Action Teaching Performancefestival „Die Unendlichkeit des Augenblicks. Aufführungskünste nach Beuys“

02.-06.06.2021

Grüne Energie
Grüne Energie

Das Kulturbüro Wuppertal hat vom 2. bis 6. Juni 2021 ein Festival veranstaltet, das sich wissenschaftlich und künstlerisch mit der Wirkkraft der Kunst von Joseph Beuys auf performative Tendenzen in der Gegenwartskunst auseinandersetzte. Gerade im performativen Bereich hat Joseph Beuys der zeitgenössischen Kunst entscheidende Impulse verliehen. So führte das Performancefestival internationale sowie lokale Künstlerinnen(-kollektive), deren Arbeit unterschiedlichste Berührungspunkte zur Aktionskunst von Beuys aufweisen, und Wissenschaftler zusammen. Das Festival fand an verschiedenen Orten in Wuppertal statt.

Das Festival wurde kuratiert von Bettina Paust (Kulturbüro der Stadt Wuppertal), Barbara Gronau (Universität der Künste, Berlin) und Timo Skrandies (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf).

Bazon Brock und die Denkerei mobil veranstalteten am 2.06.21 von 12-22 Uhr das Happening „‘Ich trete aus der Kunst aus!‘ Eine höchst verführerische Anleitung von Joseph Beuys zur Überbietung der Künste durch die Autorität der Kulturen“ – in Anlehnung an das 24-h-Happening von 1965 – mit Heinz Bude, Robert Fleck, Peter Heeren, Annekathrin Kohout, Anne Linsel, Hans Ulrich Reck, Silke Rehberg, Stephanie Senge, Wolfgang Ullrich und Lambert Wiesing – in Kooperation mit der Galerie Grölle pass:projects, Wuppertal. Organisatorische Betreuung: Jürgen Grölle, Marina Sawall, Julia Wessel.

Bazon Brock leistete wie Joseph Beuys einen fundamentalen Beitrag zur Weiterentwicklung performativer und partizipativer Konzepte in der Kunst des 20. Jhds. Gemeinsam nahmen beide Künstler z.B. am 24-Stunden-Happening der Galerie Parnass 1965 in Wuppertal teil. Aus dem ‘Action Teaching’ der 1950er Jahre entwickelte Bazon Brock eigene performative Vermittlungsformen wie z.B. die ‘Besucherschule’ auf mehreren Documenten. So wie Beuys mit seiner Formel “Jeder Mensch ist ein Künstler” einen erweiterten Kunst- und Werkbegriff geprägt hat, der die Grenzen zwischen Kunst und Leben verschoben hat, so hat dies Bazon Brock mit seinem Credo “Jeder Mensch ist ein Denkmal” vollzogen. Als „Denker im Dienst und Künstler ohne Werk“ prägen unzählige Aktionen und Lecture Performances sein Werk, ebenso wie seine Tätigkeit als Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung an mehreren Hochschulen, zuletzt an der Bergischen Universität Wuppertal. Um den 100sten Geburtstag seines Weggefährten zu begehen, hat Bazon Brock verschiedene Gesprächspartner*innen eingeladen, um sich in jeweils einstündigen Etappen dem Gedankenkosmos von Beuys zu widmen und einzelne Aspekte seiner Kunst und seiner Person in einer Lecture Performance von Mittag bis Mitternacht zu beleuchten.

Termin
02.06.2021, 11:30 Uhr

Veranstaltungsort
Wuppertal, Deutschland

Veranstalter
Kulturbüro der Stadt Wuppertal, Denkerei mobil, Galerie Grölle pass:project

