Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 566 im Original

Band IV.Teil 1.5 Lebensspiele, Lebensinszenierungen

– Die Spielkonzeption der Psychosynthese (Überlegungen zu einer spezifischen Form von Humanexperimenten)

Katalogbeitrag der Ausstellung 'Spiele' des Hamburger Kunsthauses, 1971. Der Aufsatz ist grundlegend auch für die Inszenierungsarbeiten Brocks im Bereich 'Ästhetik der Alltagswelt' (vgl. Band III), insbesondere für die Konzepte 'Psychosynthese' und Sozio-Design'.

Zu unterscheiden sind bisher sechs Argumentationszusammenhänge, in denen durchgängig 'Spiel' begriffen wird:

  1. der pädagogische,
  2. der kunsttheoretische,
  3. der soziologische,
  4. der sozialpsychologische,
  5. der tiefenpsychologische,
  6. der anthropologische.

Darüber hinaus gibt es das umgangssprachliche 'Spielen', das als metasprachliche Kommunikation den Begriff in nichtverbalen Sprachen entfaltet.

5.1 Kinderspiel (1. SK)

Die erste Spielkonzeption (= SK) versteht Spiel als Vorfeld des Nichtspiels. Spiel und Nichtspiel sind nur durch ihren Modus der Erscheinung unterscheidbar. Nichtspiel ist der Ernstfall des Erwachsenenlebens, auf den Spiel vorbereitet - in den Spiel einübt. Spiel ist Sozialisationstechnik.
Spielend erwerben Kinder, was sie zur Bewältigung des ganz und gar nicht spielerischen Ernstfalls an Fähigkeiten und Kenntnissen unbedingt benötigen.
Achtung: auch das ursprüngliche Sandkastenspiel der Generalstäbler gehört in diese SK, weil so gelernt werden sollte, wie man es im Ernstfall richtig macht. Denn:
Spiel ist Ernstfall auf Probe, der virtuelle Ernstfall. Wollte man das 'Versuch- und Irrtums‘-Vorgehen in jedem Falle auf der Ebene des gegebenen Ernstfalles betreiben, so käme das teuer zu stehen.
Verständlich ist, daß dieses Spielkonzept langsam abgebaut wird, da man weiß, daß 'trial and error' ein wenig effektives Lernverhalten ist. Darüber hinaus ist natürlich kritisch zu bewerten, daß Spiel in dieser SK in jedem Fall schon auf einen vorgegebenen und feststehenden Ernstfall ausgerichtet ist. Denn der dem Spiel nachfolgende Ernstfall wird als unvermeidlich angesehen. Das Spiel bleibt so vollständig durch ihn bestimmt: das 'Kinderspiel' ist blutigster Ernst, der auch in der Bewertung als gesellschaftlich wichtige Tätigkeit eindeutig vor dem Spiel rangiert.

5.2 Spiele der Götter (2. SK)

"Den Spielenden erheitern, erfreuen, verzaubern und ermutigen" soll das Spiel der zweiten SK zufolge. Spiel ist hier punktuelle Verwirklichung freier, autonomer, uneingeschränkter menschlicher Selbstentäußerung, die als Überwindung aller historischen Formen der Selbstentäußerung des Menschen in Gestalt von Arbeit angesehen wird. Spiel widerspricht der Arbeit oder Kunst, widerspricht dem Geschäft, denn künstlerische Tätigkeit wird als beispielhaft für diese Form des Spiels angesehen: ziellos, absichtslos, selbstbegründet, eine eigentliche Form menschlicher Tätigkeit - was nicht ausschließt, daß aus solchem spielerischen Handeln dann ernsthafte und absichtsvoll zu gebrauchende Resultate hervorgehen.
Die Beschränktheit dieser SK liegt darin, daß Spiel zur anderen Welt stilisiert wird, zur Gegenwelt, deren Bedingungen außerhalb der realen Lebenssphäre liegen sollen. Das Auftauchen aus der spielerischen Versenkung ist schmerzvoll und wird demzufolge vermieden. Die kunsttheoretische Spielideologie geht dem Problem mit dem Hinweis auf die ohnehin notwendige Arbeitsteiligkeit produktiver Prozesse aus dem Wege: den genialen Idioten muß das Resultat ihres intentionslosen Spiels aus der Hand genommen werden, um es gesellschaftlich nutzbar zu machen.
So wurde aus dem Drachensteigespiel in China die Technik abgeleitet, Fluß- und Gebirgstäler mit Brückenleinen zu überspannen. So spielte der Zeichner der Donald Duck-comics mit dem Gedanken, gesunkene Schiffe zu heben, indem man ihnen Pingpongbälle in den Rumpf pustet. Inzwischen wird dieses Verfahren mit allem ökonomischen Ernst angewandt.
Neuerdings versucht man, die nachträgliche Prüfung der Brauchbarkeit der Resultate spielerischen Handelns zu vermeiden, indem die spielerische Selbstentäußerung geplant wird. Die Bedingungen der Planbarkeit des schöpferischen Spiels werden von der Kreativitätsforschung untersucht.

5.3 Spiele der Erwachsenen (3. SK)

Die dritte SK ist bekannt als Spieltheorie: ein Versuch, allgemeine Theorie des Handelns mathematisch ausdrücken zu können. Sie verbindet ihren Namen nur aus historischen Gründen mit dem Begriff 'Spiel', weil ihre Entstehung an die Untersuchung von Spielen als Handlungssystem geknüpft ist. Eingeschränkt wird der Geltungsanspruch dieser SK durch den von ihr selbst hervorgebrachten Widerspruch: einerseits erzwingt die genaue Kenntnis der Operationen eine Automatik der Prozesse (der Handelnde hat nur die Freiheit, nicht zu handeln), andererseits wird das Bedingungsgefüge der Handlungsabläufe erforscht, um Zielen entsprechend anders als bisher handeln zu können. Dieser Widerspruch ist nur austragbar, wenn sich die Ziele des Handelns ändern, worauf die Spieltheorie kaum einen Einfluß haben dürfte, wenn sie sich weiterhin hauptsächlich mit Handlungsstrategien als schnelleren, leichteren, billigeren Wegen zum vorgegebenen Ziel beschäftigt. Für die Existenz der Gattung Mensch hat aber diese SK bisher dennoch große Bedeutung erlangt: die Kalkulation des Spieleinsatzes, die Reflexion der Spielmittel verhinderten die Ausbildung der Zweck-Mittel-Relation von Herrschaft und Tötung. Seit mathematisch abstrahierbare Strategiespiele das Ergebnis erbrachten, ein atomarer Krieg werde nicht alle Menschen tatsächlich vernichten, ist der Versuch, durch Todesandrohung zu herrschen, kaum noch wirksam.

