Buch Ästhetik als Vermittlung

Arbeitsbiographie eines Generalisten

Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.
Ästhetik als Vermittlung, Bild: Umschlag.

Was können heute Künstler, Philosophen, Literaten und Wissenschaftler für ihre Mitmenschen leisten? Unbestritten können sie einzelne, für das Alltagsleben bedeutsame Erfindungen, Gedanken und Werke schaffen. Aber die Vielzahl dieser einzelnen bedeutsamen Werke stellt heute gerade ein entscheidendes Problem dar: Wie soll man mit der Vielzahl fertig werden?

Das Publikum verlangt zu Recht, daß man ihm nicht nur Einzelresultate vorsetzt, sondern beispielhaft vorführt, wie denn ein Einzelner noch den Anforderungen von Berufs- und Privatleben in so unterschiedlichen Problemstellungen wie Mode und Erziehung, Umweltgestaltung und Werbung, Tod und Geschichtsbewußtsein, Kunstgenuß und politischer Forderung gerecht werden kann, ohne als Subjekt, als Persönlichkeit hinter den Einzelproblemen zu verschwinden.

Bazon Brock gehört zu denjenigen, die nachhaltig versuchen, diesen Anspruch des Subjekts, den Anspruch der Persönlichkeit vor den angeblich so übermächtigen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen, historischen Entwicklungstendenzen in seinem Werk und seinem öffentlichen Wirken aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch auf Beispielhaftigkeit eines Einzelnen in Werk und Wirken ist nicht zu verwechseln mit narzißtischer Selbstbespiegelung. Denn:

  1. Auch objektives Wissen kann nur durch einzelne Subjekte vermittelt werden.
  2. Die integrative Kraft des exemplarischen Subjekts zeigt sich in der Fähigkeit, Lebensformen anzubieten, d.h. denkend und gestaltend den Anspruch des Subjekts auf einen Lebenszusammenhang durchzusetzen.

Die Bedeutung der Ästhetik für das Alltagsleben nimmt rapide zu. Wo früher Ästhetik eine Spezialdisziplin für Fachleute war, berufen sich heute selbst Kommunalpolitiker, Bürgerinitiativen, Kindergärtner und Zukunftsplaner auf Konzepte der Ästhetik. Deshalb sieht Bazon Brock das Hauptproblem der Ästhetik heute nicht mehr in der Entwicklung von ästhetischen Theorien, sondern in der fallweisen und problembezogenen Vermittlung ästhetischer Strategien. Diese Ästhetik des Alltagslebens will nicht mehr ‚Lehre von der Schönheit‘ sein, sondern will dazu anleiten, die Alltagswelt wahrnehmend zu erschließen. Eine solche Ästhetik zeigt, wie man an den Objekten der Alltagswelt und den über sie hergestellten menschlichen Beziehungen selber erschließen kann, was sonst nur in klugen Theorien der Wissenschaftler angeboten wird. Solche Ästhetik zielt bewußt auf Alternativen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensführung, indem sie für Alltagsprobleme wie Fassadengestaltung, Wohnen, Festefeiern, Museumsbesuch, Reisen, Modeverhalten, Essen, Medienkonsum und Bildungserwerb vielfältige Denk- und Handlungsanleitungen gibt. Damit wird auch die fatale Unterscheidung zwischen Hochkultur und Trivialkultur, zwischen Schöpfung und Arbeit überwunden.

Erschienen
1976

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Fohrbeck, Karla

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-0671-7

Umfang
XXXI, 1096 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Lw. (Pr. nicht mitget.)

Seite 458 im Original

Band III.Teil 2.2 Wohnen als Lernenvironment

– Sozio-Design als Anwendungstechnik

Die Ausstellung, auf die sich diese Abschnitte beziehen, wurde 1972/73 unter dem Titel ‚Mode – das inszenierte Leben‘ vom Internationalen Design-Zentrum, Berlin (Leitung Lucius BURCKHARD) veranstaltet. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit Matthias EBERLE, Berlin, der auch das audiovisuelle Programm mitverfaßte. Das Konzept und die übrigen, hier abgedruckten Textauszüge stammen von Bazon Brock. Abschnitt 1 hier entspricht dem Abschnitt e aus dem Katalog ‚Mode – das inszenierte Leben‘ des Internationalen Design-Zentrums, Berlin (IDZ pb 4,1972). Zu den Abschnitten a - d vgl. in diesem Band, Teil 1, 5. Die Lebensorganisation der drei Familien dieser Ausstellung diente Brock auch in seinem (hier nicht aufgeführten Film ‚Ästhetik in der Alltagswelt‘ (Sender Freies Berlin, 1973)) als Vorlage, den Aufbau spezialer Beziehungen über die Gegenstandswelt zu dokumentieren.

2.1 Aufbau des Lernenvironments

Für das vom Internationalen Design-Zentrum, Berlin, eingerichtete Lernenvironment galt es zunächst, eine eindeutige Gegenstandsebene als Ausgangspunkt festzulegen. Dabei haben wir uns auf den Gegenstandsbereich beschränkt, der auch umgangssprachlich als im wahrsten Sinne des Wortes modisch bezeichnet wird, also den Bereich der Bekleidung, Gebrauchsgegenstände, Wohnungseinrichtung. Da aber diese Gegenstände nicht in der Isolation auf ihren bloßen Materialcharakter untersucht werden können, sondern in ihrer Bedeutung für das Verhalten von Menschen, wurden jene modischen Gegenstände in die Rekonstruktion von sozialen Lebenssituationen eingebracht. Solche sozialen Lebenssituationen sind für das Lernenvironment beispielsweise das alltägliche Wohnen und Arbeiten und die Bewältigung eines außerordentlichen Ereignisses, wie es ein Fest darstellen sollte. Um die Aussagefähigkeit der rekonstruierten Lebensumgebungen zu garantieren, waren prinzipiell folgende Vorgehensweisen möglich:

1. Die realen Lebensumgebungen dreier Berliner Familien werden in den Ausstellungsraum geschafft. Das ist verständlicherweise schwierig, da es eine Zumutung bleibt, zum Zwecke einer Untersuchung als Demonstrationsobjekt benutzt zu werden. Allerdings hätte es eine Möglichkeit gegeben, reale Lebensumgebungen in die Ausstellung zu schaffen, siehe die Veranstaltung "'Wie werden wir leben können'?" (Bazon Brock) zur Jahrestagung des Bundes Deutscher Architekten 1967 in der Stadthalle Hannover. Wie damals wäre auch jetzt nur eine bestimmte Gruppe von Angehörigen unserer Gesellschaft bereit gewesen, sich und ihre Lebensumgebung ins Ausstellungsgelände transportieren zu lassen. 1967 in Hannover gelang es, die Wohnung des Redakteurs Werner Kliess auf der Bühne zu Demonstrationszwecken aufzubauen. Der Wert einer solchen Untersuchung hätte sich aber beträchtlich vermindert, wenn sie nur in den Lebensumgebungen von Angehörigen einer einzigen sozialen Gruppe geführt worden wäre. vgl. ‚Solange ich hier bin, stirbt keiner‘ (in Band IV, Teil 3.3).

2. Drei Berliner Familien aus den drei üblicherweise grob unterschiedenen sozialen Schichten unserer Gesellschaft, also die Familie eines Arbeiters, eines Redakteurs und eines Unternehmers, wären aufgefordert worden, mit einem angemessenen Geldbetrag nach ihren Wünschen und Vorstellungen beispielsweise eine Lebensumgebung vom Typ Wohnzimmer in Geschäften ihrer Wahl einzukaufen. Die von den drei Familien eingekauften Wohnzimmerbestandteile wären ins Ausstellungsgelände geschafft worden, um dort im Hinblick auf die Fragestellung untersucht zu werden. Diese Vorgehensweise entfiel aus Kostengründen.

3. Eine dritte Vorgehensweise hätte darin bestehen können, daß die Untersuchung in den Schaufensterauslagen von Möbel- und Oberbekleidungsgeschäften geführt worden wäre, indem man in diese zumeist ohnehin schon als komplette soziale Umgebungen inszenierten Auslagen durch Puppen demonstriertes Sozialverhalten eingebracht hätte. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, daß die Aussagen eben dort gemacht werden, wo die meisten Menschen mit den Veränderungsverpflichtungen konfrontiert werden, nämlich im Schaufenster eines Kaufladens. Zudem wären so viele 'window shoppers', die ansonsten kaum als Ausstellungsbesucher zu gewinnen wären, auf die Fragestellung der Untersuchung aufmerksam geworden. Es war daran gedacht, die Ausstellung in den Schaufenstern des dem Internationalen Design-Zentrum benachbarten Europa Center stattfinden zu lassen. Die geringe räumliche Tiefe der Schaufenster im Europa Center ließ den Aufbau solcher räumlich ausgedehnten Lebensumgebungen nicht zu.

4. So blieb die Möglichkeit, drei nach statistischen Durchschnittswerten für Angehörige der sozialen Schichten als typisch bestimmbare Einrichtungen von familiärem Wohnraum und Arbeitsplatz aus Möbelgeschäften auszuleihen und in diesen Lebensumgebungen nach eben solchen statistischen Durchschnittswerten bestimmte soziale Verhaltensweisen zu demonstrieren.

Die Untersuchung wird geführt durch den Vergleich der jeweils parallel ausgebildeten drei Wohn-, Arbeits- und Festsituationen. Es steht zu vermuten, daß jeder potentielle Ausstellungsbesucher in die Lage versetzt werden kann, den Unterschied des Sozialverhaltens in den neun speziellen sozialen Lebensumgebungen zu bemerken. Auch dürften ihm für diesen Unterschied einige Begründungen zur Verfügung stehen, beispielsweise, daß sich eben die Moden änderten oder daß jeder nun mal seinen eigenen Geschmack habe oder daß die Unterschiede sich durch die den einzelnen Familien zur Verfügung stehenden Mittel erklärten. Es wird den Besuchern nahezubringen sein, daß sich mit diesen Begründungen der problematische Sachverhalt nicht hinreichend bestimmen läßt. Die Begründung, die betroffenen Familien folgten eben einer modischen Tendenz, muß erweitert werden durch den Verweis auf die Bedeutung des sozialen Steuerungsmechanismus Mode für historische und gegenwärtige Gesellschaften: die Begründung, jeder habe nun mal seinen persönlichen Geschmack und richte demzufolge seine soziale Lebensumgebung ein, muß ergänzt werden durch den Hinweis auf das Bestimmungsverhältnis von materialen Bestandteilen einer sozialen Umgebung und dem sozialen Verhalten; die Begründung, die finanziellen Mittel bestimmten die Einrichtung der sozialen Lebensumgebung, muß mit den Beobachtungen konfrontiert werden, daß etwa Angehörige einer intakten Oberschicht sich kurzfristigen modischen Trendbildungen viel weniger unterwerfen als die Angehörigen anderer sozialer Schichten und daß beispielsweise bei vorausgesetzter Gleichheit der Mittel die Angehörigen ein und derselben sozialen Schicht dennoch unterschiedlich eingerichtete soziale Lebensumgebungen haben.