Veranstaltungsort
Livestream

Einführung

Bazon Brock – Transkript des Vortrags

Beuys sagte einmal "Wer nicht denken will fliegt raus". Er hat mehrere Anweisungen zum Umgang mit ihm selbst gegeben. Die meisten glauben, die Anweisungen gelten anderen Menschen, aber es war immer auf ihn selbst bezogen. Die für heute programmatische Aussage heißt, "Ich trete hiermit aus der Kunst aus". Was heißt das? Die Jünger sitzen nicht mehr an der Abendmahlstafel. Jesus selbst ist auch nicht mehr ausgezeichnet. Dafür sitzt jetzt das Publikum um das Abendmahlgeschehnis herum. [Abb. 3] Denn wenn man aus der Kunst austritt, wird das Abendmahl ja nicht mehr gemalt. Die Frage ist, inwieweit ist das, was an die Stelle dieser künstlerischen Arbeit träte, noch repräsentierbar? Wir haben das getan, indem wir die entscheidenden Publikationen mit Verweis auf die jeweilige Position der Arbeit an Beuys, mit Beuys, durch Beuys hier repräsentiert haben. Das sind sozusagen die verwandten Brotkrumen - und das Brot des Geistes ist eben das Buch. Das sind die Bücher, auf die wir uns in unserem Zyklus unmittelbar beziehen wollen und auch eine Empfehlung an jedermann. [Abb. 4-8]

Aber vorher ein Hinweis, damit wir uns nicht missverstehen: Wenn wir uns mit der Unterscheidung von Kunst und Kultur beschäftigen, dann sollten wir klare Begriffe benutzen. Es ist eine weltgeschichtliche Einmaligkeit: Nur in Westeuropa hat es seit dem 14. Jahrhundert, seit 1350 mit Petrarca, die Möglichkeit gegeben, dass einzelne Menschen, die ja wie alle Menschen aus dem kulturellen Kontext hervorgehen – sie kommen qua Geburt in eine Essgemeinschaft, Familiengemeinschaft, Beziehungsgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft – sich, wenn sie gehört werden wollen, aus der Legitimation durch die Kollektive befreien. Das ist deswegen nur in Europa geschehen, weil es nur hier die Voraussetzung dafür gab, dass jeder Mensch die Unmittelbarkeit zu Gott für sich reklamieren konnte. Es ist unvermeidlich, wenn man überhaupt von Menschen spricht, das Individuum als die entscheidende Autorität anzuerkennen, schließlich laufen alle Distinktionen auf die Lebensumstände und Lebensformen der einzelnen zu. Nur in Europa hat es das, gestützt auf die christliche Theologie, gegeben. Die Unmittelbarkeit des einzelnen zu Gott hat es in keiner anderen Religion oder Kultur gegeben, weil dieses Motiv in die Begründung von Autorität selbst eingreift. Denn wenn jemand als Individuum sprechen will, dann kann er sich nicht auf die Religionen, Armeen oder Parteien beziehen, sondern er muss sich auf sich selbst berufen können. Das ist das Prinzip der Autorität durch Autorschaft, dass ein einzelner zur Aussagenautorität wird, ausschließlich dadurch, dass er etwas als Autor sagt. Diese Autoren können erst die Rolle des Wissenschaftlers oder des Künstlers ausüben.

In Florenz entsteht um 1450 ein Konflikt zwischen den Künstlern und Wissenschaftlern auf der einen Seite und den Vertretern der Kollektive auf der anderen Seite. Alles, was neu ist, kann nur von den Individuen gesagt werden, weil Kulturen dazu da sind, Stabilität zu garantieren. Sie sind nicht auf Veränderung angelegt, sondern auf Festigkeit, Behauptung der Verhältnisse. Ritualisierung ist die Einführung des Ewigkeitsprinzips durch Wiederholung. Diese Konfliktlage hat sich dann als fruchtbar erwiesen, als Florenz und einige andere oberitalienische Stadtstaaten sich bewusst gemacht haben, dass das, was die Autorität durch Autorschaft, also die Kraft der Ohnmacht, hervorgebracht hat, außerordentlich nützlich für die weitere Stabilisierung der Gesellschaften sein kann. Denn man stellte fest, dass Gesellschaften ungeheuer viel veränderten, um diese Stabilität zu garantieren. Man muss ungeheuer viel verändern, damit alles so bleibt, wie es ist. Das ist das Generative für die Kultur selbst. Kulturen halten nur so lange, wie sie darauf ausgerichtet sind, sich selbst als stabil zu erweisen.

Das Neue kommt in die Welt durch diese ahnungslose, hoffnungslose Individualität in ihrem Verlangen zu überleben, sich selbst als eine Individualität zu generieren, die sich von anderen abgrenzt und unterscheidet.
Auf diese besondere Situation geht die ganze 600-jährige Geschichte Westeuropas zurück, die dazu führte, dass die europäischen Kulturen Weltherrschaft erlangten über die bis dahin mächtigsten Kulturen wie die chinesische oder die indische.