5.4 Theaterspielen für Jedermann (4. SK)

Die vierte SK entstand durch Übertragung der Bestimmungsgrößen eines gesellschaftlichen Handlungsfeldes (Theaterspielen) auf andere. In solcher Generalisierung haben sich allerdings die Bestimmungsgrößen weiterentwickelt, so daß heute Rolle, Rollenspiel, Rollenverhalten, Position usw. nicht mehr auf das ursprüngliche Feld Theaterspielen anwendbar sind. In dem Maße, wie man glaubte, generelle gesellschaftliche Handlungsformen mittels der Merkmalsbilder 'Theaterspielen' kennzeichnen zu können, gab das Theater diese Kennzeichnung auf. Was darin präjudiziert wird, daß gesellschaftliche Subjekte von Konstitutionsprinzipien des Bewußtseins und Handelns historischer dramatischer Personnage bestimmt werden, geht aus dieser SK nicht hevor, es sei denn, man wolle von vornherein vermuten, die SK solle nicht über den historischen Stand der Kenntnis hinausgehen, auf den Theater die gesellschaftlichen Lebensbedingungen zurückführte. Ist diese Annahme falsch, dann bleibt fraglich, wie man im Rollenspiel und Psychodrama die Rückwirkungen des Rollenspiels auf den Handelnden beurteilen muß: daß eindeutige Rückwirkungen erzielt werden, beweisen am schlagendsten die Untersuchungen zur einstellungskonträren Agitation. Wahrscheinlich wird die Willkürlichkeit des Handelns noch erhöht, wenn sich gleichsam im Rollenspiel alle immanenten Bedingungen von Handeln aufheben lassen bzw. wenn eingesehen werden muß, daß die Bedingungen des Handelns für alle gleich sind, wo sie doch objektiv nicht gleich sind. Die erfolgversprechende Ungleichheit oder Irrationalität des Handelns wird im Psychodrama geradezu provoziert.
Es sollte nicht übersehen werden, daß Rollenspiel und Psychodrama sich wesentlich nur durch den Komplexitätsgrad der Handlungsabläufe unterscheiden, denen die Spielenden unterworfen werden. Rollenspiel ist weitgehend actor-bestimmt, auch in der wechselseitigen Bestimmung der Aktoren durch ihr Rollenspiel. Das actions-bestimmte Psychodrama läßt den Handelnden zu nur einem unter vielen Momenten des Handlungsfeldes werden.
Therapeutisch eingesetzt, sollen Rollenspiel und Psychodrama die Entfernung des Patienten von sich selbst und seinem Anteil an der konfliktbedingenden Situation ermöglichen. Selbstentfremdung aber ist eine äußerst problematische Objektivationsleistung des Spielenden, geht es doch nicht darum, für mich selbst ein anderer zu sein, sondern mich als einen anderen für andere zu setzen, was auf Objektivation als Selbstentäußerung zielt, die allerdings bisher bestenfalls (wenn überhaupt) im Spiel als künstlerischer Hevorbringung möglich ist. Offensichtlich wurde Theaterspielen einstmals als ein solches Kunststück betrachtet.

5.5 Spiele ohne Handlung (5. SK)

Die Tiefenpsychologie hat sich mit Recht der vierten SK nicht angeschlossen. Sie faßt die Hervorbringungs- und Erscheinungsweisen aktueller Lebensäußerungen eines Patienten als Spiel auf. Spiele sind aktuell produzierte Pseudohandlungen, mit denen der neurotisch Verstellte versucht, einen von ihm unkontrollierbaren, ihm Angst machenden Äußerungszwang zu überspielen. Er spielt gleichsam immerfort sein nächstliegendes, eingängigstes, besttrainiertes Stück, um nicht das Stück spielen zu müssen, das einem nicht von ihm stammenden Plane nach auf die Bühne geholt werden soll. Der Neurotiker erschöpft seine Aktions- und Äußerungsfähigkeit in der Produktion von Pseudohandlungen, um schon 'besetzt' zu sein, wenn sich andere Ansprüche durchzusetzen versuchen. Der Neurotiker bewegt sich gerade auf der Ebene der Pseudohandlungen des Spielens ständig an der Grenze totaler Erschöpftheit, denn nur so kann er verhindern, daß möglicherweise noch vorhandene Lebensenergie gegen ihn selbst angewandt wird. Er verbraucht seine Äußerungsfähigkeit, um nicht gezwungen werden zu können, etwas zu äußern, was "gegen ihn verwandt werden könnte". Die Verweigerung jeder Äußerung in der Depression verfolgt das gleiche Ziel auf umgekehrtem Weg.
Der Analytiker wird demnach zu versuchen haben, den Patienten aus seinem Spiel zu reißen, zu verhindern, daß die Äußerungsfähigkeit sich in der Produktion von Überspielungen erschöpft. Diese Überspielungen sind mehrschichtig in zweifacher Hinsicht: erstens, durch unendlich viele Wiederholungen des immer gleichen Spiels verschleißt das Material; es wird klischiert, um auch bei nur bruchstückhaftem Anspiel noch vertraut und bekannt zu wirken. Zweitens sind die Uberspielungen in Einzelszenen gegeneinander phasenverschoben, so daß nicht stets dieselben Pseudohandlungen dieselben Primäräußerungen, die nicht sichtbar werden sollen, überspielen. Die Schwierigkeit, das Spiel zu verstehen, das heißt, gegenüber dem Nichtspiel abzugrenzen, besteht darin, daß der Neurotiker Spielhandlungen über den aktuellen Anlaß fortführt und so die spätere Spielhandlung mit einer zufälligen Geschichte versieht, die kennenzulernen kaum möglich ist.