Eine zweite durchgehende Untersuchungsebene wird sich daran anschließen. Sie wird bestimmt von der anschaulich belegbaren Feststellung, daß die Angehörigen der unterschiedlichen sozialen Schichten auch in unterschiedlichem Maße den Steuerungsmechanismen kurz- oder langfristiger Orientierung unterworfen sind, und der Frage, warum das so sei. Dazu wird es notwendig sein, die prinzipiellen Funktionen von Mode für das soziale Leben von Menschen zu untersuchen und darzustellen. Hierzu liegen einige ausführliche wissenschaftliche Untersuchungen vor, mit deren Resultaten die Ausstellung den Besucher konfrontieren möchte.
Eine dritte, die Ausstellung durchziehende Thematisierung liegt in den Aussagen darüber, wie in konkreten Fällen sowohl langfristige wie kurzfristige Verhaltens- und Orientierungsmuster erworben werden und wie sie demzufolge veränderbar sind. Augenfällig, aber auch nachweisbar, ist der Zusammenhang zwischen sozialem Verhalten und den Lebensbedingungen der Einzelnen. Wer sich nicht damit begnügt, als Lebensbedingung eben das ganze Leben anzunehmen und demzufolge die Veränderung der sozialen Verhaltensweisen nicht von der prinzipiellen Veränderung des gesamten Lebens abhängig macht, wird bereit sein, auch in Teilbereichen und mit konkreten Zielen die Veränderung der sozialen Verhaltensweisen für möglich zu halten. Solchen konkreten Veränderungen gilt der zweite Hauptteil der IDZ-Untersuchung im Lernenvironment Mode. Die Techniken dieser Veränderung werden als Sozio-Design bestimmt. Das heißt, wenn die materiale Organisation der sozialen Umgebung auf das soziale Verhalten nachgewiesenermaßen einen Einfluß hat, dann läßt sich auch durch die Veränderung der materialen Bestandteile einer Lebensumgebung soziales Verhalten verändern. Die materiale Bestimmung von Bestandteilen einer Lebensumgebung wird allgemein als Gestaltung bezeichnet, als Design. Mit ihr befassen sich seit langem eben die Designer. Zumeist aber wird solches Gestalten eben nur auf die materialen Bestandteile von Lebensumgebungen ausgerichtet, nicht auf die in der Konsequenz liegende Veränderung des sozialen Verhaltens (mit einer Ausnahme: dem sogenannten funktionsgerechten Gestalten von Gegenständen der sozialen Umgebung Arbeitsplatz). Design wird zum Sozio-Design, wenn das Ziel der Gestaltung materialer Bestandteile einer Lebensumgebung in einer zielausgerichteten Veränderung sozialer Verhaltensweisen liegt. Um aber solche sinnvollen und wünschbaren Ziele, von denen die Verhaltensänderung abhängig ist, auffinden und ihrer Bedeutung nach aufschließen zu können, bedarf das Sozio-Design einer klaren Bestimmung des Verhältnisses von kurz- und langfristigen Orientierungs- und Verhaltensmustern. Die Bestimmung dieses Verhältnisses wird ehestens noch, will man nicht bloß in allgemeinen und deshalb nicht anwendbaren Aussagen steckenbleiben, im konkreten Bezug auf das Problem der Inszenierung oder Organisation von sozialem Leben der einzelnen Menschen oder kleineren Gruppen möglich sein. Aus diesem Grunde müssen Lebensentwürfe sichtbar gemacht und angeboten werden, die den sozialen Lebenssituationen entsprechend jeweils inszenierend oder organisierend verwirklicht werden. Um solche Lebensentwürfe Über die allseits bekannten Berufsrollen und Lebensbilder hinaus den Einzelnen demonstrieren und anbieten zu können, wird im Verlauf der IDZ-Ausstellung ein Trainingsseminar zur Lebensinszenierung und Lebensorganisation abgehalten, an dem im wesentlichen Designer teilnehmen sollten. Dieses Trainingsseminar wird, soweit die Umstände und Mittel es zulassen, auch mit ihrem konkreten Fall beschäftigten Privatleuten zugänglich sein, die sich unter Anleitung des Trainingsseminars Entwürfe von Lebensinszenierung und Lebensorganisation skizzieren lassen können. Die Zielsetzung der Ausstellung, die am Untersuchungsgegenstand gewonnenen Aussagen in bestimmbare einzelne Lebensplanung einzubeziehen, wird hoffentlich wenigstens für einige Ausstellungsbesucher tatsächlich gelingen. Es ist daran gedacht, im Seminar ausgeschriebene Entwürfe für Lebensinszenierung und -organisation später allgemein zugänglich zu machen.

2.2 Grundbegriffe des Ausstellungskonzepts

Auszug aus der Projektbegründung

1. Werthorizont

Gemütlichkeit = Häuslichkeit, soll umfassen:

  • konfliktlose solidarische Zusammengehörigkeit der Familienmitglieder
  • gegenseitige Hilfsbereitschaft
  • Zurverfügungstellung der Mittel für den anderen
  • Rat
  • Wohlwollen
  • Herzlichkeit
  • Verständnis
  • Anerkennung
  • positive Verstärkung, nämlich gelobt zu werden, wenn man etwas für die Gesamtgruppe Wichtiges getan hat oder glaubt tun zu können.

Tritt auf verschiedenen Ebenen in anderen Ausprägungen mit anderen Formen auf.

2. Werthorizont

Festlichkeit

  • Gemeinsame Verpflichtung aller Teilnehmer auf die Anerkennung einer Bedeutung. Dadurch wird das Verhalten aller über die bloße Individualität hinaus erhoben und verbindlich.
  • Kollektivität
  • Rauschhaftigkeit
  • Mitgerissensein
  • So zu Handlungen veranlaßt werden, die ein Einzelner nie zustande bringen könnte aus Angst, daß man sie nicht zustande bringt. Beispiel Singen der Nationalhymne, Weihnachtslieder. Das Singen eines Einzelnen als Privatperson gelingt nur dem Künstler oder dem Kind. Während im Kollektiv auch die noch so schlecht ausgeführte und durch Unfähigkeit eingeschränkte Handlungsweise vom Kollektiv als akzeptiert und wertvoll dargestellt wird. Also kann ein Mann, der keine Stimme hat, mitsingen und wird im schlechten Singen akzeptiert. Anschluß an ein allgemein verbindliches Wertsystem und Anschluß an einen Sinnhorizont.

3. Werthorizont

Arbeit

a.

  • Orientierung über die Stellung in der sozialen Hierarchie
  • Positionszuweisung
  • Auskunft über die Bedeutung, die man seiner Arbeit zumißt, also über die von ihm erbrachte Leistung, wobei sich das heute in der Höhe der Bezahlung ausdrückt.
  • Titel zeigen einen anderen Bedeutungsmaßstab an als den des Einkommens

b.

  • Sicherung der Lebensmöglichkeit wird erwartet
  • Mitarbeit am Entwurf der Handlungsziele

Die Arbeitswelt, dargestellt an drei Bildern

Arbeitsplatz ACKERMANN [Bild]
Arbeitsplatz BERGER [Bild]
Arbeitsplatz CORNELIUS [Bild]

aa Unterschicht (Familie ACKERMANN)

Beruf:
Verkäuferin (Tochter der Familie von 2, aa) in einem Kaufhaus, einer Boutique, einem Schuhgeschäft, einer Drogerie, einem Papiergeschäft usw.
Situation:
Das Mädchen steht hinter dem Ladentisch und bedient eine der Damen aus 2, cc oder steht freundlich lächelnd da in Erwartung des Besuchers der Ausstellung.
Einrichtung:
Auf kleiner, sehr beengter Fläche ein Verkaufstisch, dahinter Warenregale. Übliche Ausstattung eines solchen Geschäfts
Kleidung:
Je nach Geschäft verschieden. Man kann, um den Gegensatz zur Freizeit zu verdeutlichen, das Mädchen in einen weißen oder einfarbigen Kittel stecken oder sie ein modisches Kleid, Hosenanzug o.ä. tragen lassen.
Funktion des Bildes: Es sind folgende Gesichtspunkte zu beachten: Enger Raum ohne sichtbare Sitzgelegenheit - der Käufer soll den Eindruck ständiger Bereitschaft von seiten des Personals erhalten. Die Verkäuflichkeit der Ware steigt mit dem Gefühl des Kunden, alles warte nur auf ihn, sei gleichsam begierig, sich mit ihm zu beschäftigen und ihn zu bedienen.

Daraus folgen Konsequenzen für Bewegung, Haltung, Kleidung und Gesichtsausdruck der Verkäuferin. Sie soll sich sicher bewegen, damit der Käufer nicht den Eindruck erhält, sie wollte etwas verbergen oder wüßte nicht genau Bescheid in ihrem Bereich. Sie muß oder sollte doch lächeln (je kleiner und exclusiver das Geschäft, desto wichtiger ist dieses Verhalten), dem Kunden die Illusion geben, er, nicht sein Geld, sei gern gesehen. Die Haltung soll zurückhaltend, doch nicht abweisend sein. Eine leichte Neigung des Kopfes nach vorn erfüllt den Zweck, Aufmerksamkeit zu zeigen, ein gewisser Abstand läßt dem Kunden die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und sich nicht eingeengt fühlen zu müssen.

Die Kleidung schließlich soll dem Kunden (wenn es sich beispielsweise um eine Boutique handelt) eine Vorstellung von der Erscheinung vermitteln, die er nach dem Kauf selbst abgibt.

Gezeigt werden kann also die Unterwerfung des Mädchens, ihrer Erscheinung und ihres Verhaltens, ja ihrer ganzen Persönlichkeit, unter die Rücksichten des Warenverkaufs. Am Arbeitsplatz kann sie sich mehr oder weniger nur in diesem Beziehungsfeld als Vermittlerin des Warentauschs entwickeln. Sie hat Rücksichten zu nehmen auf die Interessen des Geschäfts und die Wünsche des Kunden. Spielraum für die Verwirklichung ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse hat sie hier nicht.

Das Bild kann weiterhin verdeutlichen, für wen sie ihre Rolle spielt, wer von dieser Rolle profitiert und wer an ihr verdient. Schön wäre es, sie an die Frau des Mannes verkaufen zu lassen, dem das Geschäft gehört oder der es leitet (einer der Herren aus 2, cc, Oberschicht). Das Freizeitverhalten von Verkäuferin und Käuferin zu vergleichen, wäre dann doppelt reizvoll. Auf der einen Seite stünde dann ein Mensch, der nicht seine Interessen, sondern die von Dingen anderen gegenüber vertritt, der für die Dinge lächelt, sich im Dienste der Dinge bewegt und kleidet, auf der anderen Seite ein Mensch, der sich und seine Bedürfnisse selbst darstellen kann, der Dinge zu seiner Ausstattung kauft, und den die Dinge nicht zu ihrer Ausstattung machen.

bb Mittelschicht (Familie BERGER)