Was Beuys geradezu pathetisch verkündet: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus!“ bedeutet offensichtlich einen Bruch mit dieser 600-jährigen Geschichte Westeuropas. Wenn er sagt, ich trete aus der Kunst aus, dann tut er genau das, was heute bis auf 10% der Staaten, die Demokratien sind, fast alle Gesellschaften der Welt, von Künstlern und Wissenschaftlern verlangen: Sie sollen aus der Behauptung der Autonomie der Kunst und Wissenschaft wieder austreten und sich unter den Primat der Kulturen begeben.

Hat Beuys also vorweggegriffen im Hinblick auf das, was heute der Fall ist, nämlich die Autonomie der Autorschaft wieder aufzuheben? Hat er visionär etwas gesehen oder befürchtet oder von sich aus sogar befördern wollen?
Was hieße das dann also, wenn eben das Abendmahl nicht mehr gemalt wird, wenn der Tisch leer bleibt, wenn das Hochamt nicht mehr vollzogen werden kann, wenn sich das Brot des Lebens wirklich auf Papier oder heute auf digitale Aufzeichnungsverfahren reduziert? Wo ist dann das Leben?

Was hat Beuys gemeint, was hat ihm vorgeschwebt? Ich habe ja sehr lange mit ihm zu tun gehabt, vor allem in den Anfangsjahren. Das begann schon 1953 im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, wo er zum ersten Mal eine öffentliche Demonstration seiner Ansprüche vorgetragen hat. Dann folgten das 24 h-Happening von 1965 sowie weitere Zusammenkünfte mit Vertretern der Familie Baum, ,mit dem Begründer der Galerie Parnass, Rolf Jährlings, mit einigen Architekten und mit einem Kulturdezernenten, der später ganz große Wunder vollbrachte, sodass wir unsere Aktivitäten von Wuppertal nach Köln verlagern konnten.

Was also hat Beuys gemeint, wenn er nicht kapituliert hat, wenn er nicht tatsächlich das betrieb, was ihm einige Leute vorwarfen, nämlich bewusst seine Künstlerschelte jetzt objektiv zur Geltung zu bringen, das heißt, die Position der Künstler und Wissenschaftler radikal zu schmälern zum Vorteil seiner gesellschaftlichen Arbeit? Wenn er all das nicht gemeint hat, was hat er dann meinen können? Da geht es um etwas ganz Grundlegendes, was auf viele seiner Statements zutrifft. Er hat etwas ganz Simples und Einfaches gemeint, das im Artikel 5,3 GG weltweit einmalig repräsentiert wird: nämlich die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. D.h. die Autorität durch Autorschaft wird per grundgesetzlicher Vorgabe gewährt. Das hieß in einer dezidierten Beuysschen Lesart: Wie vermittelt man den Anspruch der Individuen auf Autorität durch Autorschaft, das heißt durch die Macht der Ohnmacht? Art. 5,3 GG regelt ja die Beziehung zwischen den Individuen als Autoren und den Kollektivautoritäten, die die Herrschaft im Wirtschaftsleben, in der Erziehung, in der Politik etc. vorantreiben.

Beuys hat sich das Modell der Beschreibung der Tätigkeit von Abgeordneten vorgenommen. Das geht zurück auf die Figur des Gestors, die Justinian geschaffen hat. Ein Gestor ist ein Mensch, der stellvertretend für andere spricht. Das ist die Vorform des Begriffs Burger (jemand, der im Schatten einer Burg lebt). Ein Burger, also Bürger, ist in der Lage, für die Gemeinschaft, in der er lebt und überlebt, zu sprechen. Er vertritt mehr Interessen als seine eigenen.

Beuys hat sich ständig auf dieses Modell berufen, weil im Begriff des parlamentarischen Abgeordneten, den er am meisten zitiert hat, vorgegeben wird, wie die Autorität durch Autorschaft der Individuen mit der Arbeit in den kulturellen Kollektiven verbunden werden kann, nämlich durch die grundgesetzlich festgeschriebene Garantie, dass der Abgeordnete niemandem verpflichtet ist außer seinem eigenen Gewissen, obwohl er in einer kulturellen Institution arbeitet. D.h. in je höherem Maße sich jemand in die Parteiarbeit oder die Wirtschaft als kulturelle Sphären integriert, desto höher ist die Verpflichtung, sich in dieser Position ausschließlich seiner individuellen Fähigkeit zum Urteil zu überlassen. Die dialektische Finte war: je größer der Integrationsgrad, desto größer wird die Fähigkeit, individuelle Urteilskraft durchzusetzen. Das muss man sich in Erinnerung rufen, wenn man überhaupt etwas von Beuys verstehen will. Das war der Impuls, durch den er dann auch versucht hat, aus der Kunst auszusteigen, um gesellschaftlich, also kulturell zu wirken.