5.6 Spiele der Toten (6. SK)

Die sechste SK geht von der Bedeutung des Spiels für die Entfaltung der menschlichen Kultur aus, bzw. untersucht Formen ihrer Entfaltung als Spiele, die heute gespielt werden. Dabei werden Spiele verstanden als zur kindhaften Unterhaltung abgesunkene Tätigkeitsformen der erwachsenen Mitglieder historischer Gesellschaften - Formen, die entweder nicht mehr gebraucht oder nicht mehr verstanden werden.
Heutige Spiele sind also Zeugnisse der historisch überwundenen Entwicklungszustände von Gesellschaften: das Fußballspiel war ursprünglich der Kampf um den Sonnenball zwischen zwei verfeindeten Bruderparteien. Das Erklimmen eines Mastes war Bestandteil der Eroberung des Himmels. Drachensteigenlassen galt im Fernen Osten als Sichtbarwerden der Seele, die dabei ihre Zugehörigkeit zu ihrem irdischen Besitzer mit einer Schnur anzeigen mußte. Wenn alles zum Spiel abfällt, kann das Spiel helfen, die primären Lebensformen der toten Menschheit zu rekonstruieren. Anhand der Materialisationen des geschichtlichen Prozesses, wie sie im Spiel vorliegen, kann die Anthropologie ihrer höchst anspruchsvollen Aufgabe einen Schritt näherkommen: Transformationsgesetze der menschlichen Erscheinungen zu formulieren, wo nur noch kümmerliche Reste ehemaliger Tradierungen der gestaltlosen Zeitverläufe in zeitlose Gestalten oder Strukturen, die Spiele, auffindbar sind. Spielend betreiben die Menschen die "Entstehung der Ewigkeit". Spiel ist die spätere Form, der Ursprung, der zuletzt noch sichtbar wird. Eine anthropologische Formulierung des phylogenetischen Grundgesetzes: "jedes zwecklose, freie, bedingungslose Spiel" wiederholt in sich die ganze Unerbittlichkeit zwanghafter, kümmerlicher, nie endender Überlebensanstrengung des historischen Menschen.

5.7 Musikspielen

In dem umgangssprachlichen 'Spielen' liegt keine Spielkonzeption, keine Festlegung einzuhaltender Bedeutungen auf bestimmten Verwendungszweck, da die Umgangssprache kein durchgängiges Wortsprachensystem ist. Der Anteil der nichtverbalen Sprachen an der Umgangssprache liegt bei etwa 60 Prozent. Zudem ist diese Wortsprache in der Umgangssprache höchst abstrakt, polifunktional, allgemein, vieldeutig.
Was 'Liebesspiel' als Bezeichnung für die Erweckung der Vorlust und was 'Musikspielen' als Bezeichnung für das Anhören von technisch konservierter Musik bedeuten, bleibt der Situation überlassen, in der diese Bezeichnungen verwandt werden. In solchen Situationen sind nichtverbale Sprachen leistungsfähiger als Wortsprachen, weil die Erfüllung der Situationsgegebenheiten als praktisches Tun verstanden wird, als leibhaft konkretes Agieren, das sich den beständigen, auch feinsten Konstellationsverschiebungen sofort anzupassen vermag (sei es auch nur durch Hinaufziehen einer Augenbraue oder durch Volldurchatmen). Der wortsprachliche Anteil an der Bedeutung von Spielen in der Umgangssprache läßt sich auf 'Tun, das nicht getan werden muß', festlegen.

5.8 Geschlossene und offene Handlungssysteme

Spielsystem

Allen hier aufgezählten Spielkonzeptionen ist eine Struktur des Spiels gemeinsam:
Spiele sind geschlossene und bedingte Handlungssysteme.
Geschlossen heißt: alle in diesem System Handeln reglementierenden Bedingungen sind bekannt oder werden als 'selbstverständlich' angesehen. Bedingt heißt: Regeln sind als Gesetzte zu verstehen. Setzung heißt: es hätte auch anders sein können, aber da es nun einmal so ist, soll das Gesetzte gelten, als wäre es nicht anders möglich. Setzungen, die sich nicht auf ihre eigene Geschichte berufen können und dadurch weitgehend ihren Setzungscharakter verloren haben, werden nur schwer anerkannt.
Das zeigt deutlich die Vergeblichkeit der Bemühungen, über Neusetzungen populäre Spiele zu erfinden: James-Bond-Spiele sind genauso gescheitert wie die vielen Strategiespiele vom Typ 'Monopoly'. Dem entspricht auf der anderen Seite der Dauererfolg bestimmter volkstümlicher Spiele, weshalb man glauben könnte, diese Spiele (etwa Menschärgeredichnicht) kämen einer besonderen Disposition der Spielenden entgegen. Umgekehrt ist es richtiger: Positive Setzungen und auf sie kodierte Verhaltensweisen sind bis dato allemal mächtiger als zufällige Verhaltensweisen, die sich in positiven Setzungen darstellen sollen.

Nichtspiele wären demnach unbedingte und offene Handlungssysteme.

Offen heißt: über die in diesem System Handlung reglementierenden Bedingungen ist kaum etwas auszumachen, wodurch solches Handeln erklärbar und veränderbar oder widerrufbar würde. Es gibt keine Momente des Systems, in denen alle Bedingungen des Systems sichtbar würden. Unbedingt heißt: die Bedingungen sind nur schwer auf ihre Entstehung hin, auf ihren Ursprung hin zu untersuchen. Sie sind uneinheitlich, bruchstückhaft, willkürlich.