Beruf:
Der Einfachheit halber Bürotätigkeit. Amt, Verlag, Redaktion, Mann aus 2, bb.
Situation:
Der Mann schreibt mit der Hand oder an der Maschine, diktiert oder heftet gerade Papier ab.
Einrichtung:
Modern ausgestatteter Büroraum, Tisch, Telefon, große Fenster, Regale, Ablagen usw. An der Wand Urlaubspostkarten, Kalender, Pressefotos usw.
Kleidung:
Von der Freizeit nicht gravierend unterschieden. Die gleiche sportliche Tracht, Hose und Pulli bzw. bequemes Jackett mit buntem Hemd. Sportliche Schuhe, längere Haare, gepflegt. Der Aufzug ist durch eine gewisse Lässigkeit gekennzeichnet.
Funktion des Bildes: Eigenverantwortliche Tätigkeit innerhalb eines bestimmten Rahmens. Er entscheidet nur in geringem Ausmaß über die Tätigkeit anderer Menschen, entscheidet aber sehr wohl über den Ablauf verschiedener Prozesse. Tritt er mit der Öffentlichkeit in Kontakt, dann scheinbar nicht im Dienste von Geschäftsinteressen, sondern im Interesse gerade dieser Öffentlichkeit. Er vertritt ein übergeordnetes Prinzip; als Journalist das der Information, als Amtmann das des Staates. Zwischen beiden vermittelt er, kraft seines Könnens, seines Wissens und seiner sonstigen persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Er erhält Rückendeckung und Bedeutung durch das Prinzip, ist nicht so sehr abhängig von Dingen, sondern von persönlichen, dienstlichen usw. Weisungen. Er kann seinen Tätigkeitsbereich weitgehend selbständig bearbeiten und tritt entsprechend auf. In seiner Kleidung hat er nicht die Rücksichten zu nehmen, welche das Mädchen aus dem vorigen Bild zu beachten hat. Er kann sich extravagant oder lässig kleiden, niemand wird ihm das sehr verübeln. Seine Bewegungen sind lockerer und nicht so auf Wirkung angelegt wie die des Mädchens, er kann seinen Stimmungen und Neigungen, seinen Sympathien und Antipathien in größerem Maße Ausdruck geben.

cc Oberschicht (Familie CORNELlUS)

Beruf:
siehe 2, cc
Situation:
Mann aus 2, cc, sitzt hinter ausladendem Schreibtisch und telefoniert bzw. winkt seine Sekretärin aus der Tür auf den Diktierstuhl vor seinem Schreibtisch.
Einrichtung:
Getäfeltes Bürozimmer, ausgelegt mit weichem, schalldämpfendem Material. Schreibtisch aus Edelholz mit aufwendigem Polstersessel dahinter. Darauf zwei Telefone, Sprechgerät, Schreibfläche aus Leder, Unterschriftenmappe, repräsentative Rauchergarnitur, Familienbild oder Foto einer Dame (vielleicht der eigenen Frau) in Metall- oder Lederrahmen. Der Tisch ist aufgeräumt und wirkt beinah leer. Nirgendwo im Zimmer sieht man überflüssigen Kleinkram.
An der Wand ein Bücherregal, ein englischer Stich, in einer Ecke Sitzgarnitur, bestehend aus zwei Ledersesseln und einem niedrigen runden Tisch mit Aschenbecher und frischen Schnittblumen in gefälliger Vase.
Kleidung:
Maßanzug, blau, abgesteppt
Funktion des Bildes: An der Unterschiedlichkeit der Gegenstände, die in den Arbeitssituationen um die Menschen verteilt sind, läßt sich deren Aktions- und Verantwortungsbereich ablesen. Ebenso an der Größe und Weitläufigkeit der Zimmer. Hier stehen wir vor einem großen Raum, der seinem Benutzer viel Platz läßt, den er zwar nicht praktisch, doch sehr wohl für seine Repräsentation nutzt. Wer soviel teuren Raum beanspruchen kann, hebt sich von anderen ab. Er braucht ihn mit niemandem zu teilen, nichts und niemand stört hier seine Ruhe. Daß er sie braucht, signalisieren die Gegenstände. Sie dienen nicht dem Kauf oder Verkauf, also nicht dem gewöhnlichen und für jedermann notwendigen Bedarf, sie sind auch nicht selbständig hergestellt, zueinander in Beziehung gesetzt oder von öffentlichem Interesse, wie beispielsweise im Büro der vorigen Szene. Hier gibt es nichts Vereinzeltes und Kleines, hier wird nur über die Verwendung, Ordnung und Verteilung von Dingen, Geld und Menschen entschieden, die man nicht einmal sieht. Der ästhetische Rahmen dient hier nicht etwa dem Verkauf von Waren, sondern der Repräsentation ihres Besitzers. Seine Bedeutung, nicht die der Gegenstände, wird hier betont und herausgehoben. Wo Wichtiges entschieden wird, hat Ordnung und Ruhe zu herrschen, der Raum konzentriert sich auf den Menschen, nicht dieser auf den Raum. Kleidung und Verhalten sind diesem Rahmen angemessen. Sie sind locker und auch sehr bestimmt, nicht verkrampft, sondern sprechen von Sicherheit und Gelassenheit. Wer hier sitzt, kann sich entfalten, kann entscheiden und anordnen, jedoch mit entsprechendem Stil. Man kann sich hier nicht gehenlassen, sondern ist der Stellung verpflichtet, die man 'bekleidet'. Man selbst ist nicht Öffentlichkeit, sondern bestimmt sie und unterliegt ihr demnach auch. Es ist auf Abstand von anderen zu achten, und man macht diesen Abstand, den sie gefälligst einzuhalten haben, an Verhalten, Kleidung und Einrichtung auch deutlich. Solange man nicht unter sich ist, wie etwa in der Freizeit, muß man sich halten und befleißigt sich zurückhaltender Distinguiertheit. Die Gegenstände in diesem Raum lassen zwar freie Bewegung zu, doch gemessene freie Bewegung. Man muß sich den Raum zwar nicht unbedingt ersitzen, kann in ihm auch auf und ab gehen, doch hier wird man zum Schreiten veranlaßt, da die Dinge aus ihrer Exklusivität auf einen herabschauen. Ihnen ist man verpflichtet. Der Unterschied zur Verkäuferin, die ebenfalls den Dingen verpflichtet ist, liegt darin, daß deren Umgebung trivial, von den Bedürfnissen der Ware bestimmt und für deren Bedürfnisse eingerichtet ist. Hier aber bestimmt der Eigner oder Herr die Dinge für seine Zwecke; da diese aber von dem Lebens- und Tätigkeitsbereich anderer Menschen unterschieden sein sollen, muß er sich den Dingen, die seinen Abstand von anderen demonstrieren, wieder unterwerfen, um mit ihnen übereinzustimmen.

4. Weihnachtsbaum mit Sortiment vom Geschenken

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen lassen sich kurz wie folgt zusammenfassen:

  • Der Weihnachtsbaum der unteren Schicht wird überladen sein, bunt überhäuft, er soll auffällig sein und Vielfalt demonstrieren, außerdem rühren. Er darf ruhig groß sein. Die Geschenke sind zwar nicht billig, doch für den täglichen oder doch Feiertagsgebrauch bestimmt. Es sind besonders gute Gebrauchsgegenstände. Geschirr, Kleidung, Küchengeräte, Kosmetika; wenn Bücher, dann ganz nach allgemeinem Geschmack. (Die Tochter bekommt einen Föhn.) Repräsentatives Feuerzeug. Buntes Papier.
  • Der Baum unserer Mittelschichtfamilie ist eine Tanne, formschön, kleiner, streng dekoriert. Ganz wenig Schmuck, Bienenwachskerzen. Kulturgut, Bildungsmittel, Schallplatten, Bücher, Graphik. Ausgefallene, originelle Schmuck- und Kleidungsstücke (aus der Boutique, dem Kunstgewerbeladen oder selbstgebastelt). Für das Kind Lehrspielzeug, anschauliche, gut gemachte Kinderbücher.
  • Für die Oberschicht ruhig ebenfalls eine ausgesucht schöne Tanne mit antikem Schmuck. Geschenke dienen der Verschönerung des Leibes und des Geistes wie des Heims. Teure Kosmetika, Luxusausgaben, Antiquitäten, Schmuck, nicht so sehr originell als vielmehr teuer. Die Originalität liegt im Preis. Sie sind einfach und klassisch streng in der Form. Für die Tochter Geige, den Sohn Reitstiefel.

2.3 Text des audiovisuellen Programms (zusammen mit Matthias EBERLE)

2.3.1 Wohnen, Feste, Arbeit - Lebensbilder aus drei Familien

Diese Ausstellung des Internationalen Design-Zentrums Berlin, 'Mode - das inszenierte Leben' zeigt einige merkwürdig alltägliche Szenen aus den Bereichen Wohnen und Arbeiten: drei Wohnszenen, drei Arbeitsszenen und drei geschmückte Weihnachtsbäume mit Gabentischen.
In einer Ausstellung könnte man im allgemeinen wohl etwas auffälligeres Material. durch Neuigkeit und Überraschende Präsentation bemerkenswertere Ausstellungsstücke erwarten. Allerdings, was hier in so ruhiger Alltäglichkeit und scheinbar wohlvertraut gezeigt wird, bietet nicht weniger überraschende, ja aufregende Entdeckungen für denjenigen, der seine Alltagswelt mit der gleichen Aufmerksamkeit betrachtet und bedenkt wie Ausstellungen. Solches Betrachten und Bedenken des bis zur Unkenntlichkeit Vertrauten und Alltäglichen wird ermöglicht, da die Ausstellung mehr zeigt als tatsächlich existierende Wohnungen und Büros oder von einem Kaufhaus eingerichtete Schaufenster oder durch statistische Untersuchungen ermittelte Durchschnittswerte.

Der Aufbau der Szenen gibt in allen Einzelheiten bereits die Resultate praktischer und wissenschaftlicher Erfahrungen wieder. Die Alltagsszenen bilden eine Lernausstellung, deren Aufbau bereits vorliegenden Erfahrungen und Darstellungsabsichten folgt. An den ausgestellten Szenen, vor allem an den Einzelheiten, wird so ablesbar, welche Erfahrungen bisher von Wissenschaftlern gemacht wurden. Ziel der Ausstellung ist es, die materialen Einrichtungen unserer Lebensumgebungen klar voneinander zu unterscheiden und dadurch Aussagen über die Abhängigkeit von Verhalten und Lebensumgebung zu gewinnen. Da unsere Lebensumgebungen nicht von Natur gewachsen, sondern von Menschen gemacht und hergestellt sind, wird es so auch möglich zu begreifen, aus welchem Grunde unsere Lebensumgebungen so aussehen, wie wir sie gegenwärtig kennen.
Wie beispielsweise lassen sich diese Lebensumgebungen voneinander unterscheiden, wenn auf den ersten Blick zumindest in allen dreien die gleichen Elemente des Wohnens vorkommen: Sitzgelegenheiten, Tische, Lampen, Uhren, Bodenauskleidung, Wandauskleidung, Geschirr, Raumschmuck?

Ein wichtiges Kriterium der Unterscheidung ist das Verhalten der Menschen in den Lebensumgebungen. Wenn die materialen Bestandteile der Lebensumgebung Einfluß auf die Menschen haben, dann müssen in unterschiedlichen Lebensumgebungen auch unterschiedliche Verhaltensweisen beobachtbar sein.

Solche unterschiedlichen Verhaltensweisen sind tatsächlich zu beobachten. Beschränken wir uns zunächst auf das Sitzen.

Hier haben wir die Familie Ackermann, hier die Familie Berger, hier die Familie Cornelius (Lebensumgebungen der Unter-, Mittel- und Oberschicht).

Herr Ackermann streckt sich offensichtlich ermüdet in seiner Couch aus, wobei er seinen Kopf und Rücken mit Kissen stützt, die Beine von sich streckt und die Füße auf eine Tischleiste stellt.

Herr Berger liegt entspannt ausgestreckt auf großflächigen Polstern, seine Frau hockt seitlich abgestützt auf einem Polsterelement, das Kind sitzt mit durchgedrückten Knien auf dem Fußboden.

Die Cornelius sitzen um einen kleinen Kaffeetisch auf leicht und zierlich wirkenden Stühlen mit schmächtigen Lehnen und ohne Armstützen. Die Sitzhaltung ist aufrecht und gerade, die Rücken suchen kaum Halt an den Stuhllehnen, die Körperhaltung in Händen, Armen, Beinen, Füßen ist geschlossen und gesammelt.