Dazu gibt es eine zweite Überlegung: Als Zeichner und Plastiker war Beuys einmalig, aber als einmaliger Künstler kann er ja keinerlei Wirkung haben. Alle, die ihn nachmachen wollten, wären ja als bloße Epigonen das Gegenteil dessen, was man erreichen will, um Einmaligkeit und Größe zu demonstrieren. Also kann ein Künstler, wenn er die genuine Kraft hat, individuell zu legitimieren, keine Jüngerschaft bilden. Mit anderen Worten: Er hat kein Echo. Nachahmungstäterschaft beim Zeichnen und Skulpturieren kommt nicht infrage, also ist die einzige Möglichkeit, dass ein Künstler die Fähigkeit entwickelt, durch Integration oder durch Beweglichkeit in diesen kollektiven Legitimationssystemen seinen Anspruch auf individuelles Urteil durchzusetzen. Wenn jemand als Künstler ein Wirkungsecho haben will, muss er sich außerhalb der Kunst im Gesellschaftlichen legitimieren.
Die Frage ist aber, wie weit er sich dort durch die Autorität der Autorschaft legitimieren muss, wenn man doch jederzeit vereinnahmt wird mit solchen Sinnsprüchen wie „Jedermann ein Künstler“, die scheinbar das Gegenteil dessen darstellen, was Beuys sich vorgenommen hatte?

Beuys hat in Wuppertal die Geschichte des Färbermeisters Bayer verstanden, der die lokalen Überlieferungen, wo der Nibelungenschatz im Rhein untergegangen sei, als Grundlage für die Gründung seiner Chemiewerke gesehen und den Mythos sofort auf die industrielle Realität übertragen hat. Solche Übergänge aus einer historisch tradierten Spur in die technologische Lebenswelt der Neuzeit haben Beuys fasziniert. Bekanntestes Beispiel (alle Fluxus-Leute und auch ich als der Re-Flux mussten diese Prüfung bestehen) ist der Übergang von Kommunikationstechniken des vorindustriellen Zeitalters zu den heutigen, vom Tamtam zum Telefon: Beuys entwirft das Erdtelefon; Vostell legt den Oberschenkelknochen eines Rindes auf die Telefongabel; Brock beantragt einen Telefonanschluss ins Grab und lässt die Nummer ins Telefonbuch eintragen.

Das war die erschließende Arbeit an der Kraft der Mythologie. Darin war Beuys ganz groß, er hat das höchste Niveau dieser Fähigkeit im 20. Jahrhundert erreicht. Wir haben alle immer wieder gehört, wie weit er sich auf Rudolf Steiner oder auf Wagner beruft. Denn die Herkünfte dieser Spiritualpraktiken aus der Wagnerei und aus dem großen Welterziehungsprojekt von Steiner dürften ja heute jedem bekannt sein. Aber das waren keine Kuriositätenkabinette, sondern es war die dominante Begründung von Moderne. Die gesamte Moderne ist nichts anderes als eine Bewegung in der Tradition des Mythos oder der Spiritualität der Mystiker oder auch der Geisterseherei, die gerade die Aufklärungskunst in Europa bestimmte (deshalb konnten sich sogar die Nationalsozialisten als modern verstehen). Swedenborgs Geisterseher sind Kants Quelle. Kant hat über Swedenborg Vorlesungen gehalten. Die Aufklärung ist getragen von dieser Spiritualbewegung, die eben nicht von der Rationalität abgegrenzt und ausgegrenzt werden kann, sondern die diese Rationalität begründet. Veit Loers hat in seiner grandiosen Arbeit „Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915“ die gesamte Geschichte der Modernen Kunst und der theoretischen Begleitung aus den Naturwissenschaften nachgewiesen. [Abb. 9]