Zusammengefaßt ließe sich formulieren:

Spiele sind regelgeleitete, Nichtspiele sind zwangsgeleitete Bereiche menschlichen Handelns.
Als Handeln wird hier jede Daseinsäußerung eines Menschen verstanden, soweit dieser Äußerung eine Wirkung folgt, die von dem Handelnden selbst wahrgenommen werden könnte. Eine Handlung besteht aus einer Reihe solcher Daseinsäußerungen. Sind sie aufeinander bezogen, gegeneinander nicht gleichgültig, so unterliegt der Handlung eine Strategie. Vorgehensweisen, in denen Äußerungen aufeinander bezogen werden müssen oder können, heißen Regeln oder Zwänge, je nachdem, welchem System sie zugehören. Als Handlungsbereich oder Handlungssystem wird der Umfang eines Wirklichkeitssegments verstanden, in dem die Wirkungen einer Daseinsäußerung eines Menschen erfahren werden können. Zu nennen sind hier zwei wesentliche Bestimmungsgrößen für ein Handlungssystem:

das Regelgefüge (als Binnenstruktur) und

das Wirkungsfeld (als aus dem System hinausweisender Geltensumfang).

Den hier angedeuteten Spielkonzeptionen und den in ihnen vorkommenden konkreten Spielen kann je ein dominierender Handlungstyp zugeordnet werden. Die Kennzeichnung der Spiele in Relation auf eine spezielle Handlung könnte so aussehen:

Spiel als Pseudohandlung wie in der 5. SK
Spiel als Zufallshandlung wie in der 2. SK
Spiel als Probehandlung wie in der 1. SK
Spiel als Modellhandlung wie in der 4. SK
Spiel als Simulationshandlung wie in der 3. SK
Spiel als Rekonstruktionshandlung wie in der 6. SK

Ein Beispiel sei angeführt für die Möglichkeit, unter Verwendung des bisher Gesagten Spiele zu analysieren:

5.9 Die Simulationshandlung als Glücksspiel

Ausgangslange: jemandem ist unklar oder uneinsichtig, auf welche Weise einzelnen Gesellschaftsmitgliedern das soziale Attribut 'reich', anderen das soziale Attribut 'arm' zukommt, und zwar deshalb, weil bei 'reich' nicht gesagt wird: wie werde ich reich oder bleibe ich nicht länger arm. Die Attribute beziehen sich auf pure Zustände, die der Fragende insofern zu verändern sucht, als er seinerseits reich werden möchte.
Im Handlungssystem 'Glücksspiel' ist solche Beziehung der Attribute auf die Frage nach dem 'wie' des Reichtums problemlos möglich: 'reich' ist Handlungsresultat als Gewinn, 'arm' ist Handlungsresultat als Verlust.
Nimmt der Jemand diese Umsetzung an, tut er so, als ob dieser Lösungsvorschlag, diese Antwort auf seine Frage verbindlich sei, beginnt das Spiel als Simulationshandlung mit der Erklärung:
Gerade weil 'Gewinn-Reichtum' als Handlungsresultat verstanden wird, muß man handeln, um "Glück haben zu können". Man muß "sein Glück versuchen". So wird jeder Glücksspieler seine Beteiligung an einem Glücksspiel als Handlung verstehen, die ihn vom Nichthandelnden unterscheidet.
Dabei hat er keine Schwierigkeiten, auf der Ebene des Nichtspiels, des offenen, unbedingten Systems die gleichen Handlungsmuster zu vollziehen, allerdings mit dem durch die Differenz zwischen beiden Systemformen gegebenen Resultat, in gewisser starrer Schicksalserwartung dem entgegenzusehen, "was ohnehin kommt", "was einen trifft, wenn es einen treffen soll", wo man dem "vorbestimmten Weg nicht entgeht, was man auch immer tun mag".
Nur so läßt sich erklären, daß Glücksspieler (die sogenannten Systemspieler) mit einer Verbissenheit und Ausdauer das Unsinnigste wiederholen, und zwar über Jahre, die, auf andere Handlungen im offenen System angewandt, beträchtlichen Handlungserfolg bringen würden.
Daß solche Glücksspieler keine Schwierigkeiten haben, in beiden Handlungssystemen sich aufzuhalten mit so konträren Erwartungen (für sie selbst müßten das ja völlig unvereinbare sein), liegt in Sachverhalten, die sich in Sätzen wie "Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige" oder "Pech in der Liebe - Glück im Spiel" oder vice versa erschienen.
Zunächst ist natürlich der "Pech-also-Glück"-Satz ein Rationalisierungsangebot an den Verlierenden, dem zumindest Selbstbestrafung droht ("das Gewissen schlägt"). Darüber hinaus läßt sich exemplarisch aus ihm die Differenz zwischen den Auswirkungen von gleichen Handlungen in den unterschiedenen Systemen ablesen. Die Differenz liegt im Wirkungsfeld, im Umfang des Aktionsfeldes. Im Nichtspiel ist das Aktionsfeld bedeutend größer und die deshalb notwendig aufzubringende Anstrengung des zusammenhängenden Handelns auch. Wer dieser Anstrengung sich entziehen will, wird eben im Nichtspiel unzusammenhängend, also nicht strategisch handeln.
Da aber sehr viele lebensnotwendige Handlungsgewinne nicht auf der Glücksspielebene zu erhalten sind, z.B. Liebe, Tugend, Weisheit, Gesundheit usw., muß die Differenz beider Systemleistungen verschüttet werden: pathologisches Spielverhalten ist Konsequenz der Unfähigkeit des Handelnden, aus der Geschlossenheit des Spielsystems wieder auszusteigen. Er sieht auch die objektiven Nichtspielsituationen als Spiele an, wodurch er niemals in den Genuß des Handlungsgewinns kommt, den Glücksspiel nicht erbringt - oder es muß ein Tertium vorgegeben werden, durch welches der Unterschied praktisch wirkungslos gemacht werden kann. Das Tertium kann nur aus dem Glücksspielgewinn abgeleitet werden: aus dem Geld. Für den, der es als Tertium hat, wird das "ganze Leben ein Spiel" und Spielen zum Sinn des Lebens. So kann vermieden werden, überhaupt wieder in die Nichtspielbedingungen zurückzukehren: dazu hat DOSTOJEWSKI etliche, auch die heutigen Erscheinungsweisen dieses Problems treffende Überlegungen angestellt.
Daraus läßt sich abziehen:
Das geschlossene und bedingte Handlungssystem (Beispiel Glücksspiel) wird in dem Maße den Totalitätsanspruch des Spielenden auf alle Momente des Systems erfüllen, in welchem der Spieler sein Aktionsfeld einschränkt, wobei er zugleich strategisch immer optimaler vorgeht. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Handelnde nur glaubt, persönliche Züge (Äußerungen) zu machen, oder ob sie es tatsächlich auch sind. Auch zufällige Züge (Würfelzahl) haben einen 'strategischen' Zusammenhang (Handlung): nämlich die statistischen Gesetze.
Erst wenn Handlungssysteme des Typs Glücksspiel so umfangreich werden wie etwa das Zahlenlotto, wird der Zusammenhang der zufälligen Züge durch den Zusammenhang der persönlichen Züge modifiziert. Dann kann aus dem Glücksspiel ein Geschicklichkeitsspiel werden, ein Strategiespiel.
Das Glücksspiel ist die besondere Form eines geschlossenen und bedingten Handlungssystems, die Handlungen als Zusammenhang (der einzelnen Äußerungen des Handelnden) anstelle des Handelnden hervorbringt, wobei der Handelnde dennoch glauben kann, selber eine Handlungsstrategie zu haben. Glücksspiel als Simulationshandlung ist dieser Selbsthervorbringung der Handlungsstrategie wegen der Urtyp spieltheoretischer Untersuchungen gewesen, die als mathematische Modelle hier nicht vorgeführt zu werden brauchen.
Indessen, auch die neueren militärischen Sandkastenspiele sind Simulationshandlungen mit der deutlich sichtbaren Tendenz zum Einschleifen der Differenz zwischen Spielsystem 'Sandkasten' und dem offenen System 'Feldschlacht'. Auch hier wird der Totalitätsanspruch der Simulierenden gegenüber allen Bedingungen des Systems weitgehend erfüllt. Auch hier wird übers Tertium versucht, den Unterschied zwischen gleichen Handlungen in offenen und geschlossenen Handlungssystemen als unerheblich erscheinen zu lassen. In der Tat scheint nur das fehlende Geld eine Reihe von Militärs davon abzuhalten, auch in aller Form auf die Differenz der Systembestimmungen zu verzichten. Es wäre lohnend, historische Formen der Militärstrategie als pathologische Spielhandlungen zu untersuchen.