Was der Vergleich der Sitzhaltungen zeigt, wird vielleicht deutlicher, wenn hier ein und dieselbe Person einmal auf einem Cornelius-Stuhl und einmal in einem Ackermann-Sessel zu sehen ist. Auf dem Cornelius-Stuhl drückt die Haltung des Sitzenden ein aktives Verhältnis zu den Vorgängen im Raum aus. Der Sesselsitzer hingegen scheint passiv in sich versunken, zurückgelehnt, ja geradezu eingefallen. Sein Körperschwerpunkt ist weit nach unten und vorn verschoben, so daß es ihm besondere Anstrengung machen würde, seine Haltung zu ändern, indem er etwa aufsteht oder in aktiver Bewegung sich einem Partner zuwendet.

In der Auswahl und der Benutzung der Sitzgelegenheiten drückt sich also bereits eine grundsätzliche Einstellung zur sozialen Umgebung aus, in der sich jemand aufhält. Das gilt vor allem für den Aufenthalt in der Privatsphäre einer Wohnung. Herr Ackermann hat wahrscheinlich das Gefühl, daß der Aufenthalt in seiner Privatsphäre für ihn nur entspanntes, durch das Gefühl der Müdigkeit verstärktes Sich-Zurückziehen ermöglichen sollte. Er würde sich in einer weniger privaten Umgebung sehr viel anders verhalten.
Den Cornelius hingegen kann man in ihrem Verhalten nicht anmerken, ob sie sich im Augenblick gerade in ihrer eigenen Wohnung oder einer fremden aufhalten oder ob sie sich gar in einem Raum eines Hotels zum Kaffeetrinken niedergesetzt haben.

Will Herr Ackermann sich in seiner privaten Sphäre entspannt, unkontrolliert und ohne Einwirkung von außen zurückziehen, dann scheint er für diesen Zweck recht untaugliche Einrichtungsgegenstände gewählt zu haben. Die materiale Gestalt von Sofa und Sessel zwingt den Sitzenden zu einem recht ungesunden Einstauchen und Einknicken der Kopf-Schulter-Partie wie auch der Rumpfpartie und als Reaktion darauf zu dem Versuch, durch Strecken von Rumpf und Gliedern die Verstauchung auszugleichen.

Herrn Bergers Sitzgelegenheit hingegen erlaubt ihm, entsprechend seinen körperlichen Bedürfnissen sich flach auszustrecken oder unterschiedliche Hock- und Sitzstellungen nach Wunsch einzunehmen. Herr Berger kann sich seine Polsterelemente jeweiligen Bedürfnissen entsprechend zusammenstellen.

Die Couchgarnitur des Herrn Ackermann hingegen läßt gleichsam nur eine Form ihrer Benutzung zu. Herrn Ackermanns Haltung wird eindeutiger festgelegt durch die von ihm benutzten Möbel. Wenn also Herrn Ackermanns Verhalten eindeutiger durch die von ihm benutzten Möbel bestimmt wird, dann ist auch sein Verhalten anderen Menschen gegenüber mehr durch die Möbel, weniger durch ihn selbst bestimmt. Sein Versinken in dem voluminösen Sofa erschwert es ihm erheblich, beispielsweise seiner durch die Tür eintretenden Frau entgegenzugehen, um ihr entweder das Tablett abzunehmen oder hinter ihr die Tür zu schließen. Frau Ackermann zeigt in ihrer Haltung, daß sie daran gewöhnt ist, denn mit einer uns allen bekannten Drehung von Hüfte, Fuß und Ellbogen schiebt sie die Tür hinter sich zu.
In der Ackermannschen Sitzhaltung kann man sich nur einer Tätigkeit anstrengungslos hingeben: dem reaktionslosen Aufnehmen von Getränken und Fernsehprogrammen. Dieses Ackermannsche Verhalten beschränkt sich eben nicht nur auf ihn. sondern hat auch auf seine Familie oder andere im Raum befindliche Menschen Auswirkungen. Denen bleibt gar nichts anderes Übrig, als sich ebenfalls in einen solchen Sessel fallen zu lassen und genau das zu tun, was Herr Ackermann seinerseits tut. Will ein Familienmitglied ein anderes Verhalten in den Vordergrund stellen, so muß es den Raum verlassen, was in diesem Fall die Tochter Ackermann auch gerade zu tun im Begriff ist.

Herrn Ackermanns Verhalten bleibt ganz auf sich bezogen, isoliert gegenüber Frau und Kindern, wodurch er eigentlich Frau und Kinder auch nur als Einrichtungsgegenstände behandelt.

Anders bei den Familien Berger und Cornelius. Das Verhalten der Cornelius ist durch die Bereitschaft gekennzeichnet, sich einander zuzuwenden. Das Verhalten der Einzelnen wird durch den Zusammenhang mit den anderen Anwesenden entscheidend mitbestimmt, wobei offensichtlich allen gleichermaßen das Agieren und Reagieren möglich ist; keines Einzelnen Verhalten überwiegt oder zeichnet sich besonders aus. Die Familie scheint im Augenblick gerade ein Gespräch unter lauter Gleichberechtigten, gleich Wesentlichen, gleich Handlungs- und Sprachfähigen zu führen. Trotzdem ist ihr Verhalten nicht beliebig, sondern wahrt bestimmte Formen, denen sich alle gleichermaßen unterwerfen.

Auch das Verhalten der Bergers zeigt aktives Eingehen auf den anwesenden Partner. Frau Berger spielt mit ihrem Kind, Herr Berger liest; er ist aber bereit. jederzeit bei Veränderungen der Situation von seiner gewählten Beschäftigung abzusehen, zum Beispiel, wenn ein Telefonanruf kommt oder wenn das Kind mit ihm spielen möchte.

Herr Ackermann hingegen reagiert auch dann auf die Ansprache durch sein jüngstes Kind nicht, wenn es sich, wie hier, in seine unmittelbare Umgebung begibt. Er läßt sich in seiner Verhaltensweise nicht verändern durch die Bedürfnisse oder Wünsche anderer.

Für Familie Berger bedeutet es weniger Anstrengung, aktiv auf veränderte Situationen zu antworten. Den Bergers ist spontanes und weder von Gegenständen noch von anderen Menschen irritiertes Verhalten selbstverständlich, so daß das Eintreffen eines Besuches mühelos und ohne kraftraubende Anstrengungen ins Familienleben einbezogen werden kann.

2.3.2 Wir bestimmen über die Gegenstände – die Gegenstände bestimmen uns

In wie geringem Maße die Bergers durch die Gegenstände bestimmt sind und wie bewußt sie umgekehrt die Gegenstände für ihre Zwecke und Bedürfnisse einsetzen, zeigt die Auswahl und Zuordnung ihrer Gebrauchsgegenstände. Das Fernsehgerät beispielsweise steht beiläufig, doch jederzeit zur bewußten Nutzung bereit, im Regal. Das Regal selber ist seiner Konstruktion nach umbaubar, den Benutzerzwecken anpaßbar und in seiner Struktur höchst einfach und Übersichtlich.

Die Lampen im Raum sind den Benutzerzwecken entsprechend unterschiedlich zu postieren und zu verwenden. Der Schreib- und Arbeitstisch wirkt improvisiert, es wäre kein Unglück, wenn auf diesem Tisch ein Tintenfaß auskippte oder der Sohn mit einem Messer Spielholz schnitzte. Der Arbeitsstuhl ist leicht beweglich, unauffällig. Alle im Raum befindlichen Einrichtungsgegenstände zeigen an ihrer Oberfläche, wozu und wie man sie benutzen kann, wie sie funktionieren, was dem Material zuzumuten ist.
Im Unterschied zu diesem an der Oberfläche ablesbaren Wesen und Funktion der Bergerschen Einrichtungsgegenstände kann man bei den Ackermanns nur durch mühsame Überprüfung feststellen, was die Gegenstände eigentlich sind. Die Überprüfung zeigt, daß die Ackermannschen Gegenstände eben nicht das sind, was sie zu sein scheinen. So ist der Deckenschmuck eben keine wirkliche Kassettierung oder Stuckierung, sondern ein Kunststoffaufkleber. Der Tisch ist eben kein massives Holz, sondern die Massivität wird durch eine aufgeleimte breite Zierleiste nur vorgetäuscht. Die Schmuck- und Zierornamente am Schrank sind nicht in das Holz eingearbeitet, sondern als flache Leiste aufgeklebt. Der Perser ist kein Perser, sondern imitiert. Selbst die Bespannung der Polstermöbel erinnert nur an Cordstoff. Da die Ackermannschen Möbel mehr zu sein beanspruchen, als was durch ihre Funktion oder durch ihre Geschichte oder durch ihren Entstehungsprozeß ausgewiesen wird, versucht ihr Benutzer, mit ihrer Hilfe selbst mehr zu sein, als er ist. Sein Alltagsleben soll gleichsam in einem anderen Licht erscheinen. Fotos, Gläser, Erinnerungsstücke, Kerzen, Porzellan, Wäsche, Bücher werden im Schrank präsentiert wie in einem Schrein oder auf einem Altar. Die Gegenstände überhöhen ihre Bedeutung durch die Präsentation im kostbarsten und auffälligsten Einrichtungsstück, das im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der Schrank ist zugleich Geschirr- und Wäscheschrank, Bibliothek, Musik- und Fernsehschrank, Bar und Aufbewahrungsort für Familienkostbarkeiten. So erfüllt der Schrank offenbar die Funktion anderer Zimmer, die die Familie nicht hat.

Im Unterschied zu den Ackermannschen Möbeln haben die der Familie Cornelius nicht nur dem Anschein nach, sondern tatsächlich eine eigenständige Bedeutung. Sie stellen Werte dar und sind Werte infolge ihrer Herstellungsweise, ihrer Geschichte und ihrer Funktion. Sie sind handwerklich im einheitlichen Gestaltungswillen hergestellt, sie sind Originale aus der Zeit zwischen 1770 und 1815 und haben demzufolge als Einzelstücke bereits eine Lebensgeschichte und sie erfüllen die Funktion, ihre Benutzer und Eigentümer an die in den Gegenständen ausgedrückten Werte anzuschließen. Verstehen die Cornelius ihre Einrichtung auch als Repräsentation, dann ist das gerechtfertigt, da die Gegenstände selber die ihnen zukommende Bedeutung darstellen. Mit den Gegenständen ihrer Lebensumgebung können die Cornelius sich auseinandersetzen, die Gegenstände sprechen von den Menschen, die sie hergestellt und benutzt haben. Auch die Cornelius werden auf ihre Gegenstände ungern Fett und Tintenkleckse kommen lassen, auch sie werden, wie die Ackermanns, mit ihren Gegenständen vorsichtig, behutsam umgehen. Auch bei den Cornelius scheinen die Gegenstände unabhängig von den Personen ein Eigenleben zu führen. Der Unterschied aber zwischen den Cornelius und den Ackermanns besteht darin, daß Ackermanns Gegenstände erst wertvoll werden durch die Bedeutung, die Herr Ackermann ihnen gibt. Dabei spielen die Anschaffungskosten, d.h. die zu ihrem Erwerb aufgewendete Anstrengung, eine große Rolle. Während die Bedeutung der Cornelius'schen Möbel in ihrem tatsächlichen Wert liegt.

