Unter dem Titel ‚Erinnerungen ans Kommende‘ als Vorwort verfaßt zu dem Katalogband ‚Gertrud von HOLZHAUSEN. Portraits Imaginaires‘, Bernhard & Co., Darmstadt 1972.
Für jeden Menschen ist der Zusammenhang seines Lebens in den unterschiedlichsten Entfaltungen seiner Lebensäußerungen von entscheidender Bedeutung: wie ist das, was wir gestern waren und was wir vorgestern taten, mit dem, was wir heute sind oder morgen zu erreichen beabsichtigen, derartig verknüpfbar, daß Leben nicht nur eine Addition von Lebensäußerungen bleibt, sondern 'unser Leben' werden kann?
Die Frage gilt der Bedeutung des Gewesenen, jeweils schon Gelebten fürs Kommende, dessen Ausrichtung auf ein Ziel gelingen muß, damit jenes Kommende nicht ein angstmachendes Unbestimmtes bleibt.
Paniktreibende Unbestimmtheit der Zukunft kann aber nicht dadurch gedämpft oder ausgeschaltet werden, daß wir freiweg bodenlose Spekulationen und ausgemalte Phantastereien an den Horizont der Erwartung kleben: damit würde die Zukunft nur das schon Gewesene: damit würden wir uns gerade um das bringen, was Zukunft jeweils sein kann. Zukunft als Ziel anzunehmen, kann nur darin gelingen, daß wir das Gewesene als bestimmend erkennen, als eine Reihe von Bedingungen, deren Einheitlichkeit und Zusammenhang eine Konsequenz entwickeln. Zukunft als Ziel verbürgt das Herstellen einer solchen Möglichkeit von Konsequenzen aus dem Vergangenen:
Zukunft als Ziel garantiert das bloß Vergangene und nicht mehr Einholbare als Geschichte und darin als Bedeutung für uns.
Nun scheint es heutigen Künstlern und Literaten, ja sogar den Historikern und Philosophen nur noch schwer möglich zu sein, solches Geschichtlichwerden des Vergangenen sichtbar zu machen: was eben nichts anderes heißt, als daß es kaum mehr möglich zu sein scheint, das Vergangene noch auf die Wirklichkeit des Gegenwärtigen zu beziehen. Denn die jeweilig Lebendigen in den Zusammenhang mit sich selbst und mit ihren eigenen vergangenen Lebensäußerungen zu bringen, setzt eine Leistung der Subjekte voraus, die nur von wenigen noch erbracht wird: Erfahrungen zu machen. Erfahrungslosigkeit der modernen Subjektivität ist jedoch nicht Schicksal, wie die herrschende Bewußtlosigkeit glauben machen will. Erfahrungslosigkeit der Subjekte wird nicht bedingt durch Herrschaft des nichterfahrbaren Allgemeinen; denn solche Objektivität ist immer erst das Resultat der Arbeit des Subjekts durch seine Fähigkeiten, Erfahrungen zu machen und in ihnen die zufälligen und vereinzelten Bestimmungsgrößen des Lebens in allgemeine Geltung zu überführen. Deshalb meint die beklagte Erfahrungslosigkeit und Bestimmungslosigkeit der modernen Subjektivität immer auch die Ohnmacht, Objektivität zu erzielen. Wo Erfahrungslosigkeit der Subjekte und damit deren Bestimmungslosigkeit herrscht, bleibt auch das mögliche Allgemeine nur willkürliche Anhäufung von Bruchstücken.
Erfahrungen zu machen, ist nicht eine spezifische Leistung von Künstlern und Wissenschaftlern, aber sie haben doch eine Reihe von Verfahrensweisen entwickelt, mit denen man bessere Chancen hat, Bedingungen für ein Handeln zu erreichen, aus dem Erfahrungen hervorgehen könnten. Daß unsere Erfahrungsfähigkeit so außerordentlich verkümmert ist und unsere Subjektivität so verkommen konnte, wird eben darin zusätzlich begründbar, daß wir solche Verfahrensweisen der Konstruktion von Erfahrung nicht mehr anwenden können: sie scheinen einen Formalismus der künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeit zu bewirken, der uns schreckt und der unters Verbot der Inhaltlosigkeit fällt. Um so wichtiger werden für uns beispielhafte Leistungen von Menschen, die mit Konsequenz und Unnachgiebigkeit die Konstruktionen von Erfahrung betreiben. Wobei solchen Versuchen gerade dann Beispielhaftigkeit zukommt, wenn sie nicht einer professionellen Anstrengung von Berufskünstlern und Berufswissenschaftlern entspringen, sondern von der Gegebenheit eines Lebens ausgehen, das sich nicht in die bloße Übernahme von Rollen aufspreizen will; wenn es also nicht um spezialistische Demonstrationen, sondern um generelle Anleitungen zur Lebensorganisation geht. Daß bei solchen Versuchen nebenbei auch noch Resultate von künstlerischer Autonomie entstehen, ist zwar beachtenswert, nicht aber das Ziel der Arbeitsanstrengung. Konsequente Durchführung eines Arbeitsganges und eines Verfahrens hat immer die Dimension künstlerischer Verselbständigung, auch wenn sie außerhalb des sozialen Handlungsfelds 'Kunst' praktiziert wird.
Gertrud von Holzhausens Konstruktionen von Erfahrung sind fUr uns von solcher Beispielhaftigkeit. Ihr Vorgehen ist das eines Künstlers in den Techniken der Zeichnung. Zufallsoperationen des Bleistifts auf dem Papier werden in einem gewissen Automatismus der Geste erzeugt: Kritzeleien, Strichraster, informelle Strukturen. Ist eine bestimmte Materialdichte auf dem Blatt erzeugt, werden einzelne Strukturfelder ausgezeichnet - in vagen Umrissen zunächst, grob und versuchsweise: die Ausrichtung der materialen Gegebenheiten auf dem Blatt geht in Richtung auf die Hervorbringung einer Formation der Striche, die als Portrait eines Menschen erkannt werden können.
In dem Moment, in welchem solche erste Erkennbarkeit möglich wird, beginnt die eigentliche Konstruktion der Erfahrung durch: erstens das Erkennen des Entstandenen als ein bereits Erfahrenes, das an immer schon ausgebildeten Mustern der Zusammenfassung von Erscheinungsmomenten zur Gestalt sich orientiert; zweitens durch die Bestimmung des Entstandenen aus der Erfahrung von sozialem Geschehen, in welchem solche Gestalt auffindbar wäre. Zu solchen Operationen gehört Kenntnis eben dieser Wahrnehmungsmuster und der sozialen Geschehen, in denen sich die Wahrnehmungsmuster aktivieren: ein Gesicht als Portrait zu bestimmen, ist nur denkbar, wenn man über ausreichend große Kenntnis der Faktoren verfUgt, die ein Gesicht zum Gesicht eines bestimmten Menschen machen, oder die eine Geste und Handlungsweise zur Charakterisierung eines einzelnen Menschen machen. Nur die soziale Situation und die sozialen Handlungshorizonte lassen einen Menschen erkennbar werden, soweit wir nicht einfach das für wirklich annehmen, was uns jemand als seine wesentlichen Kennzeichnungen vorgibt. Was er von sich glaubt und was er für uns ist, sind zwei unterscheidbare Größen.
Gertrud von Holzhausen portraitiert ja niemanden, der etwa vor ihr säße oder den sie vor sich sähe, sondern die zeichnerische Materialisation erzeugt ein Angebot an die soziale Wahrnehmung der Zeichnerin. Indem sie auf das Angebot ihrer eigenen Hervorbringungen eingeht, bringt sie sich selbst ins Spiel; so wird sie selber Bestandteil ihrer Konstruktionen - und darauf kommt es bei der beschriebenen Beispielhaftigkeit des Vorgehens an. Was sich da der Willkür eines formalen Vorgehens verdankt, wird auf dem Hintergrund dieser Objektivation durch Leben zu einer Formulierung dessen, was wir selber sind oder gewesen sind. Das absolvierte Leben, die bestandenen Lebenssituationen aktivieren sich in der Gegenwart des künstlerischen Operierens und werden darin aufbewahrt, anschaubar, vergegenständlicht.
Was man in den Anderen sieht, ist bestimmt durch die sozialen Situationen und Handlungshorizonte, in denen man selber einstmals vorkam. So wird das Gewesene und Vergangene in den Zusammenhang mit der gegenwärtigen Handlung eingebracht. Was einstmals unausgerichtet, ja ziellos durchgestanden oder erlebt wurde, wird zur Erfahrung, d.h. zur vergegenständlichten, wiederholbaren, zur Verfügung stehenden Zukunft: zur neuerlichen Handlungsfähigkeit.
Objektivation des eigenen Lebens in den Hervorbringungen wird verstärkt durch die wortsprachliche Formulierung des sozialen Wahrnehmungshorizontes: Gertrud von Holzhausen erzählt in ihren die Zeichnungen begleitenden Texten keine Geschichten oder Biographien, sondern gibt sich selbst und dem Betrachter eben jenen sozialen Erlebnishorizont vor, aus dem erst und ausschließlich das 'gezeichnete' Gesicht zum Portrait oder zur Aussage eines Menschen über sich selber wird.
Die Texte sind nicht etwa deshalb notwendiger Bestandteil der Objektivation, weil die Zeichnungen selber nicht differenziert genug wären, um allein eine Aussage zu stützen. Alle künstlerische Objektivation ist auf solche Vorgabe oder Angabe von Bestimmungsgrößen angewiesen wie die Zeichnungen von Gertrud von Holzhausen. Leider wissen das die meisten Künstler nicht oder überlassen es der Rezeptionsfähigkeit ihrer Adressaten, selber einen Hintergrund der sozialen Wahrnehmung auszubildern - zumeist den des Betrachters. Da aber die üblichen Portraitzeichnungen in solchen Fällen nicht die Hervorbringungen des Betrachters sind, umfassen sie nur die halbe Wirklichkeit des Vorgangs. Erst ein Vorgehen wie das von Gertrud von Holzhausen ist eine vollständige Rezeption; ja, ihre Zeichnungen sind nichts anderes als beispielhafte Rezeptionen sozialer Geschehnisse. Solche vollständige Rezeption ermöglicht eine die Selbstwahrnehmung übersteigende Erfahrung des Rezipienten. Erst in solcher vollständigen Rezeption konstruiert sich Objektivität. In ihr ist Rezeption auf examplarische Weise eine Aktivität, nämlich Handeln als Aneignung von sozialer Wirklichkeit.
Hinzuweisen bleibt auf die Tatsache, daß diese Holzhausenschen Vorgehensweisen nicht auf platte Evidenz spekulieren, also nicht nur standardisierte Erfahrungen reproduzieren, nicht nur Klischees ausbeuten und dadurch die Übereinstimmung mit dem Betrachter ermöglichen. Immer und in jedem Portrait und in jeder Biographie wird die Vorstellung, die sich beim Betrachter auch unmittelbar einstellt, erweitert. Trotzdem glaubt der Betrachter, einem ihm bekannten Sozialcharakter oder einem Individualcharakter in den Zeichnungen und Texten zu begegnen. Das beweist, in welchem hohen Maße Gertrud von Holzhausen tatsächlich die Objektivation gelingt: die Konstruktion von Erfahrung.