Auf ähnliche Weise lassen sich darstellen:
Wettkampfspiele als Modellhandlungen der 4. SK,
Gedulds- oder Frustrationsspiele als Pseudohandlungen der 5. SK,
Lernspiele als Probehandlungen der 1. SK
'Freizeitspiele' als Zufallshandlungen der 2. SK,
'Kinderspiele' als Rekonstruktionshandlungen der 6. SK.

5.10 Nicht-Spiele

Es soll kurz in einem Beispiel angedeutet werden, wie auch Nicht-Spiele auf diese Handlungstypen bezogen werden können:

Ein Kriminalist löst im nichtspielerischen Handlungsbereich einen 'Fall' durch Rekonstruktion der Tat und der die Tat als Tat kennzeichnenden Bestimmungen. Er rekonstruiert die Binnenstruktur des Handlungsfeldes, d.h. die Strategie des Täters. Die kriminalistische Rekonstruktionshandlung kann nur Erfolg haben, weil die Strategie durch die Bedingungen des offenen und unbedingten Handlungssystems festgelegt ist. 'Das Gesetz der Willkür' ist der Zwang - wo Zwänge herrschen, ist auch das Unbedingteste erfahrbar, das Vereinzeltste im Zusammenhang. Deshalb bringen es die meisten Täter nicht zur tatsächlichen Willkürlichkeit des Handelns, es sei denn, sie seien geistesgestört. Dann allerdings hätte nicht der Täter das Verbrechen begangen, sondern das Verbrechen wäre begangen worden: es gäbe keinen 'Fall' für Rekonstruktionshandlungen.
Andererseits fehlt den meisten Tätern die Fähigkeit, ein perfektes Verbrechen zu begehen (was allerdings nur eine durch Erfahrung gestützte Vermutung ist, weil das perfekte Verbrechen über sein Gelingen keine Auskunft gibt, gerade, wenn es gelingt). Darauf weist die Erfahrung hin: nur die entfaltetsten Persönlichkeiten von hoher Autonomie können überhaupt wünschen, perfekte Verbrechen zu begehen. Das perfekte Verbrechen ist die Tat eines 'Kriminellen' auf der Ebene des geschlossenen und bedingten Handlungssystems 'Spiel'. Der Mord als Zufallshandlung, der Mord also als schöne Kunst ausgeführt, ist nur aufzuklären, wenn der Verfolger des Täters nicht an Rekonstruktionshandlungen dächte, sondern zufällig auch Zufallshandlungen begeht. Ein Polizist ist nicht in der Lage, den zufälligen Zufall überhaupt als Voraussetzung für die Aufklärung zu verstehen, wie alle Kriminalstories ausführen; weshalb nur 'Spieler'-Privatdetektive erfolgreich zu arbeiten hoffen dürfen. Anstatt die Tat in Rekonstruktionshandlungen aufzuklären, begehen sie sie ihrerseits, wobei die Chance besteht, daß sich Konvergenz zwischen den beiden Zufallshandlungen ergibt.

Weitere Zuordnung von Pseudohandlung, Probehandlung, Simulationshandlung, Modellhandlung zu den Nicht-Spielen 'Spazierengehen, Reisen, Festefeiern, Arbeiten, Rummelplatzbesuchen usw.' sollten versucht werden.