Das wird deutlich, wenn man weiß, daß Ackermanns beim Wiederverkauf ihrer Möbel kaum noch etwas bekommen, während die Möbel der Cornelius bei ihrem Wiederverkauf zumindest den für sie gezahlten Preis einbringen.
Um die Einstellung der drei Familien zu den Gegenständen in einer für die Weihnachtszeit typischen Situation deutlich zu machen, zeigt die Ausstellung unmittelbar nebeneinander drei Gabentische mit Weihnachtsbäumen. Finden Sie heraus, welche der drei Bäume und Gabentische welcher der drei Familien zuzuordnen sind!

2.3.3 Geschmack und Lebensorganisation

Die bisherigen Hinweise auf unterschiedliche Beziehungen der Menschen zu Gegenständen ihres täglichen Gebrauchs und der Beziehung der Menschen zueinander, soweit in ihnen Gegenstände eine Rolle spielen, kann man sicherlich nicht damit erklären, daß man etwa sagt, die Familien Berger, Ackermann und Cornelius hätten eben einen unterschiedlichen Geschmack. Geschmacksurteile setzen voraus, daß alle Urteilenden aufgrund der gleichen Voraussetzungen nur ihren subjektiven Vorlieben folgend sich beim Kauf von Gegenständen entscheiden würden. Deutlich ist an der Gestaltung von Arbeitsplätzen abzulesen, daß die Entscheidungen für den Erwerb und Umgang mit Gegenständen nicht nur persönlichen Vorlieben, also Geschmacksurteilen folgen. So hätte beispielsweise Herr Cornelius bei Antritt seiner neuen Position als angestellter Direktor eines Unternehmens in dieses Büro nur den ihm am bequemsten erscheinenden, persönlich bevorzugten Stuhl als neuen Einrichtungsgegenstand mitbringen können. Er hat sogar darauf verzichtet. Herr Cornelius weiß, daß nicht sein Geschmack für die Arbeitsplatzgestaltung entscheidend ist, sondern die Art seiner Tätigkeit und sein Status.

Der Status des Herrn Cornelius ist der eines Menschen, der über andere Menschen, über Einsatz und Verteilung von Geld und Sachwerten, über den Ablauf von organisatorischen Prozessen entscheidet. Er kommt nicht selbst in Berührung mit den Sachverhalten und Personen, über die er entscheidet, sondern er vermittelt seine Entscheidung per Sprechanlage, Telefon, Aktennotiz und persönliche Sekretärin in Vertrauensstellung. Auf seinem Schreibtisch sind keine Spuren seiner Arbeit zu entdecken, keine Akten oder Manuskripte oder sonstige Materialien, da er jeweils sofort die einzelnen anfallenden Entscheidungen erledigt und somit jederzeit den Überblick über seine Aufgaben haben kann. Die für Entscheidungen benötigten Unterlagen, Akten, Termine werden von seinen Angestellten außerhalb seines Arbeitsraumes verwaltet. Die Art dieser Tätigkeit verlangt für die Einrichtung eines Direktionszimmers Konfrontationsebenen mit eintretenden Verhandlungspartnern oder weisungsabhängigen Mitarbeitern. Der Eintretende muß einen möglichst weiten leeren Raum durchschreiten, bis er vor den Verhandlungstisch gelangt. Der Eintretende hat sich den Gegebenheiten des Raumes anzupassen. Dadurch erhält der Direktor einen psychologischen Vorteil, der dem Unternehmen bei der Verhandlung nützt. Der Raum und seine Einrichtung halten den Eintretenden in Distanz zum Direktor, wodurch seine dominierende Rolle unterstrichen wird. Der von Gegenständen unverstellte Raum wird als Handlungsfeld verstanden, in dem der Direktor beispielsweise beim Diktieren seine Aktivität durch stimulierende Körperbewegung unterstützen kann. Der weite Raum fordert auf zu Aktivität und Entfaltung. Er vermittelt das Gefühl von Übersicht und Ordnung.
Die Bilder an der Wand des Direktionszimmers sind so gewählt, daß sie dem Selbstverständnis des Direktors in seiner Rolle entsprechen und eine ständige Aufforderung an ihn richten, sich an diesen Darstellungen in seinem Verhalten zu orientieren. In diesem Falle sind Originalstiche aus dem 18. Jahrhundert gewählt, die die Meisterung von Naturkräften zeigen: ein Dressurreiter zwingt durch unermüdliches Training einem Pferd eine künstliche Bewegungsform auf. Auf dem Bild über der Sitzgarnitur, ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert, wird die Bemeisterung der in Sturm und Wogen zerstörerisch wirkenden Natur durch die Kunstfertigkeit eines Schiffskapitäns und seiner Besatzung gezeigt.

Zur Verdeutlichung nochmals ein Rückverweis auf das Zimmer der Familie Ackermann, auf deren Bildtapete Schiffe, nautische Instrumente und kartographische Zeichen zu sehen sind, wie auch den Verweis auf das sich im Schrank der Familie bäumende Porzellanroß. Den Ackermannschen Schiffen ist in keiner Andeutung zu entnehmen, wohin sie fahren, in welcher Phase einer zielausgerichteten Bewegung sie sich befinden, in welchem Sinn sie eingesetzt werden. Die nautischen Instrumente und Schiffe sind rein dekorativ und beziehungslos nebeneinander gesetzt. Das Ackermannsche Porzellanroß ist nur noch ein Abklatsch der Natur in dekorativer Bewegungspose. Eine Beziehung dieses verniedlichten Naturbestandteils zu Menschen und ihren Handlungszwecken ist nicht erkennbar. In ähnlicher Weise wird Natur Über dem Sofa auf ein bloß dekoratives Bild reduziert - ohne Verweis auf die Macht der Natur und auf die Notwendigkeit, in menschlicher Arbeit die Schrecken der Natur zu bändigen. Die Natur ist hier ihrer Kraft beraubt durch Sentiment und Sehnsucht nach dem schönen Schein.

Ein ganz anderes Verhältnis zu ihren Bildern scheinen die Bergers zu haben. In gewisser Nachlässigkeit und improvisiert sind Fotos, Plakate, kleinere Drucke, zum Teil ungerahmt, im Raum verteilt. Die Bilder scheinen jeweils momentanen Beschäftigungen und Vorlieben der Familie Berger zu entsprechen. Die Bilder scheinen nur Markierungspunkte oder Erinnerungs- und Wahrnehmungsanlässe zu sein. Die Bilder sind Bestandteile einer gerade aktuellen ästhetischen und intellektuellen Beschäftigung. In dieser Beschäftigung scheint Herr Berger keinen Unterschied zwischen seiner Wohnung und seinem Arbeitsplatz zu machen. Auch an seinem Arbeitsplatz sind alle um ihn herum versammelten Gegenstände und Materialien so angeordnet, daß sie leicht und ohne Umschweife zugänglich sind. Arbeitsmanuskripte, Arbeitspläne, Merksätze, Zitate, Zeitungsausschnitte, Notizen sind gleichsam an der Wand für den Benutzer veröffentlicht, so daß er beständig auf sie hingewiesen wird. Sie stellen eine Art von Selbstverpflichtung und Selbstfestlegung dar, ein gesetztes Ziel zu erreichen, was besonders wichtig ist, da Herr Berger als Redakteur beständig einzelne Arbeiten zugleich vorbereitet, andere ausführt, dritte überarbeitet, vierte veröffentlicht. Die einzelnen Arbeitsverläufe sind nicht säuberlich voneinander getrennt, sondern durchdringen sich gegenseitig, halten Herrn Berger in Bewegung, indem sie ihn stimulieren und verhindern, daß er sich in einzelnen Arbeitsabschnitten festfährt. Sein Arbeitstisch zeigt in der Fülle des darauf liegenden Materials die einzelnen Schichten der Arbeitsprozesse gleichsam gestapelt. Die notwendige Ordnung in dieser Vielfalt wird nicht durch Aktenschränke oder Informationsverarbeitungssysteme garantiert, sondern durch die alltägliche lebendige Auseinandersetzung des Redakteurs mit den Anforderungen, die aus dem Charakter des Materials, der Aufgabenstellung durch seinen Auftraggeber und seinen eigenen Vorstellungen von sinnvoller Arbeit bestimmt sind.

Ganz im Gegensatz dazu wird die Verkäuferin Sabine Ackermann als Person fast zum Bestandteil des Warensortiments, das sie dem Kunden gegenüber vertritt. Da die Waren sich nicht selbst bewegen können, leiht sie ihnen gleichsam Gesicht, Arme und Beine und damit Persönlichkeit. Sabine Ackermann tritt als lebendige Person im Dienste der Gegenstände auf, mit denen sie während ihrer Arbeitszeit zu tun hat. Für sie stellt der Gegenstand keine Beziehung zur Kundin her, sondern die Kundin stellt über Sabine eine Beziehung zum Gegenstand her. Ähnlich wie Sabine geht es ihrem Vater, Herrn Ackermann, den wir an seinem Arbeitsplatz leider nicht zeigen können.

2.3.4 Mode und Arbeit

Soweit unsere Einzelbetrachtungen in dieser Gebrauchsanweisung für die Ausstellung. Wir wollen aber eine wenigstens vorläufige Zusammenfassung der Ergebnisse nicht aussparen.

Um ihr Leben zu erhalten. müssen Menschen arbeiten. Sie arbeiten mit Instrumenten und in historisch gewachsenen Sozialräumen und Naturräumen. In den Arbeitsprodukten sind diese Bedingungen des Arbeitens enthalten. Arbeitsprodukte sind Kleider, Möbel, Nahrungsmittel, Sprechweisen, Verhaltensweisen, Kommunikationsgeräte, Transportmittel, kurz alle Mittel des Lebens. Da sich die fundamentalen Arbeitsverhältnisse nur sehr langsam verändern, müßten die Arbeitsprodukte in ihren wesentlichen Zügen Über ebenso lange Zeiträume gleich bleiben. Diese Eintönigkeit und Unverändertheit widerspricht dem Bedürfnis des Menschen nach differenzierter Gestaltung seiner Beziehungen zu anderen Menschen. Dieses Bedürfnis nach Differenzierung des Verhaltens zu anderen drückt sich in der unterschiedlichen Gestaltung und Bewertung von Arbeitsprodukten aus. Moden sind demnach die unterschiedlichen Gestaltungen und Bewertungen von Arbeitsprodukten. Wie der einzelne Mensch gestaltete Arbeitsprodukte für sich bewertet, hängt ab von seiner Stellung in der Gesellschaft. Wie einer die von ihm bewerteten und ausgewählten Gegenstände hingegen benutzt, das hängt davon ab, auf welche Weise er bei seiner Arbeit mit Gegenständen umgehen muß und umgehen kann. Herrn Ackermanns sozialer Status als Facharbeiter veranlaßt ihn, Einrichtungsgegenstände auszuwählen, die seinen sozialen Status erhöhen sollen. Er kann mit diesen Gegenständen aber nur beschränkt umgehen, er ist ihnen teilweise sogar ausgeliefert, die Gegenstände treten ihm als selbständig entgegen. Denn an seinem Arbeitsplatz kann er nur ausführen, was der Arbeitsprozeß von ihm verlangt. Gegenstände, Materialien, Verfahrensweisen und die Produkte der Arbeit treten ihm so als selbständige entgegen. Das ist für Herrn Berger und Herrn Cornelius anders. Die anderen Arbeitsbedingungen drücken sich bis in die alltäglichen privaten Beziehungen zu Personen und Gegenständen aus.