Dieses Verhältnis findet sich natürlich erst recht bei Richard Wagner. Und um gleich den Einwand zu widerlegen, dass wer dieser Spur folgt, unbedingt konservativ, nationalistisch etc. sein müsse, verweise ich auf die Einspielung der „Walküre. 1. Aufzug“ von Bruno Walter, Lotte Lehmann u.a., 1936 in Wien eingespielt. [Abb. 10] Weil sie von Hitler hinausgeworfen worden waren, zeigten sie, begleitet von jüdischen Intellektuellen, was es heißt, Wagner tatsächlich aufzuführen, um das zu erreichen, was in der Wagnerschen Vorgabe an Modernität und nicht an Mittelalterlichkeit steckt. Die ganze Modernität wird von dieser Orientierung auf die Mythen, auf die Spiritualität, auf die Magie, also auf alle vormodernen Praktiken getragen. Auch im 20. Jahrhundert können weit über den europäischen Kontext hinaus alle Ansprüche auf Modernität unmittelbar mit Voodoo begründet werden. Gute Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie es mit Voodoo-Praktiken aufnehmen kann. Wer das geleugnet hat, war Max Weber. Er irrt vollständig, indem er behauptet, dass durch die zunehmende Rationalisierung der westlichen Lebensformen alle diese Fähigkeiten verloren gegangen seien, z.B. durch die absterbenden Instinkte. Er sprach von der „Entzauberung der Welt“. Was für ein Irrsinn! Er lebte schließlich in einer Zeit, in der Max Planck die Quantentheorie und Albert Einstein die Relativitätstheorie begründeten. Sie kennen alle den Zusammenhang von James Joyces literarischer Imagination und der Quanten- bzw. Kleinteilchenphysik bzw. der Analyse des Zellkerns, wo die entscheidende Formation „Quark“ genannt wird. Das ist ein Begriff, den Joyce stiftete. Nie war die Welt zauberhafter, nie war sie imaginativer, nie war sie spiritueller geprägt als in der Kleinteilchen- oder Astrophysik.

Dabei sieht man, wer der Stifter dieser gesamten Bewegung der Einheit von Glauben und Wissen, von Spiritualität und Rationalität ist, nämlich Leibniz. Er hat mit der Infinitesimalrechnung, also mit dem Rechnen mit dem Unendlichen gezeigt, dass das Unendliche nicht die Jenseitswelt, nicht die andere Welt ist. Das Unendliche ist die notwendige Einheit des Endlichen selbst. Unendlichkeit ist eine Zeitform – deshalb heißt es auch die Dauer des Augenblicks – und nicht das Gegenteil von Zeitlichkeit. Das Unendliche ist also nicht das, wo die Zeit aufhört. Leibniz zeigt mit der Infinitesimalrechnung – und das ist die Grundlage der modernen Technologie –, dass Unendlichkeit eine Form der Bestimmbarkeit des Endlichen ist. Daher war es nicht mehr möglich, zu behaupten, es gäbe einen Unterschied zwischen Glaubenssätzen der Naturwissenschaftler oder denen der Mystiker. Denn wenn Wahrheit im naturwissenschaftlichen Sinne eine Aussage ist, die wir alle akzeptieren, weil sie nicht nur auf einen Urheber zurückgeht, dann gilt das genauso für den Mythos. Auch der Mythos ist eine urheberlos gewordene Aussage. Von der Struktur her und damit auch von der potentiellen Wirksamkeit her stimmen wissenschaftliche Wahrheit und der Mythos vollkommen überein. Deswegen konnten zum Beispiel alle faschistischen Systeme oder ganz linke wie bei Stalin ohne weiteres glauben, die Wissenschaft in Dienst nehmen zu können für irgendwelche scheinbar gegen die Modernität gerichteten spirituellen Annahmen.

Wie ist dieser Zusammenhang begründet? Dem gilt eigentlich alles, was hier an Büchern zusammengetragen wurde im Hinblick auf die Diskussion dieser Probleme bei Beuys. 