5.11 Spielregeln

Die Resultate solcher Zuordnungen legen nahe:
Regelgesteuerte Handlungssysteme, also Spiele, erzwingen 'angemessene' Handlungsformen. Die Wahl des Spiels legt den Handlungstyp fest. Innerhalb eines Spieles kann er nicht gewechselt werden. In einem Wettkampfspiel kann die erzwungene Modellhandlung nicht durch z.B. eine Zufallshandlung der 'Freizeitspiele' ausgetauscht werden - ein Fußballspieler wäre wohl "die längste Zeit auf dem Platz", wenn er mitten im Wettkampfspiel seinen 'Launen' nachgeben würde, nur noch ziellos Körperwahrnehmung zu betreiben und das Match mit der Zufallshandlung 'Vergnügen am Spiel' weiterzuspielen.
Im Bereich der Nicht-Spiele, der offenen Handlungssysteme scheint es keine richtigen, angemessenen, vorgegebenen, optimalen, Handlungsgewinn garantierenden Handlungstypen zu geben. Zwischen zwangsgeleiteten Pseudohandlungen und zwangsgeleiteten Modellhandlungen besteht kein Unterschied, da es offensichtlich keine Zwänge unterschiedlicher Qualität gibt. Zwang ist Zwang, wenn nicht doch die unterschiedliche Dauer seiner Ausübung und Stärke als Qualität gesehen werden müssen. Das ist kaum möglich, wollte man nicht zynisch behaupten, daß nur die anhaltende und starke Leiderfahrung noch die Einheit der Person garantiert in Identität und Autonomie und Zusammenhang oder in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Für eine spekulative Theorie könnte die Begründung der transzendentalen Apperzeption als Einheit von Vorstellung, Wahrnehmung und Begriff im Leiden des erkennenden Subjekts einigen historischen Wert haben. Die meisten Menschen wird aber die Erkenntnis, daß sie leiden, kaum leidensfähiger machen. Sie werden solche Erkenntnis abweisen und als Verstümmelte Teile ihre Leidensfähigkeit so minimal halten wie möglich. Dem entspricht eine Praxis derer, die Leiden verhängen können. Sie zerschlagen, wo sie vorhanden war, die Einheit der Person, um rechtens behaupten zu können, die in ihrer sozialen und physischen Wahrnehmungsfähigkeit Zerstörten seien schmerzunempfindlich, 'tierisch roh'.
Auf diese Weise kann Zwang nicht inhaltlich verstanden werden. So kann nicht geklärt werden, welche Bedeutung die Zwangssteuerung für die Aufrechterhaltung der offenen und unbedingten Systeme hat. Einige Unterschiede zwischen dem regelgeleiteten Spiel und dem zwangsgeleiteten Nicht-Spiel lassen sich aber inhaltlich und qualitativ angeben:
da steht Widerrufbarkeit gegen Endgültigkeit,
Wiederholbarkeit gegen Einmaligkeit,
Veränderbarkeit gegen Versteinerung und
Verabredung gegen Befehl.

Der Unterschied zwischen Zwang und Regel als dem zwischen Willkür und Ordnung wird durch denjenigen vorgegeben, der dem einen oder anderen unterworfen ist; vorgegeben in seiner Fähigkeit zur Daseinsäußerung und in der Möglichkeit, deren Wirkungen zu verstehen. Die Wirkungen der Daseinsäußerungen zu verstehen, bedeutet, daß solche Handlungen etwas bewirken, was verstehbar ist. Menschen geben Daseinsäußerungen, sie handeln, um zu verstehen, und zwar das, was sie selber bewirken. Dieser Sachverhalt soll als das Herstellen von Notwendigkeit bezeichnet werden. Handeln ist Erzeugen von Notwendigkeit.

Demnach sind Spiele vor Nicht-Spielen dadurch ausgezeichnet, daß in ihnen schon ein erhebliches Maß an Notwendigkeit herrscht.

5.12 Spiel als Experiment

Nunmehr kann die Aufgabenstellung für diese Überlegung angegeben werden als Beantwortung der Fragen:
Welche Bedeutung kann einer Spielkonzeption bei der Entwicklung eines Vorstellungsmodells für notwendigkeitsgeleitete Handlungssysteme aus dem Nichtspielbereich zukommen? Ist 'Spielen' eine Form der Überführung von Zwang in Notwendigkeit? Läßt sich der Bereich realer Lebensbewältigung, das tägliche Nicht-Spiel, von seiner Zwangsläufigkeit befreien, wenn 'Spielen' zu einer Technik der Lebensbewältigung gemacht wird? Wie sollte Spiel konzipiert werden, um solchen Anforderungen zu genügen?

Offensichtlich ist, daß keine der bisher vorliegenden Spielkonzeptionen dazu hinreicht. Es kann auch nicht wünschenswert sein, einerseits Spiel als "zweckfreies, folgenloses, angstfreies Tun" oder als "wirklichkeitsunabhängige Verwirklichung der Phantasie", andererseits das reale Leben als "zweckgerichtetes, angstgetriebenes, folgenschweres Tun" zu kennzeichnen, wenn die Analyse der einfachsten Spiele ergibt, daß 'Zweckfreiheit, Angstfreiheit' usw. nicht im Entferntesten solche Spiele bestimmen.
Deshalb ist zu vermuten, daß weder der Umbau der nichtspielerischen Lebenssituation zu Spielvorlagen noch umgekehrt die Zerstörung der Hoffnung, Spiele seien alternative Handlungsmodelle, eine aussichtsreiche Neukonzipierung leisten können.
Dagegen abzusetzen sind die Beziehungsrelationen von Spiel und Nicht-Spiel, die als eigenständige Erscheinungsformen sozialer Tatbestände anzusehen sind. Zum Beispiel als soziologisches Experiment, als Humanexperiment in der besonderen Form eines Feldexperiments.
Feldexperimente verlaufen in natürlichem Milieu oder in der real schon vor dem Experiment bestehenden sozialen Umgebung. Dennoch kann der Versuchsleiter die Bedingungen variieren.
Die für die hier erörterten Versuche interessantesten Bedingungsveränderungen liegen zweifellos darin, daß der Versuchsleiter Begriffe, in denen er den Versuchsverlauf beschreibt, zu einem hypothetischen Konstrukt wandelt, oder der Versuchsleiter wird selber zum Bestandteil des Experiments, wodurch er die unhabhängigen Variablen (UV) des Experiments manipuliert. Die UV sind in allen Feldexperimenten sehr komplex, d.h. Manipulationen sind Kettenreaktionen, die sich aus der Veränderung kleinster einfachster Variablen ergeben. Aber dieser Wirkungsabläufe wegen ist das Feldexperiment so ergiebig: das Feldexperiment ist 'effekt-zentriert' und nicht 'bedingungszentriert'.
Es ist inzwischen eindeutig gezeigt worden, daß die Hypothesen des Versuchsleiters eine Determinante der Ergebnisse sind, die praktisch nicht eliminierbar ist. Deshalb kann das Experiment nur sinnvoll sein, wenn sein Resultat als Veränderung verstanden wird, die das Agieren des Versuchsleiters innerhalb des Experimentierfeldes bewirkt und von denen er auch selber betroffen wird. Solche Experimente können quasi nur als Selbstversuche vorgenommen werden. Spiel als Selbstexperiment kann auf Formen der UV-Manipulation zurückgreifen, die allgemein als Übertragungssituation bekannt sind, und zwar soweit es um eine institutionell und auf ihren Sinn hin abgesicherte Konstellation zwischen Experimentierenden geht.

