahrhunderts agierten im Zeichen des Kreuzes, deshalb sei die christliche Religion nichts anderes als die Ideologie des Kolonialismus und Ausdruck der Unterwerfungsstrategien des Westens gegenüber dem Rest der Welt. Die Mission, die die Kirche zu erfüllen hätte, wäre es, zu sagen: Das Christentum hat mit dieser Art von Begründung von Machtverhältnissen nichts zu tun, sondern im Gegenteil: Christliche Theologien begründen eine völlig neue Möglichkeit, vernünftig von Gott zu sprechen, weil für Christen Gott eben Mensch geworden ist – anstatt wie üblich die Vergöttlichung des Menschen zum Programm zu erheben. Allein wenn Gott Mensch geworden ist, können wir als Menschen vernünftig von Gott reden.

Ist dafür aber nicht eine andere als die jetzt übliche Lebenshaltung in Passivität, also eine vita activa nötig? Wie können wir der hinnehmenden Passivität, dem Zombietum, etwas entgegensetzen?

Der Konsument ist der Zombie. Er glaubt, er könne sein Wünschen und Wollen als alleinige Ursache für die Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit von Dingen verantwortlich machen. Wer weiß, welche Bedingungen ein vernünftiges Leben ermöglichen, durch „Vernunft in Ackerbau und Viehzucht“ zum Beispiel, der kann erst ein Bewusstsein für Geschichte entwickeln.

Kinder verkörpern den Neubeginn und die Fortsetzung. Derzeit werden sie oft indoktriniert mit den Parolen der Erwachsenen: Free-Palestine-Parolen zum Beispiel. Dürfen wir auf eine Gegenbewegung hoffen?

Kinder wurden zu allen Zeiten zur Arbeit gezwungen und ausgebeutet, auch indoktriniert. Dagegen wurden analog zum Naturschutz Maßnahmen des Menschenschutzes gesetzt, unter anderem Kinderschutzgesetze. Man vergisst allzu schnell, dass das Fehlverhalten der „Erwachsenen“ gerade aus dem Missbrauch oder der Fehlleitung der Kinder resultiert.

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