2.4 Vorschlag zur Nutzung der Ausstellung "Mode - das inszenierte Leben"

  1. Die Gebrauchsanweisung abhören und ansehen
  2. Plan, Kontrolliste und Fragebogen entgegennehmen
  3. Ausstellung ansehen anhand von Plan, Kontrolliste und Fragebogen
  4. Fragebogen abgeben, Katalog zur Ausstellung durchblättern und hoffentlich auch kaufen
  5. Anhand der Kontrolliste, des Katalogs und Ihrer lebendigen Erfahrung Familie, Freunde und Kollegen unterrichten
  6. Mit der Erfahrung der Ausstellung Wohnungen, Schaufenster und Büros genauer als bisher ansehen

Kontrolliste zur Ausstellung

Die Tonbildschau hat Ihnen eine Einführung in die Ausstellung gegeben. Mit dieser Liste sollen Sie, verehrter Besucher, auf einige Details der Ausstellung hingewiesen werden, die leicht übersehen werden könnten und an die wir Sie noch einmal erinnern wollen.

Auf den ersten Blick stellen Sie in der Ausstellung sicherlich viele grobe Unterschiede in der Gestaltung und Ausstattung der Räume und der Verhaltensweisen ihrer Bewohner fest. Möglicherweise haben Sie aus diesen Unterschieden schon selber Schlußfolgerungen auf die Gründe für solche unterschiedliche Gestaltung der Räume gezogen. Damit Sie Ihre Schlußfolgerungen im einzelnen belegen können, hier also der Hinweis auf Einzelheiten.

IDZ Berlin - Plan zur Kontroll-Liste [Bild]

Die Fragennummern entsprechen den Standortbezeichnungen im Ausstellungsgrundriß

1. Stellen Sie fest, von wo aus Sie als Betrachter die Räume einsehen (vom Fenster, von der Eingangstür, von der Mitte des Raumes, von einem Nachbarraum, von einer ausgesparten Wand). Ergänzen Sie die Ausdehnung der Räume in Ihrer Vorstellung.
2. Seien Sie aus Gründen der genauen Beobachtung ruhig indiskret und vergleichen Sie die Fuß- und Körperhaltungen der Raumbenutzer.
3. Wie verhalten sich die in den Wohnräumen jeweils gezeigten Personen zueinander? Worauf richten sie ihre Aufmerksamkeit? Jeder für sich allein oder gemeinsam?
4. Vergleichen Sie die Bronzefiguren des Kaminzimmers mit den Vitrinenfiguren der Ackermanns. Was drücken die dargestellten Haltungen aus?
5. Was kennzeichnet Gläser, Kaffeetassen, Vasen, Aschenbecher, Kerzenleuchter in den drei Räumen (Form, Muster, Alter, Material)?
6. Vergleichen Sie die Art der Ablage und Aufbewahrung von Gegenständen in den Schränken der Familie Ackermann und der Familie Berger.
7. Welche Gegenstände werden sichtbar in den Schränken präsentiert?
8. Läßt sich aus der Aufstellung des Fernsehgeräts etwas über die Bedeutung des Fernsehens für das Familienleben erfahren?
9. Wieviel Schrankfläche ist in den Schränken der Ackermanns und der Bergers hinter Türen oder Glas verborgen?
10. Können Sie sich denken, warum der Ackermannsche Schrank seinen Inhalt verbirgt?
11. Können Sie sich erklären, warum die Ackermanns ihre Kerze nie anzünden? Also keine Kerze brauchen, dennoch eine haben.
12. Vergleichen Sie die Zeitschriften und Zeitungen, die von den Raumbenutzern gelesen werden.
13. Läßt sich etwas aus der Zahl und der Art der in den Räumen gezeigten Bücher schließen?
14. Bitte überlegen Sie, worin die Unterschiede zwischen dem Ackermannschen und dem Cornelius'schen Landschaftsgemälde liegen (Entstehungszeit, Motiv, Art und Ort der Hängung).
15. Vergleichen Sie die in den Räumen befindlichen Lampen nach Bewegbarkeit, Zahl der Lichtquellen, Material, Form und Konstruktion.
16. Vergleichen Sie den Unterschied in den Deckenniveaus der Räume.
17. Beachten Sie den Übergang von Decken zu Wänden.
18. Vergleichen Sie die Tapeten nach Muster und Farbigkeit.
19. Meinen Sie, daß die Tapetenmuster eine Bedeutung haben a) als Schmuck, b) als Symbol?
20. Könnten Sie zustimmen, daß das Schiff ein Symbol ist für die Sehnsucht nach der Ferne, Fortbewegung in ein anderes Land, Abenteuer und Verlassen der Enge der Lebensverhältnisse?
21. Würden Sie zustimmen, daß die Biene in einem Lorbeerkranz ein Symbol für staatliche Ordnung nach dem Muster des Bienenstaates sein könnte?
22. Vergleichen Sie die Schreibtische des Büros Berger und des Büros Cornelius auf ihre Größe, ihre Stellung im Raum, ihr Material.
23. Wie benutzen also Herr Cornelius und Herr Berger die Schreibtische?
24. Was entnehmen Sie aus der Raumaufteilung und Ausstattung der Büros über die Art der Tätigkeit?
25. Vergleichen Sie die drei Weihnachtsbäume und Gabentische. Können Sie sie den Familien zuordnen?
26. Wie unterscheiden sich die Geschenke der einzelnen Familien?
27. Wodurch unterscheiden sich die Geschenke von den alltäglichen Gebrauchsgegenständen der Beschenkten?
28. Wie schätzt der Schenker den Beschenkten ein?

2.5 Das Trainingsseminar (beschrieben von Peter von KORNATZKI)

Zusammengefaßt in FORM 1, 1973, unter dem Titel 'Was Design mit Mode und Mode mit Leben und Leben mit Design zu tun hat')

2.5.1 Das Seminar: Lebenshaltungen und der ihnen innewohnende Lebenszusammenhang

Die "Ausstellung Mode - das inszenierte Leben" ist als Lernenvironment angelegt. Ein Environment ist eine Lebensumgebung. Aus einem Lernenvironment kann man etwas lernen. Durch die Darstellung und bewußte Wahrnehmung eben dieser Lebensumgebung in Situationen. Aber auch dadurch, daß nicht nur Resultate aus Untersuchungen dieser Situationen gezeigt werden, "sondern auch die Tatbestände, an denen die Untersuchung geführt wird" (Brock).

Das Demonstrieren dieser Tatbestände und der Untersuchungsweise macht den Besucher selbst zum Untersucher. (Im besten Fall.) Diese Möglichkeit zu nutzen, bietet ihm die Chance, das in der Ausstellung Gelernte leichter in seine eigene alltägliche Lebenssituation rückzuübersetzen und dort weiter anzuwenden.

Der in den ausgestellten Lebenssituationen enthaltene und in der Untersuchungsweise vorausgesetzte Lebenszusammenhang ist nicht ohne weiteres darzustellen und wahrzunehmen. Unter Lebenszusammenhang wird hier verstanden: Lebensziele; Lebensformen als Orientierungsmuster in der sozialen Wirklichkeit; modische Wechsel dieser Lebensformen in Sprache, Verhalten, Gegenständen, Idealen und Einstellungen; und die Inszenierung solcher Lebensformen. Um solche Lebenszusammenhänge zu erkennen, sie überhaupt herzustellen - und sie hinsichtlich der (Fremd-)Inszenierung bzw. (Selbst-)Organisation des Lebens zu diskutieren, hatte das Internationale Design-Zentrum ein Trainingsseminar angesetzt. Leitung: Prof Bazon Brock.
Hier, in Fragmenten (archäologische Scherben, würde Brock es nennen), der inhaltliche Verlauf dieses Seminars. Nicht rekonstruiert als etwas Rundes, Glattes, sondern nur im zeitlichen Ablauf belassen. 'Scherben' also, den Zusammenhang andeutend, aber nicht schon schlüssig ergebend.

2.5.2 Der Lebenszusammenhang, 1. Erkenntnisstufe: Wozu eine Reiz-Ausstellung reizt

Die Seminarteilnehmer kritisieren punktuell die in den punktuellen Lebensbildern dargestellten Lebenssituationen:

  • Die Ackermanns (Arbeiterfamilie) sind eigentlich anders. Sie werden in der Ausstellung diffamiert. Weil die sozialen Hintergründe ihres Verhaltens nicht auch dargestellt werden, weil ihre Arbeitswelt nicht gegenwärtig ist, erscheinen sie negativ. Dagegen wird die Welt der Cornelius (Unternehmer) beschönigt. (Deutlich bei dieser schnellen Kritik wurde übrigens, daß hier genau Schmiedings flache 'aspekte'-Kritik der Ausstellung reproduziert wurde.)
  • Der Redakteur Berger kommt zu gut weg. Seine Lebensumgebung scheint ein Tip fürs richtige Leben zu sein. Mit Verweisen auf interlübke- und WK-Möbel. Brock dagegen: Ärgerlich bei der Familie Berger scheint zu sein, daß hier die Freiheit des persönlichen Ausdrucks möglich ist. Das Gegenteil ist der Fall. (Dazu die Meinung einer Besucherin: Als ich Bergers Einrichtung sah, wurde mir schlecht. Ich erkannte meine eigene wieder.)
  • Die Ausstellung spiegelt die herrschende Wohnideologie wider. Aber sie klammert die herrschende Ideologie der Möbelindustrie völlig aus. Der Kauf ist immer die Reaktion auf ein Angebot. Die Wohnungseinrichtung immer das Ergebnis eines Aufoktroyierungszwangs. Ackermann, Berger und Cornelius sind nur Opfer der Industrie. Brock dagegen: Man soll die vermittelten Leitbilder nicht überbewerten. Die Wohnungen von Ackermann und Cornelius sind identisch: Die Gegenstände darin sollen bewußte Ausdruckskriterien sein; sie sollen die Welt mir gegenüber repräsentieren.
  • Beweis für das zwanghafte Verhalten Ackermanns: Die überflüssige Schrankwand. Er könnte sogar Geld sparen, hätte er sie nicht. Brock dagegen: Die Schrankwand wird als 'Schrein', als 'Altar' erlebt. Sie dient z.B. der Aufbewahrung von Souvenirs. Und Souvenirs sind der Ausdruck einer nicht echt erlebten Erfahrung, ein Ersatz dafür. Es bringt uns nicht weiter, Schrankwand und Souvenirs nur als 'Kitsch' abzulehnen. Die Bedürfnisse sind da und wollen befriedigt werden.
  • Brock: Das Problem Freiheit - Unfreiheit kommt in allen drei Lebensbildern der Ausstellung vor. Unfreiheit klammert sich ans Objekt. Freiheit bringt die Unabhängigkeit vom Objekt. Freiheit ohne Vergegenständlichung (Verdinglichung) ist aber nicht möglich. Wir dürfen nicht denken, daß wir nur die Welt von den Gegenständen, von den Dingen leerräumen müßten, um zu Freiheit und Selbstverwirklichung zu gelangen.
  • Was wäre, wenn die Verkäuferin, Frl. Ackermann, Sekretärin bei Herrn Cornelius wäre? Im subjektiven Bewußtsein Frl. Ackermanns würde das Gefühl entstehen, sie sei mehr als ihr Vater, der Arbeiter. Obwohl sie vermutlich weniger verdienen würde als er. Der Vater allerdings verdient mehr, schafft aber nicht einmal durch die Benutzung von Symbolen den subjektiven Aufstieg. Frage also: Gibt es Unterschiede im Bewußtsein eines Arbeiters, der im Produktionsbereich arbeitet, gegenüber einem Arbeiter, der im Distributionsbereich arbeitet?

Die ersten drei Stunden Diskussion sind um. Eine allgemeine Versandung, Entpersönlichung der 'Gegenstandsebene' wird festgestellt. Brock mit Fragen bedrängt: Wann verlassen wir endlich die formale Diskussion? Wie sieht denn nun die Verknüpfung dieser Lebensbilder mit dem Lebenszusammenhang aus? Es wird weiter hinterfragt.

  • Zu Bergers Lebensphilosophie scheint das 'mobile Wohnen' zu gehören. Aber viele der Gegenstände, die er benutzt, sind nicht Instrumente seines Lebens, 'Kommunikationsmedien', sondern Fetische.

In der Auswertung einer Befragung von etwa 500 Ausstellungsbesuchern erkennen in den aufgebauten Szenen "ihre eigene Situation am ehesten wieder": 21,5 % im Wohnraum Ackermann, 57 % im Wohnraum Berger, 3,5 % im Wohnraum Cornelius. Hinsichtlich des Wiedererkennens wird eine extreme Übereinstimmung von Wohnraum und Arbeitsraum bei den Befragten festgestellt.

"Hat Ihnen die Ausstellung geholfen?", beantworten mit Ja: 32 % ("Alltägliches genauer wahrzunehmen"), 33 % ("die eigene Wahrnehmung etwas besser zu begreifen") und 42 % ("den Zusammenhang zwischen Arbeitssphäre und Privatleben zu sehen").
In Kleidung und Wohnung "richten sich nach Empfehlung von Freunden und Bekannten" 26 %, "nach Zeitschriften" 20 %, "nach Werbung" 10 %, "nach Fernseh- und Kinofilmen" 5,5 % und "nach ganz persönlicher Entscheidung" 93 % (!).

Wo hier was nicht stimmt (und wo also die IDZ-Aktion zu Recht ansetzt) ist offensichtlich: Wenn 42 % der Befragten meinen, die Ausstellung hätte ihnen geholfen, "den Zusammenhang zwischen Arbeitssphäre und Privatleben zu sehen", können nicht 93 % der Ansicht sein, sich in Kleidung und Einrichtung "ganz nach persönlichen Entscheidungen" zu richten.

2.5.3 Der Lebenszusammenhang, 2. Erkenntnisstufe: Wie Lebensziele sich vergegenständlichen lassen

Brock rekapituliert: Die Ausstellung zeigt punktuelle Lebensbilder; sie geht aus von einem Punkt im Leben der Ackermanns, der Bergers und der Cornelius. Aber was ging diesem Punkt voraus, was wird folgen?
Stellen wir uns diesen Punkt auf einem Ereignisstrang vor. Dann liegen vor dem Punkt alle die Ereignisse, die schon geschehen sind (Geburt, Erziehung, Schulzeit, Ausbildung, Heirat usw.) und nach diesem Punkt alle die Ereignisse, die noch eintreffen werden (sozialer Aufstieg, Heirat der Kinder, Tod von Bezugspersonen, Krankheit usw.). Am Ende des Ereignisstranges steht ein 'Lebensziel' oder mehrere solcher Ziele. Sie können gesetzt oder aus den sozialen Bedürfnissen abgeleitet werden.

Fragen: Was ist das Leben mehr als die Abfolge solcher punktueller Ereignisse? Was mehr als die bloße Tatsache, daß jemand gelebt hat? Wie ist es möglich, das eigene Leben unter dem Aspekt eines schon erreichten bzw. eines noch zu erreichenden Lebenszieles zu betrachten?
Es ist nur möglich, wenn wir die Entwicklung unseres Lebens, die punktuellen Ereignisse, festhalten. Da wir keine Entwicklungsromane schreiben können - wie Gottfried Keller ('Grüner Heinrich') –, müssen wir unser Leben mit anderen Mitteln gegenständlich erfahrbar machen. Indem wir filmen, Briefe schreiben, fotografieren, Tonbandaufnahmen machen. Oder indem wir Gegenstände produzieren - durch Malen, Bauen, Handeln.
Der Lebenszusammenhang ergibt sich aus dem Zusammenhang der vergegenständlichten Ereignisse bzw. aus ihrer Entwicklungstendenz auf das Lebensziel hin. Was aber, wenn ich kein Lebensziel habe, wenn ich keines kenne?

Lebensziele können prinzipiell (willkürlich) gesetzt werden. Oder aus der Natur- und Sozialgeschichte abgeleitet werden. Wir unterscheiden dabei Lebensziele des einzelnen Menschen (Freiheit von Zwängen, Befriedigung, Einsicht in Notwendigkeiten, Lustgewinn, soziale Geltung, Bildung, Glück, Gesundheit usw.) und Lebensziele der Gattung Mensch (Naturbeherrschung, Erhalten der Gattung, Befreiung von Natur- und Sozialdeterminanten, Evolution, Wahrheit usw.)

Wieder sind vier Stunden diskutiert. Wieder die Frage: Wie kommen wir mit dieser Thematik zur Thematik der Ausstellung?
Wieder Verweis auf das Thema: Wie lassen sich Ziele im täglichen Leben dingfest machen? Doch zuvor noch ein Exkurs über die (philosophische) Letztbegründung von Lebenszielen durch 'Wahrheit'.

Fazit: Kann man leben, denken und handeln, ohne sich auf Letztbegründungen durch 'Wahrheit' zu beziehen? Denn Letztbegründungen geben Halt, sie stützen. 'Glauben' als Letztwahrheit ist beispielsweise sicherer als die Letztbegründung 'Zufall'. Unsere heutige Unsicherheit gründet auf dem Fehlen solcher letzten Wahrheiten.

Doch zurück: Wie lassen sich Lebensziele vergegenständlichen? Historisches Beispiel: Die Mönchsgemeinschaft des Benedikt von Nursia, im Jahre 512. Übersetzung einer Glaubenspraxis in das Absolvieren eines Tagesablaufes. Die Lebensorganisation bestand in extremer Arbeitsorganisation: Ackerbau, Pflanzen kultivieren und einer Reihe weiterer schwerer Tätigkeiten; Mehraufwand an Arbeitszeit wurde durch Verkürzung des Schlafes ausgeglichen.

Heutige Beispiele: Die Vergegenständlichung von Lebenszielen im Jesuitenorden, beim Militär und in der Bürokratie. Vorwurf - die 'Verselbständigung' des Formalen.

Sprung zu Thomas Mann: Ideen hat jeder Trottel, der lebendig lebt und in die Welt hineinschaut. Ein Schriftsteller aber ist man erst, wenn man sich zwingt, jeden Tag um 8 Uhr am Schreibtisch zu sitzen und eine Seite zu füllen.
Wie aber kann man das erreichen? Wie kann man heute erreichen, Ziele zu haben?

Wie kann man sich täglich auf solche Ziele verweisen?

2.5.4 Der Lebenszusammenhang, 3. Erkenntnisstufe: Wie Vergegenständlichungen orientieren?

Jetzt lebt das Auditorium auf. Jeder darf aus seiner Wohn- und Arbeitswelt Gegenstände nennen, die für ihn - bewußt oder unbewußt - etwas vergegenständlichen.

Matthias EBERLE - Co-Autor der Ausstellung - hat ein Hufeisen an der Wand. Eine Dame hat ein fotografisches Selbstbildnis in ihrem Arbeitsraum, aus einer Zeit, "wo ich noch was geleistet habe". Brock: Sich an sich selbst, nicht an einem anderen zu orientieren, ist die höchste Leistung.

Viele haben Selbstgestricktes an den Wänden. Dinge, die sie gemacht haben, 'Handlungsresultate', die einen daran erinnern, was man leisten kann.
Beispiel aus dem öffentlichen Leben: Denkmäler als 'Identifikations-Aufforderung'. Denkmäler also mit permanentem Aufforderungscharakter. Erkenntnis: Warum haben wir heute so wenig Denkmäler, die Ziele darstellen? Weil wir keine darstellbaren Ziele mehr haben? In der Sowjetunion beispielsweise ist der Begriff ‚Held’ durchaus sprachlich benutzbar. Gegenfrage: Gibt es denn aber heute Denkmäler, die heutige ‚Lebensziele’ darstellen? Auch nicht.

Aber wir haben ja uns als ‚Modedenkmäler’. Der Mensch repräsentiert, was für 14 Tage, für ein Jahr, für mehrere Jahre gilt. Dieses Verhalten entspricht dem Fehlen der Denkmäler.

Gegenstände, die der Vergegenständlichung von Zielen dienen, sind keine Fetische, sondern Gebrauchsgegenstände, sozusagen auf einer höheren Ebene. Darin unterscheiden sich beispielsweise sogenannte Kunstwerk-‚Fetische’ von modischen Artikeln. Modische Artikel haben zum Ziel, mich mit anderen zusammengehörig erscheinen zu lassen.

Auch Anti-Moden und Un-Moden. Ihr negativer Wert liegt darin, daß erst sie es erst sind, die ein Kollektiv konstituieren. Ohne ihre vermittelnde Funktion ist keine kollektive Verbindung möglich.

Bazon Brock trägt einen ‚Reisealtar’ mit sich. Ein immer gegenwärtiges Ensemble von Gegenständen, die ihm täglich bestimmte ‚Ziele’ vergegenständlichen.
Verweis zur Thematik der Ausstellung: „Bei der Untersuchung von Lebensformen ist man zunächst veranlaßt, von zwei Möglichkeiten ihres Zustandekommens auszugehen. Erstens: die Lebensformen können vorgegeben sein. Zweitens: die Lebensformen können als Ausdruck bewußter und zielausgerichteter Organisation durch den Betroffenen selber verstanden werden . . . Werden vorgegebene Lebensformen benutzt so wollen wir von organisiertem Leben sprechen, werden Lebensformen bewußt oder willentlich durch diejenigen, die sie praktizieren, selber entwickelt, so wollen wir sie als inszeniertes Leben kennzeichnen“ (Brock).

Frage: Verraten meine Lebensäußerungen, meine Lebensformen, inwieweit dort Inszenierung oder Organisation sich ausdrückt? Vorschlag: Solche Lebensäußerungen festschreiben fixieren, um sie zu untersuchen. Zum Beispiel mit einem ‚fotografischen Notizbuch’, einem billigen Fotoapparat. Die entstehenden Bilder sind dann transportabel gemachte Ereignisse, transportierbare Vergegenständlichungen von Lebensäußerungen.

Eine spezielle Nutzungsform des fotografischen Notizbuches: der abfotografierte Tageslauf. Brock machte da eine Untersuchung mit seinen Hamburger Studenten. Ergebnis: Die verschiedensten Menschen haben erstaunlicherweise den gleichen Tagesablauf. Die meisten vergeuden ihren Tag damit, zu überlegen, für welche der vielen Möglichkeiten, den Tag zu verbringen, etwas Bestimmtes zu tun, man sich entscheiden soll. Fazit: Am leistungsfähigsten für die Organisation eines Tagesablaufs ist ein Formalschema. Der Fabrikarbeiter hat ein solches vorgegebenes Schema. Viele Menschen sind aber in der glücklichen Verfassung, es sich selbst geben zu können.

Bei der Analyse eines Tagesablaufs stellt sich die Frage: Wie häufig wechselt man am Tage seine soziale Umgebung? Offensichtlich besteht nämlich eine Beziehung zwischen der Anzahl solcher Wechsel und der Produktivität eines Menschen. Im Rahmen der Lebensorganisation läßt sich dieser Sachverhalt bewußt einplanen. Zum Beispiel durch eine Art der Wohnungseinrichtung, die verschiedene soziale Umgebungswechsel erlaubt. (Mehrere Schreibtische, Wechsel des Bodenniveaus, differenzierte Einrichtungsgegenstände.)

Frage an Brock: Betrachten Sie den menschlichen Körper auch als organisierbare Gegenstandsebene? Antwort: Aristokraten beispielsweise gelten als steif, ordnungsliebend und leistungsfähig. Und sie ertragen mehr Schmerzen. Untersuchungen der englischen Oberschicht haben gezeigt, woher diese besonderen Eigenschaften kommen: durch eine hochgradige Formalisierung der Arbeitsabläufe. Ebenso Offiziere: Sie werden geradezu darauf gedrillt, sich nicht aus Lebenssituationen herauszukatapultieren, die sie bewältigen sollen.

Weitere Frage: Wieviel Platz bleibt überhaupt noch in einem total organisierten Leben für spontane Kontakte mit Medien und Menschen? EBERLE: Erstens lernen mich die anderen Menschen ja als geplanten Menschen kennen. Zweitens habe ich als geplanter Mensch keine ungeplanten Freunde. Brock, versöhnlicher: Früher sagte man, „man muß auf andere Rücksicht nehmen“; heute sagen wir, man muß sich gegenseitig auf die Formen seiner Lebensorganisation verständigen. Auch das also eine soziale Leistung: Die Selbstdarstellung als Orientierungshilfe für andere.

Zurück zur Orientierungsfunktion, die Vergegenständlichungen leistet. Beispiel aus der Architektur: Die Gedächtniskirche in Berlin. Eine großartige Leistung, die Ruine nicht abzuräumen, sondern sie gleichsam im Zustand ihres Verfalls zu konservieren. (Das Bauwerk verweist auf den Gestaltungswillen einer kulturellen Epoche, seine Zerstörung gleichzeitig auf die Folgen dieser Art Kultur.)

Gedanke von Brock: Wir sollten uns unserem eigenen Leben gegenüber ähnlich verhalten wie ein Archäologe. Unser Lebensmaterial (die vergegenständlichten Ereignisse) ist dann vergleichbar mit den 'archäologischen Scherben', aus denen der Archäologe wieder Zusammenhänge rekonstruiert. Von der Psychologie her kennen wir dieses Zusammenfügen vergangener Ereignisse. (Jedoch: Die Archäologie deckt heute öfter Ausgrabungsfelder wieder zu, damit das gefundene Material nicht durch noch unzulänglichere Untersuchungsmethoden zerstört wird. Ähnlich die Psychoanalyse: Man wendet in bestimmten Fällen nur eine Teiltherapie an, solange man theoretisch noch im dunkeln tappt.)

Alte Aufzeichnungen in Büchern, alte Fotografien, die Kastanie vom letzten Urlaub in der Tasche sind solche ‚archäologischen Scherben’. Sie vergegenständlichen Ereignisse und Ziele. Aber deren bloße Aneinanderreihung ergibt nicht schon den Lebenszusammenhang. Wie ist er herstellbar? Worin besteht er?

Wenn wir Biographien lesen, suchen wir immer einen ‚roten Faden’ und benutzen ihn für unseren Lebenszusammenhang.

Warum lesen so viele Menschen Lore-Romane? Weil dort am deutlichsten Lebenszusammenhänge aufgezeichnet sind. Jeder Teil eines solchen Romans, jeder Schritt des abgebildeten Lebens (des Grafen, des Arztes, des armen Mädchens usw.) steht in einem Zusammenhang mit dem absehbaren Lebensziel (Erfolg, Glück).

Diese auf 100 Seiten erlebbare Abfolge zielgerichteter, begründeter Lebensschritte macht die Beliebtheit solcher Romane aus.

Wir müssen auch etwas wollen. Es genügt nicht, eine Biographie nur haben zu wollen – daraus ergeben sich Konsequenzen. Anfang: Mein jetziger Zustand kann als bisher erreichtes Ziel gelten; aber wie in der Navigation ist nicht schon die Standortbestimmung gleich der Zielbestimmung. Sondern nur die Voraussetzung für sie.

Weiter: die formulierten Ziele müssen operationalisiert werden. Dazu lassen sich beispielsweise auch alte Lebensmuster nutzen (‚CLAUSEWITZ für Manager’). Wichtig dabei sind weiter bestimmte Verhaltensmuster, Lebensformen und eben die als bewußte Orientierungsmittel eingesetzten Gegenstände. Brock: Das Festliche, die rituelle Gewandung, ist Voraussetzung – und ‚letzte Konsequenz’ – für die Durchsetzung des Wollens. Als CAESAR den Rubikon überschritten hatte, stand er auch nicht mit hochgekrempelten Hosen da, ein Taschentuch auf dem Kopf. Gerade in den straff geordneten sozialistischen Ländern stehen Orden und Ehrenzeichen wieder hoch im Kurs.

Gedanklicher Sprung zum Begriff ‚Geschichte’. Brock: Geschichte ist das Herstellen der Differenz. Fremdenführer, die im alten Pompeji sagen . . . „und hier sehen Sie das Schlafzimmer“ . . . verhunzen Geschichte. Weil das Schlafzimmer damals nicht das von heute, nicht unser ‚Schlafzimmer’ ist. Wesentlich ist gerade der Unterschied zwischen damals und heute. Die große Leistung der Geschichtsschreibung besteht gerade darin, etwas in seiner Fremdheit aufzubauen.

Wieder der Einwurf: Wir plaudern gebildet und gekonnt, aber gehen am Ende des Seminars frustriert auseinander. Dies ist doch aber ‚ein Trainingsseminar’! (Beifall). Brock faßt noch einmal zusammen: Das Wohnen, die Lebensziele, der Lebenszusammenhang. Ab Seminarende soll sich jeder fragen: Wie gut repräsentieren welche Gegenstände in der Wohn- und Arbeitswelt welche Lebensziele?

Frustration übrigens, sei das erste positive Ergebnis des Seminars. Der erste Ansatz für den Beginn einer bewußten Lebensorganisation. (In Ostasien gibt es den schreienden Kopf an der Wand. Diese Plastik vergegenständlicht den ‚Schrei der Erkenntnis’.) Brock: Häufige Reaktion ist das Bekenntnis „ich weiß überhaupt nichts mehr“; Lern-Psychologen kennen dieses Gefühl als das Problem des Aneignens des Gelernten. Ein Psychologe: Frustration ist eine Art Indikator, der anzeigt, wie nahe man dem Ziel ist.

2.5.6 Der Lebenszusammenhang, 4. Erkenntnisstufe: Wie wir uns vergegenständlichen

Im Vorraum der Seminarräume des Internationalen Design-Zentrums sind Spiegel aufgebaut. Und zwar so, daß sich der Betrachter gleichzeitig von allen Seiten betrachten kann. Jeder Seminarteilnehmer soll da mal hindurchgehen und beginnen, sich – seinen Gang, seine Gestalt, seine Bewegungen – kennenzulernen.

Zu Beginn des Seminars wurden die Teilnehmer aufgefordert, zwei Fragen zur Thematik des Seminars vor einem Video-Recorder zu beantworten. Die gleichen Teilnehmer wurden am Schluß des Seminars noch einmal um die Beantwortung der gleichen Fragen gebeten. Aus der Art der Antworten und des Verhaltens vor der Kamera sollten Hinweise auf den Lebenszusammenhang entnommen werden. Aus der Differenz der beiden Antworten und Verhaltensweisen sollten Rückschlüsse auf die Wirkung des Seminars gezogen werden.

(Theorie: Kommunikationstechniken ermöglichen nicht nur Kommunikation, sondern sie motivieren vor allem dazu.)

Hier sind die beiden Fragen. Vielleicht ist es für den geneigten Leser, der bis hier zu folgen sich die Mühe machte, doch auch ganz interessant, eine Selbstdarstellung zu versuchen:

„Jeder von uns fühlt sich des öfteren von anderen mißverstanden, da unser Selbstbild nicht mit dem Bild übereinstimmt, das sich andere von uns machen. Beschreiben schildern, zeigen Sie, wie Sie von anderen gesehen werden möchten.“

„Nehmen Sie an, daß Sie krebskrank sind – ohne Heilungschancen. Was würde Sie als Summe Ihres Lebens (Ihrer Erfolge, Erfahrungen, Erkenntnisse, Glaubensgewißheiten) anderen Menschen als Botschaft hinterlassen?“

*Die 3 Familien (Ackermann = Unterschicht, Berger = Mittelschicht, Cornelius = Oberschicht) sind als ‚Idealtypen’ im Sinne Max WEBERs, nicht im Sinne von ‚ideal’ zu sehen. Sie decken sich teilweise mit den populären Persönlichkeitstypen David RIESMANs (auf den die Rezeption merkwürdigerweise keinerlei Bezug nimmt), allerdings nur insoweit, als die Ackermann-Familie dem eher außen- (und mode-) geleiteten Typus, die Cornelius-Familie dem traditionsgesteuerten (bürgerlichen) Typus zugeordnet werden kann. Die Berger-Familie jedoch ist nicht als der innengeleitete Idealtypus zu sehen, als den ihn die Rezeption häufig mißverstand (und von dem ihn die Ausstellungskonzeption vielleicht auch nicht deutlich genug abgrenzt). Die Berger-Familie wäre eher einem neuen Persönlichkeitstypus der nachbürgerlichen Zeit zuzurechnen, den man als technokratischen Typus bezeichnen könnte, dessen Lebensform vom Rationalitätsbegriff industriegesellschaftlichen Managements durchdrungen ist. Der ideale innengeleitete Subjekt-Typus, der die Steuerungsmechanismen Tradition, Mode, Berufsrationalität und ihre Angebote an Lebensformen auf seine eigenen Lebensentwürfe zu verpflichten weiß, war in der Ausstellung nicht vertreten. Vgl. zur Beschreibung dieses letzten Typus den neueren Aufsatz ‚Die Rolle der Persönlichkeit im Kulturbetrieb’ (in Band I, Teil 1.5). – Anm. d. Herausgebers.

Arbeitsplatz ACKERMANN, Bild: © Christian Ahlers.
Arbeitsplatz ACKERMANN, Bild: © Christian Ahlers.
Arbeitsplatz BERGER, Bild: © Christian Ahlers.
Arbeitsplatz BERGER, Bild: © Christian Ahlers.
Arbeitsplatz CORNELIUS, Bild: © Christian Ahlers.
Arbeitsplatz CORNELIUS, Bild: © Christian Ahlers.
Wohnung ACKERMANN, Bild: © Christian Ahlers.
Wohnung ACKERMANN, Bild: © Christian Ahlers.
Wohnung BERGER, Bild: © Christian Ahlers.
Wohnung BERGER, Bild: © Christian Ahlers.
Wohnung CORNELIUS, Bild: © Christian Ahlers.
Wohnung CORNELIUS, Bild: © Christian Ahlers.
IDZ Berlin Ausstellung "MODE - das inszenierte Leben", Bild: Plan zur Kontroll-Liste.
IDZ Berlin Ausstellung "MODE - das inszenierte Leben", Bild: Plan zur Kontroll-Liste.

siehe auch:

  • Fernsehbeitrag

    Sender Freies Berlin

    Fernsehbeitrag · Erschienen: 25.11.1973, 22:35 Uhr · Station: Sender Freies Berlin · Length: 45 min