5.13 Das Prinzip der nicht-identischen Übertragung in der Psychosynthese

Diese Konstellation ist die Übertragungssituation der Psychoanalyse. Sie umfaßt Patienten und Versuchsleiter, was im Entsprechungsbegriff 'Gegenübertragung' besonders betont wird.
In der herkömmlichen Analyse werden die unabhängigen Variablen = Äußerungen des Patienten durch deren Deutung vom Arzt verändert. Abhängige Variable ist das Selbstverständnis des Patienten.
Für den hier vorgetragenen Vorschlag ist es wichtig, die Ausgangslage der herkömmlichen Analyse zu erweitern.
Übertragung meint die beispielhafte Hervorbringung der den analytischen Fall ausmachenden Erscheinungen. Zumeist sind das Konflikte, die in der Beziehung des Patienten zu Menschen und Dingen auftreten (vergleiche 5. Spielkonzeption). Sie können vom Analytiker nur in ihrer aktuellen Darstellung erfahren werden, wenn der Patient sie beispielhaft im Verhältnis zu ihm herstellt. Die Personen- und Objektbeziehungen, die der Patient ausgebildet hat, werden auf die neue Beziehung (zum Analytiker) mechanistisch übertragen - ohne Rücksicht auf oder Einsicht in die Besonderheiten und Einmaligkeiten einer solchen Beziehung.
Mechanistisches Übertragen kann deutlicher als identisches Übertragen bezeichnet werden, aus der das tatsächliche originale Ereignis der neurotischen Verstellung rekonstruierbar ist.
Die Erweiterung, die hier vorgeschlagen wird, geht auf die Möglichkeit aus, nichtidentische Übertragung zu erreichen. Prinzipiell heißt das, sich nicht auf die Rekonstruktion des primären, sondern auf den Entwurf eines futurischen oder prospektiven Ereignisses auszurichten.
Psychotherapie, die sich auf das Hervorbringen von nicht-identischer Übertragung stützt, soll Psychosynthese genannt werden.
Synthese wird hier nicht als direkter Widerspruch zu Analyse verstanden, sondern leitet sich ab aus dem historischen Gebrauch von 'Synthesis': dessen, was die Einheit von Wahrnehmung und Vorstellung und Sprache garantiert, damit Erkenntnis überhaupt zustandekommen kann.
Erkenntnis ist nicht möglich, wo sich die Handlungen eines Subjekts nur auf Wahrnehmungen zurückführen. Erst die Verknüpfung von Vorstellung, Wahrnehmung und Sprache ist Erkenntnis, wobei für die Formen der Verknüpfung bestimmte Regeln gelten.
Von dieser Voraussetzung geht auch die Psychosynthese aus: das futurische oder prospektive Ereignis im Leben eines Menschen kann nur auf der Basis einer erwirkten und garantierten Einheit der Person in allen ihren Beziehungen zu anderen erreicht werden. Erst in solchen Beziehungen stellt sich die Einheit der Person her.
Wahrnehmung, Vorstellung und Begriff verweisen dabei auf Formen der Daseinsäußerung, die herkömmlich nicht in der Analyse erfaßt werden: die Gleichzeitigkeit einer Vielzahl von Person- und Objektbeziehungen in den Daseinsäußerungen, die zudem noch qualitativ unterschieden werden müssen, z.B. als wortsprachliche und nichtwortsprachliche.

5.14 Der Soziotop als offenes Handlungssystem

Wir kennzeichnen das Wirkungsfeld solcher Äußerungen wie oben angegeben als System. Die Zusammenfassung aller Systemmomente in eine Einheit der Beobachtung oder Erfahrung soll Systemtopos genannt werden. Bei dem hier dargestellten Charakter des Systems wird Systemtopos als Soziotop bezeichnet.

Der Soziotop ist ein Segment der Lebenswirklichkeit im Querschnitt. Das Segment wird begrenzt durch die Wirkungsweite einer Daseinsäußerung, d.h. durch die erfahrbare Veränderung vielfältig miteinander in Beziehung stehender Lebewesen und physikalisch/kultureller Objekte.
Die wortsprachliche oder körpersprachliche oder zeichensprachliche oder fremdsprachliche (imitiertes Sprechen ohne semantischen Gehalt) Erfahrung dieser Veränderung strukturiert den Soziotop zum 'Umweltraum'.
In der psychosynthetischen Konstellation wird jeweils ein komplexer Umweltraum als Soziotop synthetisiert in der Einheit von Sprachfeld, Handlungsbereich und Beziehungsgefüge.
Solche Synthetisierung kann sich nur zufällig auf Material der Lebenswirklichkeit verlassen, das in der Analyse historisch/genetisch gesichert werden konnte. Zufällig meint: die Interdependenz einer Mindestzahl von Komplexität der Umwelt garantierenden Faktoren wurde nicht erschlossen. Gerade aber auf diese Interdependenz kommt es, neueren Auffassungen zufolge, an.
Die sozialpsychologischen Untersuchungen von KILPATRICK (Transaktionismus), von BRUNER (Hypothesentheorie) und METZGER (Gestalttheorie der Beziehungssysteme) belegen solche Auffassungen für die Bedeutung der Interdependenz der Umweltfaktoren im Wahrnehmungsprozeß.