Ich verweise nur darauf, dass wir heute, fast auf den Tag genau, vor 110 Jahren – 2 Tage fehlen – die erste weltweit wahrgenommene Demonstration dieser Zusammenhänge erlebt haben, nämlich Strawinskys „Sacre du Printemps“ (zeigt Aufnahme des Nijinskischen Balletts – Abb. 11-12): Frühlingsriten, Frühlingsopfer. Hier wird gezeigt, wie ein archaischer Anspruch des Weltzusammenhangs unmittelbar mit dem der Moderne übereinstimmt, in dem Fall dem der modernen Musik, sodass man damit in keinem Sinne die Abwehr all dieser gefährlichen, angeblich irrationalen Momente im Namen der Rationalität demonstrieren könnte.

Das ist der Kern des Zusammenhangs: Wenn ich sage, „Hier ist das, was wir mit Vernunft vertreten können bis zu dieser Grenze“, dann ist, wie Hegel entgegnet hat, klar, dass die Fixierung der Grenze unmittelbar das Interesse am Jenseits der Grenze hervorruft. Wenn das die Rationalität betrifft, dann ist die andere Seite die Irrationalität. Rationalität muss dann also notwendigerweise die Fähigkeit sein mit dem Jenseits umzugehen, einen vernünftigen Gebrauch davon zu machen. Das ist das Entscheidende. Rationalität besteht also darin, das Irrationale, den Mythos et cetera als wirksam anzuerkennen und damit umzugehen.

Moderne heißt also nicht – das gilt nur für Europa, weltweit wird das jetzt anders – Trennung von säkular und sakral, weltlich und geistlich, Diesseits und Jenseits, sondern ganz im Gegenteil: die notwendige Ineinssetzung beider, um sie jeweils bestimmen und in Dienst nehmen zu können, wie Leibniz das mit der Infinitesimalrechnung vorgemacht hatte. Das ist Modernität. Alles andere ist der Humbug, gegen den man sich angeblich absetzen will. Beuys ist also ein Exponent der Orientierung auf Modernität, die genau diesen Zusammenhang von Rationalität und Irrationalität, von Glauben und Wissen, von Spiritualität und Vernunft demonstriert.

(Brock zeigt auf den Comic an der Wand: „Vielleicht bin ich viel zu zurückhaltend, wenn ich sage, Herr TEDDY hat Sorgen… Vielleicht ist es KOSMISCHE TRAUER, die ihm das Lachen verbietet? Er sieht die Gaswolken und Spiralnebel und weiß, nichts dort draußen meint ihn…“ – Abb. 13)
Es gibt wunderbare Beispiele heutiger künstlerischer und literarischer Arbeiten, die diesen Geist tragen. Hier zum Beispiel Volker Reiche mit seinem Comic „Strizz“. Das hat das Format der großen soziologisch orientierten Romane der Franzosen wie zum Beispiel bei Zola. Sie sehen da den jungen Sohn, der auf der Suche nach dem Vater, nach der Wahrheit etc. ist. Sie sehen, es ist für ihn „kosmische Trauer, die uns jedes Lachen verbietet“, wenn er feststellt, dass „dort draußen nichts“ uns meint. Das ist der Beginn aller Reflexion, aller kultureller Prägung, Ausprägung von Glaubensvorstellungen etc.

In dieser Hinsicht bin ich heute auch beladen mit Sternenstaub (zeigt auf seine Schärpe, siehe Abb. 14), das ist ein Meteorit, der 2,4 Milliarden Jahre alt und nachweislich in Nordafrika unter wissenschaftlicher Aufsicht geborgen worden ist. Wie kommt es zu dieser Struktur auf dem Meteorit, die man hier sehen kann, wenn doch nichts uns meint? An der Struktur sehen wir schließlich, da sind wir gemeint, als diejenigen, die sie erkennen können.

Im zweiten Bild des Comics überträgt der kleine Junge das Motiv der kosmischen Trauer dann auf seinen Alltag. [Abb. 15] Sie sehen, wie er – ein Waisenkind natürlich, wie jeder Mensch ein Gotteswaise ist, ein Waisenkind im ursprünglichsten Sinne – auf ein Schränkchen an der Wand blickt, das leer ist. Sofort kommt ihn der Schauder vor dieser Leere an und er muss sofort anfangen, diesen Ort mit Vorstellungen, mit Ereignissen zu belegen, wie Beuys es in der „Intuitionskiste“ vorgibt, die wir hier im Video von Jürgen Grölle sehen [Abb. 16-17]: Corpus quasi vas: Der Körper ist gleichsam ein Gefäß, in das der Geist eingefüllt wird. Sie müssen nun also selber tätig werden. Das ist der Begriff, den Beuys bestimmt hat: Intuition. Alles, was man in die Hand nimmt, ist nur das, was es sein kann durch die Fähigkeit des Nutzers, es intuitiv in das umzuprägen, es damit zu besetzen, zu belegen, was ihn trägt.

Von dieser Vorgabe her können wir eine Vielzahl der Demonstrationen der Autorität durch Autorschaft durch Joseph Beuys im Laufe der heutigen Konferenz ansprechen. Am wesentlichsten ist sicher „Wie man dem toten Hasen die Kunst erklärt“ (1965). Dazu gibt es gleich eine Aktion von Silke Rehberg. Dann die Überfahrt über den Rhein („Heimholung des Joseph Beuys“, mit Anatol Herzfeld 1973), das alte Motiv, wie Jesus mit den Jüngern über den Jordan setzt und sie beruhigen muss bei aufkommendem Sturm. Das Entscheidende dabei ist: Es geht nicht ohne das Lächeln, aber es ist kein Zustimmungslächeln, es ist kein Seligkeitslächeln, sondern es ist das Lachen der Verzweiflung. Wenn Beuys die Zähne bleckte und wieherte wie ein Pferd, dann wusste man, dass es der Ausdruck des Schmerzes ist, die die Trense im Maul des Pferdes bereitet. Wenn er lachte, schauderte man. Man hatte nicht das Gefühl der Annäherung, sondern der absoluten Kälte, die ihn auch auf Situationen hin hielt wie im nächsten Bild gezeigt wird, das ihn innerhalb der Aachener Aktion „Neues Festival der Kunst“ 1964 zeigt. Er hat immer nur mit den symbolischen Objekten aus der Spielzeugwelt gearbeitet. Hier hat er dem Attentäter ein aufklappbares Springkreuz entgegengehalten. Die letzte Attitüde ist Ihnen allen bekannt: „I mean you“ (Portrait, ca. 1985), das ist die große Verweisung der kulturellen Autorität auf die Individuen. Die Herrscher, die Mächtigen verwiesen auf Fotografien und im Film seit dem Ersten Weltkrieg auf das Individuum und sprachen es an: „Wir wollen Euch“ als Käufer, als Wähler etc. Die Frage ist, wenn man auf diese Weise angesprochen wird, wie kann man dann die Autonomie als Individuum, die Autonomie der Kunst noch wahren? Da kommt wieder das Beispiel des Abgeordneten ins Spiel, der im Kollektiv, in der Kultur seine individuelle Urteilsfähigkeit behauptet.

Einführung von Bazon Brock. Wuppertal, 2. Juni 2021
Einführung von Bazon Brock. Wuppertal, 2. Juni 2021
Hiermit trete ich aus der Kunst aus - Joseph Beuys
Hiermit trete ich aus der Kunst aus - Joseph Beuys
Die Jünger sitzen nicht mehr an der Abendmahlstafel.
Die Jünger sitzen nicht mehr an der Abendmahlstafel.
Das Brot des Beuys'schen Geistes
Das Brot des Beuys'schen Geistes
Brot des Geistes II
Brot des Geistes II
Brot des Geistes III
Brot des Geistes III
Brot des Geistes IV
Brot des Geistes IV
Brot des Geistes V
Brot des Geistes V
Veit Loers: Okkultismus und Avantgarde
Veit Loers: Okkultismus und Avantgarde
Bruno Walters Einspielung der „Walküre. 1. Aufzug“ von Richard Wagner
Bruno Walters Einspielung der „Walküre. 1. Aufzug“ von Richard Wagner
Sacre du Printemps I
Sacre du Printemps I
Sacre du Printemps II
Sacre du Printemps II
Strizz I
Strizz I
Sternenstaub
Sternenstaub
Strizz II
Strizz II
Montage: Gehirn über Beuys' Intutionskiste. Ausschnitt aus Video von Jürgen Grölle
Montage: Gehirn über Beuys' Intutionskiste. Ausschnitt aus Video von Jürgen Grölle
Beuys' Intuitionskiste. Ausschnitt aus Video von Jürgen Grölle
Beuys' Intuitionskiste. Ausschnitt aus Video von Jürgen Grölle