Summa: der Soziotop ist ein offenes und unbedingtes Handlungssystem, das synthetisiert wird. Ein wesentliches Mittel dazu ist die nicht-identische Übertragung, die den Soziotopen als Möglichkeitsbedingung für eine futurische oder prospektive Abweichung des Lebensentwurfs vom historisch/genetisch erschlossenen Material darstellt. Prospektive Lebensbewältigung kann nur in der Einheit von Vorstellung, Wahrnehmung und Begriff gelingen. Die analytische Erschließung könnte diese wesentliche Voraussetzung im günstigsten Fall nur auf nicht nutzbare Weise erfüllen: nämlich auf der Ebene der persönlichen Entwicklung des Patienten zur Zeit des Primärereignisses. Da dieser Zeitpunkt zumeist als in frühester Kindheit liegend angenommen wird, darf behauptet werden, daß Synthesis noch gar nicht ausgebildet war. Vielleicht könnte man annehmen, daß als Folge des Primärereignisses sie nicht hat ausgebildet werden können.

5.15 Lebensspiele als Setzungshandlung

Synthesis wird versucht in einem Selbstexperiment, das hier vorschlagsweise als Spiel bezeichnet wird. Dabei kann sich dieser Vorschlag auf Sprechweisen beziehen, welche die Einheit von Lebensform, Sprachgebrauch und Welterschließung als Sprachspiel einführt (WITTGENSTEIN). Unter Hinweis auf die hier getroffenen Erweiterungen soll von Lebensspiel gesprochen werden.

Wir erinnern: Spiel ist Setzungshandlung. Der Umfang des Setzungsgeltens ist das System, das durch den Setzungscharakter seiner Momente als bedingt und geschlossen bezeichnet wird. Lebensspiele wären also: experimentelle Setzung in prinzipiell offenen und unbedingten Handlungssystemen. Die synthetisierte Einheit der Setzung innerhalb des offenen Systems (hier also des sozialen Systems als Lebenswirklichkeit eines Menschen) ist der Soziotop. Die Setzungshandlung ist die Inszenierung, wobei deutlich auf das Prozeßmoment verwiesen wird, das zwar einerseits im Querschnitt stillgestellt wird, sich aber andererseits auch wieder äußert: wer einen Querschnitt durch die Handlungssysteme einer großen Zahl von Menschen legen würde, könnte aus der Differenz aller wieder einen einzigen aktuell ablaufenden Prozeß erkennen. Beispiel: man schaut auf eine Momentaufnahme eines erleuchteten Hochhauses, durch dessen Fenster man die im Hause befindlichen Menschen im Augenblick der Aufnahme beobachten kann. Die Summe aller Beobachtungen ergibt den Handlungszusammenhang, wenn angenommen wird, daß es sich bei den beobachteten Personen um immer dieselbe handelt, die in unterschiedlichsten Momenten ihres Handelns aufgenommen worden sei.
Es kann jetzt nicht vermutet werden, wie sich die einzelnen Formen der Daseinsäußerung durch ihre Begründung in Setzungen verändern: Verstehen und Regel, Handeln und Regel, soziale Lebensform und Regel. Ein erwartbarer Einwand sollte doch vorweggenommen werden: alles verstehen heiße, alles verzeihen. Was als 'notwendig' verstehbar sei, das wolle man nicht ändern. Nichts mehr zu wollen, sei aber das Gegenteil von Freiheit.
Dazu: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit zu bezeichnen, ist dann richtig, wenn tatsächlich Notwendigkeit erzeugt werden kann. Regelsetzung ist zwar von der Willkürsetzung als Zwang durch ein höheres Maß an Notwendigkeit ausgezeichnet, aber Regelrechtigkeit ist noch nicht Notwendigkeit. Notwendigkeit ist als Einsicht in Regeln oder als Beteiligung an ihrer Konstituierung und Wahl nicht hinreichend bestimmt. Es fehlte die Möglichkeit der Negation dieser Regeln und die Kennzeichnung der Folgen, die sich daraus ergeben, daß die Regeln negiert werden.
Was aber sind die Konsequenzen der Nichteinhaltung der Regeln für die Lebensspiele? Ist es die Zerstörung der Einheit von Wahrnehmen, Vorstellen und Begriff, die Zerstörung der Einheit von Lebensform, Sprachgebrauch und Welterschließung? Wenn das richtig wäre, dann müßte man die Geburt schon als Strafe verstehen, da Synthesis noch nicht geleistet wird. Es ist durchaus möglich, Macht als Setzungsmacht anzusehen. Dann wäre die Regelverletzung ein Versuch, Setzungsmacht zu zerschlagen. Liefert sich der Regelverletzende damit dem Zwang der Willkür aus, die sich anstelle der Regeln des geschlossenen Systems durchsetzen würde? Willkür wird aber als Strafe nicht empfunden, da sie im Gegenteil Zwang auszuüben ermöglicht.
Für die Lebensspiele ist Notwendigkeit als Selbstsetzung anzunehmen mit der behaupteten Negation von Fremdsetzung. Das ist möglich, weil soziale Korrespondenz im Lebensspiel nur teilweise über andere Teilsysteme, hauptsächlich aber über das Bezugssystem abläuft. Das aber ist die Selbstsetzung als 'Umweltraum', als produzierte Totalität eigener Daseinsäußerungen.
Lebensspiele sind widerrufbare, wiederholbare und veränderbare Lebensentwürfe, für die Voraussetzungen gelten sollen, die normalerweise in der realen Lebenssituation nicht gelten. Sie sind Eingrenzungen eines Lebensbereichs, in welchem die Lebensäußerungen als verstehbare Wirkungen hervorgebracht werden.
Entwurf und Realisation fallen zusammen! Autoren und Spieler sind identisch. Es gibt keine Zuschauer, da die Szene nur aus ihr selbst her verstehbar ist.

siehe auch: