Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 304 im Original

Band VIII.6 Wer die Wahrheit sagt wird über kurz oder lang dabei ertappt

Wissenschaftsprobleme und Kunstdidaktik

Wissenschaftsprobleme und Kunstdidaktik

Den Auseinandersetzungen um den Geltungsanspruch der verschiedenen Gestaltungslehren scheint ein zentraler Angriffspunkt gemeinsam zu sein, nämlich die Frage, inwieweit diese Lehren wissenschaftlichen Kriterien genügen. Man glaubt, seine Lektion vor allem aus der Geschichte der Jahre 1930 bis 1955 gelernt zu haben. Deshalb bringt man die Anwürfe gegenüber Kunst- und Gestaltungslehren nicht mehr unmittelbar unter Verweis auf den sogenannten gesunden Menschenverstand vor, sondern als mehr oder weniger grundsätzlichen Zweifel daran, daß diese Lehren im Kanon der universitären Wissenschaften ernstzunehmen seien.

Eine Reihe unbewältigter Probleme des wissenschaftlichen Arbeitens wird dadurch überbrückt, daß man an ihre Stelle Gepflogenheiten treten läßt. So kann derjenige in den Verdacht geraten, nicht wissenschaftlich zu arbeiten, der diese Gepflogenheiten nicht für sinnvoll hält - obwohl deren Einhaltung offensichtlich den Zweck erfüllen würde, einen Aussagenanspruch, der innerhalb Wissenschaften betreibenden Institutionen erhoben wird, mit dem Prädikat »wissenschaftlich« zu versehen und den Aussagenanspruch damit zu rechtfertigen.

1 Kenntnisnahme und Anerkennung von Aussagenansprüchen

Gegen eine der auffälligsten, wenn auch zunächst harmlosesten dieser Gepflogenheiten hilft selbst notorische Verspottung nicht. Mögen alle auch höhnend die Anzahl der pro Seite verteilten Fußnoten als Maßstab für Wissenschaftlichkeit weit von sich weisen - so ganz frei von diesem Kriterium schweift kaum ein Kollegenblick über die Seiten der zahllosen Neuerscheinungen, die man blätternd danach sortiert, ob man sich ihnen zu widmen habe oder nicht.

Und das hat gute (Hinter-)Gründe. Nehmen wir bona fide an, die Fußnoten gälten dem Nachweis für eine im Text getroffene Tatsachenbehauptung, die einem fremden Text entnommen sei. Und nehmen wir ebenfalls an, daß gegenwärtig kaum Anlaß besteht, die Tatsachenbehauptung als gerechtfertigte anzuzweifeln, wenn sie von einer Aussagenautorität übernommen wurde. Sind die Nachweise mehr als der Versuch, die Evidenz für die Schlüssigkeit eines Aussagenanspruches zu erhöhen?

Egdar Wind gibt auf diese Frage eine Antwort. Es geht Wind an jener Stelle um die Erschließung eines Emblems von L. B. Alberti auf einer Medaille des Veronesers M. Past. Das Emblem (oder zeitgenössisch eindeutiger: die Impresa) besteht aus der Inschrift »Quid tum« und der Darstellung eines geflügelten Auges. Wind erschließt das Emblem durch Entfaltung der von der Warburgschule inaugurierten Methode der Ikonologie. Das Fazit lautet nach langen, auf bewunderungswürdige Weise analysierenden und synthetisierenden Überlegungen anhand zeitgenössischer Quellen mit den Worten Albertis: »Die Alten verglichen Gott mit einem Alles und Jedes sehenden Auge. So sind auch wir gehalten, Gott zu verstehen als allgegenwärtig, vor dem alle unsere Taten und Gedanken offenliegen. Deshalb sind wir selbst (die Menschen, Brock) verpflichtet, stets wachsam und umsichtig zu sein.«

Das »Quid tum« ist nach dieser von Wind gefundenen Stelle aus Albertis Dialog 'Anuli' nicht als rhetorische Phrase zu werten, obwohl das Motto Cicero entnommen ist; sondern als Verweis auf den Dies-Irae-Vers »Quid sum miser tunc dicturus« zu verstehen, als »Deshalb eben«.

Und nun folgt bei Wind jene Aussage, derentwegen ich ihn hier anführe. »Es ist lohnend, sich daran zu erinnern, daß Karl Giehlow mit seiner außerordentlichen Hellsicht für Renaissance-Hieroglyphen die Bedeutung des Albertischen Emblems erschlossen hat (1915! Brock), ohne die einschlägigen (the exactly relevant texts) historischen Quellen gekannt zu haben. Giehlow kannte weder die entsprechende Formulierung von Plutarch, noch kannte er das ›Quid tunc‹ und Paulus' ictu oculi im Dies Irae-Vers, ganz zu schweigen von dem Albertischen Dialog ›Anuli‹. Statt dessen bezog sich Giehlow zufolge Alberti auf Diodor… (der das Auge in ganz anderer Hinsicht interpretierte, Brock) und nahm an, daß das Motto nichts anderes sei als die rhetorische Phrase »Was also folgt daraus«. Giehlows intuitives Verstehen verweist darauf, daß der bildlichen Darstellung eigenständige Aussagekraft innewohnt, daß das Bild die universelle Sprache der Imagination spricht.«

Wenn dem so ist, merkt Wind an, »dann wird man wohl fragen, warum soll man die Mühen auf sich nehmen, einschlägige Texte zu finden, wenn es möglich ist, ohne die Kenntnis der Texte die korrekte Bedeutung eines Bildes zu erschließen. Die Antwort ergibt sich aus dem Schicksal von Giehlows Interpretation, die, obwohl sie im wesentlichen richtig war, dennoch nicht allgemein anerkannt wurde (which failed to gain universal acceptance). Historische Quellen werden nicht in erster Linie dafür benötigt, die Bedeutung eines Bildes zu erschließen, sondern vielmehr, um die erschlossene Bedeutung als schlüssige darzustellen (for its conclusive demonstration)!« Soweit Wind.

Das klingt ganz einleuchtend; jedoch gibt es wohl eine Fülle von Beispielen dafür, daß sogar in den Naturwissenschaften Aussagen nicht deshalb allgemeine Anerkennung fanden, weil sie schlüssig dargestellt oder begründet waren (obwohl man sich bei einem bestimmten Verständnis vom naturwissenschaftlichen Arbeiten in dem Glauben wiegen darf zu wissen, was allgemein als schlüssige Darstellung eines Aussagenanspruchs anerkannt wird). Und andererseits wurde vieles allgemein anerkannt, was durchaus nicht schlüssig begründet worden war.

Darüber hinaus: Giehlows Aussagen haben ja Anerkennung gefunden, wie nicht zuletzt Wind mit seiner Arbeit belegt. Sollte Winds Feststellung so zu verstehen sein, daß nur allgemeine Anerkennung gefunden hat, was unmittelbar nach der Veröffentlichung eines Aussagenanspruchs Anerkennung fand oder findet?

Dann wäre die überwiegende Zahl aller Aussagenansprüche selbst zu Zeiten nicht anerkannt worden, als man noch meinen konnte, die 'Allgemeinheit' der Anerkennung sei leicht überprüfbar, da die Zahl der Beteiligten am Fachgespräch gering war. Aber der möglichen Anerkennung muß ja die bloße Kenntnisnahme vorausgehen, die auch zu Beginn der institutionalisierten Wissenschaften schon unerhört schwierig war. Man sehe sich nur die Flut der Veröffentlichungen im Bereich der Ästhetik zwischen 1750 und 1800 an. Selbst ein Jean Paul, der es sich leisten konnte, sah gegen die Anforderung derartiger Massen produzierter Aussagen - die zur Kenntnis genommen und gegebenenfalls anerkannt werden sollten - kein anderes Mittel, als selbst eine weitere dickleibige 'Vorschule zur ästhetischen Erziehung' zu verfassen, die bis heute nicht allgemein zur Kenntnis genommen, geschweige denn allgemein anerkannt wird.

Ein bemerkenswerter Weg, mit den Problemen von Kenntnisnahme und Anerkennung fertigzuwerden! Wer gegenwärtige Schwierigkeiten in dieser Hinsicht für einmalig in der Wissenschaftsgeschichte hält, kann diese Auffassung nur vertreten, wenn es ihm nicht gleichgültig ist, ob man durch die Masse der Kenntnisnahme und Anerkennung gebietenden Publikationen nur zehnmal oder tausendmal >erschlagen< wird: Overkill für solche Wissenschaftler, die sich der Illusion hingeben, das Arbeiten mit allgemein anerkannten Aussagen schütze vor der Kenntnisnahme der nicht anerkannten; von den bloß noch nicht anerkannten ist - gemäß Wind - ohnehin zu schweigen.

Insofern ist das Schicksal der Giehlowschen Interpretation das der überwiegenden Zahl aller Aussagen. Deren Autoren würden aber noch zusätzlich gedemütigt durch die Behauptung, unmittelbare allgemeine Anerkennung sei ein Kriterium für die Bewertung eines Aussagenanspruchs.

Was könnte Wind beabsichtigt haben, wenn er nicht nur die Anerkennung durch einige wenige Leser, sondern die allgemeine Anerkennung zum Ziel jeder Erhebung eines Aussagenanspruchs macht? (Dabei habe ich durch die Übersetzung von 'universal' mit 'allgemein' schon das schwächste der möglichen Attribute gewählt.)

Nochmals: Giehlows Aussagen seien richtig - sagt Wind. Aber Giehlows Darstellung der Aussagen sei nicht schlüssig gewesen. Das gehe aus der Tatsache hervor, daß sie nicht allgemein anerkannt worden seien, und nur aus dieser Tatsache - denn anderes ist aus Wind nicht zu entnehmen. Was schlüssig ist? Die Darstellung, die allgemein anerkannt wird. Und allgemein anerkannt wird nur, was schlüssig ist. Eine traurige Wissenschaft!

J. B. S. Haldane erinnerte schon daran (wie heute Kuhn und Feyerabend), daß zum Beispiel James Watt annahm, Hitze sei körperliche Substanz; trotz dieser falschen Annahme führte Watt richtige Berechnungen aus, die ihn befähigten, die erste Dampfmaschine zu konstruieren. 4

Trotz falscher Quellenannahmen stellte Giehlow 'intuitiv' richtige Überlegungen an, die ihn befähigten, die Bedeutung des Alberti-Emblems zu erschließen. Quid tum? What then? Was also folgt daraus? Daß die Umkehrung des Ganzen genauso angenommen werden kann: Daß man also, ohne zu korrekten Aussagen gekommen zu sein, sie völlig schlüssig darstellen und begründen kann. Das ist der normalwissenschaftliche Fall, etwa der einer Didaktik, die sich als Methodenlehre der Darstellungsformen versteht, ohne sich darum bekümmert zu zeigen, ob das, was sie darstellt, auch 'korrekt' ist. Man muß nicht gleich zu der Argumentation des kritischen Rationalismus von Popper übergelaufen sein, um für die Normalwissenschaft zu unterstellen: Behauptungen, die schlüssig begründet sind, werden anerkannt. Ob sie deshalb auch zutreffende Behauptungen sind, ist eine ganz andere Frage.

Popper entledigt sich des Problems natürlich viel eleganter. Für ihn besteht wissenschaftliches Arbeiten darin, jegliche noch so evidente Schlüssigkeit zu widerlegen. Allgemeine Anerkennung verdient jemand, dem es gelingt, nichts für evident zu halten - vor allem die Begründung seiner eigenen Aussagen nicht.

Aber - für die Normalwissenschaft bleibt anzugeben, wann eine Begründung als schlüssig anzusehen ist. Eben dann, wenn die Begründung irgend jemandem evident zu sein scheint - und sei es dem Urheber der Behauptung selbst. Die Darstellung des Anspruchs auf wissenschaftliche Begründung ist Auslöser für die Bereitschaft des Lesers, sich auf fachspezifische Evidenzerlebnisse einzulassen.

Es könnte also riskant sein, auf derartige Auslöser zu verzichten - und stellten sie sich auch nur als Fußnoten dar. Riskant für die erstrebte Anerkennung, gar die allgemeine, die aber mit den Worten Albertis aus seinen 'Anuli' denn doch nicht so entscheidend ist: »Aussagen werden schließlich überall auf der Welt verstanden von allen, die befähigt sind, sie zu verstehen - und nur an diese Außerordentlichen sollte man sich mit seinen Aussagen wenden«.

Aber dies alles beiseitegestellt: Wind argumentiert offensichtlich im Sinne schlüssiger Darstellung anhand des 'Falles Giehlow' für seine besonders gewichtige Schlußfolgerung: »The case proves that the image has an inherent eloquence, that it speaks the universal language of imagination«.

Also - obwohl man möglicherweise die relevanten Quellen nicht kennt oder falsche Annahmen macht oder auch aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, schlüssige Begründungen zu geben - ist es dennoch möglich, ein Bild richtig zu erschließen, weil den Bildern eigenständige Aussagekraft innewohnt; sie sprechen die universale Sprache der Imagination.

Nun kannten ja wohl diejenigen, die Giehlows Begründung seiner Interpretation des Emblems zur Kenntnis nahmen, aber nicht anerkannten, ebenfalls die Pastimedaille. Warum sprach sie dann aber nicht zu ihnen - wo sie doch zu Giehlow sprach - in der allgemein zugänglichen Sprache der Imagination? Darauf sollte man doch wohl, wenn schon nicht schlüssig, so doch in irgendeiner Weise, antworten, zumal es bei Wind um eine der folgenreichsten Behauptungen ginge, träfe diese zu.

Wenige Zeilen weiter konstatiert Wind ausdrücklich, daß Albertis Emblem deutlich werden lasse, in welch hohem Maße ein großartiges Symbol das Gegenteil von rätselhaft sei - denn es werde nur um so lebendiger, sobald man sein Rätsel erschlossen habe.

Nehmen wir Panofsky zu Hilfe. Er greift auf eine von ihm dafür gehaltene historische Tatsache zurück. Tatsache sei, »daß in der älteren Kunst die Analogiebildung (zwischen Text und Bildkomplex, Brock) eine weit wesentlichere Rolle gespielt habe als die unmittelbar aus der Textstelle schöpfende Neubildung (eines Bildkomplexes, Brock)«. Diese Behauptung, mit Bezug auf Wind verstanden, würde etwa folgende Antworten auf unsere Fragen nahelegen:

  1. Nicht nur in der älteren Kunst ist die Analogiebildung zwischen Text und Bild wie zwischen Bild und Text wichtiger als Neuschöpfungen von gegeneinander eigenständigen Texten oder Bildern; das gilt prinzipiell.
  2. Die Sprache der Bilder ist deshalb universal, weil den Menschen nur in engen Grenzen Analogiebildungen zwischen Bild und Text wie Text und Bild möglich sind. (Universal sollte dann hier zumindest heißen: für alle Mitglieder einer Kultur in den verschiedensten Stadien ihrer Entwicklung.)
  3. Diejenigen, welche zwar Albertis Emblem kannten und Giehlows Interpretation zur Kenntnis nahmen, sie aber nicht anerkannten, waren wahrscheinlich aus dem zu begrenzten Verständnis wissenschaftlichen Arbeitens heraus nicht in der Lage, ihrerseits eine sprachliche Analogie zum Emblem zu bilden. Damit machten sie es unmöglich, daß das Bild zu ihnen sprach. Sie hielten Giehlows Interpretation für eine Neuerfindung, die nur aus anderen Textstellen schöpfte. In der Wissenschaft aber gehe es - so deren Selbstverständnis - nicht um Neuschöpfungen, sondern um schlüssige Begründungen. Auch verstanden sie nicht, daß Schlüssigkeit sich in nichts anderem erweisen kann als in der Evidenz. Denn zwischen Text-Bild- und Bild-Text-Analogien läßt sich schon allein aus Gründen der Eigenständigkeit der verschiedenen Medien - in denen die Analogien gebildet wurden - niemals mehr als strukturelle und intentionale Ähnlichkeit herstellen. Zwischen Analogien herrscht nichts als Evidenz.
  4. Alle Bilder - nicht nur die Impresen, Embleme, Allegorien, Symbole - werden nach ihrer Entschlüsselung durch Analogiebildung nur noch lebendiger, weil die Entschlüsselung ermöglicht, beständig zwischen den Analogien hin- und herzuwechseln in dem Versuch, die Dichte der Analogformulierungen mehr und mehr zu erhöhen. Aber es ist unmöglich, die Analogie schließlich vollständig zu identischen Übertragungen auszubauen - sie bleiben eben Analogien.

Wenn Giehlow aus diesen Gründen in der Lage war, die universale Sprache der Imagination des Albertischen Emblems durch Analogiebildung zu erschließen, dann wäre anzunehmen, daß es geschichtliche Entwicklung der Fähigkeit, Analogien zu bilden, nicht gibt.

Den Mitgliedern einer Kultur müßte es möglich sein, aus den verschiedensten Epochen dieser Kultur gleichermaßen evidente Analogien zu bilden. Das ist nicht der Fall. Es bleiben den einzelnen historischen Aussagen stets - über alle anderen Bedingtheiten der Analogiebildung hinaus - einige Aspekte, denen in der Analogiebildung nicht entsprochen werden kann. Und das sind gerade die Eigentümlichkeiten der historischen Epochen, anhand derer sich historische Entwicklungen der Aussagemöglichkeiten feststellen ließen. Wie aber kommt dann in den Analogien das Geschichtliche zum Ausdruck?

Durch die prinzipielle Unmöglichkeit, die Aussagen zu historischen Sachverhalten als schlüssige und zugleich ›korrekte‹ darstellen zu können. Auch die historische Differenz ist die Differenz von schlüssiger und richtiger Darstellung. Auf die Erzwingung der historischen Differenz in den Analogiebildungen hat in erster Linie alle Geisteswissenschaft - auch als Geschichte der Naturwissenschaft - einzugehen. Dabei hilft der Nachweis für Behauptungen von historischen Tatsachen nur wenig, denn die Tatsachen können immer nur von heute aus verstanden werden. Das Rätsel muß nicht erst in die Bilder und Texte hineingesteckt werden, es ist schon in ihnen - als Oppositionen. Das sind jene schöpferischen Aussagenkonstruktionen, von denen Panofsky spricht. Sie bestimmen sich nach dem Maßstab »systematischer Originalität und Folgerichtigkeit«. Sie entstehen nicht aus der vollzogenen Analogie, sondern aus der Verweigerung zu ihr. Jedes System ist insofern ein Rätsel, als man sich fragt, wie es denn möglich sei, rein axiomatisch Aussagenzusammenhänge zu konstruieren, ohne bloße Tautologien zu produzieren. Die Hieroglyphen der Renaissance waren solche Systeme der Verrätselung.

Entsprechend skeptisch steht man ihnen gegenüber in der Vermutung, derartige Spielereien könnten doch nichts einbringen, da sie doch bloß beliebige Festlegungen seien wie alle Systematisierungen. Aber diese schöpferischen Konstruktionen, diese Oppositionen als Entfaltungen autonomer, in sich geschlossener Systeme - diese systematischen Gedanken - sind ohne den beständigen Bezug auf die Analogiebildungen nicht lebensfähig. Und umgekehrt bliebe den Analogiebildungen die Entwicklung des Ausdrucks von Geschichtlichkeit unmöglich, würden sie ihren Zusammenhang untereinander sich nicht von der Konkurrenz, den systematischen, folgerichtigen, schlüssigen Ableitungen der Oppositionen holen. Panofsky erweiternd, könnte man von der Notwehrgemeinschaft von Analogie und Opposition sprechen.

Beide zu vereinigen ist unmöglich - und so wird auch in Zukunft jedem Aussagenanspruch begegnet werden können, wie Wind dem von Giehlow begegnete. Zwar sei er richtig, aber nicht schlüssig; oder umgekehrt: zwar schlüssig, aber nicht richtig.

Die Bilder und Texte sprechen zu uns, wenn wir zu ihnen eigene Analogien bilden können. Aber wie die Analogien je besonders miteinander in Beziehung stehen, und wie sie zusammen einen Sinn ergeben, das ist nur in der Bildung von systematischen Oppositionen zu entwerfen. Im Normalfall stellt uns unsere natürliche Alltagssprache diese systematische Ordnung in der Syntax zur Verfügung. Alle Oppositionen als Systeme sind Analogien zur Syntax von Alltagssprachen. Meiner Ansicht nach begehen Wissenschaftler am häufigsten den Fehler, nicht zu beachten, daß, weil die Systeme aus Analogien zur Syntax der Alltagssprachen gebildet werden, man deren Regeln niemals vollständig explizit darzustellen vermag. Das heißt nicht, daß man keine Systeme schöpferisch konstruieren könne, sondern daß Aussagen nicht deshalb schon richtig seien, weil sie systematisch entwickelt worden sind.

In der Literatur zur Didaktik der ästhetischen Erziehung wird allenthalben gefordert, das Lehren der Kunst- und Gestaltungslehren müsse endlich systematische Begründungen erhalten, damit es als Wissenschaft solle gelten können. Gelänge das – was Gott sei Dank nicht möglich ist -, dann würde wissenschaftlich begründete Didaktik zur bloßen formalen Ableitung pädagogischer Maßnahmen.

2 Wissenschaftliche Rituale

Der als Wissenschaftler weltweit beachtete Umberto Eco gibt in seiner Einführung in den Begriff »Zeichen« in anerkennenswerter Absicht eine bibliographische Übersicht zu dem von ihm behandelten Thema. Eco wünscht, daß »der Leser die Stellen, die Zitate, aus jenen Werken aufsucht«, die Eco für seinen Text verwandte. Zu Punkt 4 des bibliographischen Führers schreibt er: »Da dieses Kapitel eine Art Übersicht über die ganze Philosophiegeschichte darstellt, ist eine Bibliographie unmöglich. Hier kann man nur empfehlen, die im Text genannten Philosophen und, wenn möglich, auch die anderen zu lesen.«

Ein derartiges Vorgehen eines Wissenschaftlers, das leider weit verbreitet ist, darf man wohl mit Fug und Recht als einen Schwindel bezeichnen, der auch dadurch nicht verzeihlich wird, daß man ihn als unvermeidbare Konsequenz aus der Erfüllung eines Rituals wissenschaftlichen Arbeitens versteht. Hier wird ja nicht nur dem Leser anheimgestellt, bei Bedarf auf bestimmte Quellen zurückzugreifen. Es wird ihm vielmehr empfohlen, zur Vertiefung in das Problem, die »genannten Philosophen und die anderen« (die nicht genannten, Brock) der gesamten Philosophiegeschichte zu lesen. Eco legt die Vermutung nahe, er habe jene Werke gelesen, um zu seinen im Hauptteil des Buches wiedergegebenen Aussagen zu kommen. Das ist allein aus Gründen der beschränkten Lebenszeit eines Menschen völlig ausgeschlossen. Hinzu kommt, daß Eco ja nicht nur jene Werke der Philosophiegeschichte zu lesen und durchzuarbeiten gehabt hätte, sondern auch die von ihm in großer Zahl aufgeführten Werke der Sprach- und Kommunikationswissenschaften.

Hat hingegen Eco alle jene Werke nicht gelesen, sondern nur einzelne - wie kommt er dann zu der eben zitierten Empfehlung an den Leser? Er selbst wäre ja in diesem Falle ganz gut ohne die Empfehlung ausgekommen. Eco schrieb ja aber nicht nur diese Einführung in die Zeichentheorie, sondern entwickelte viele umfassende Aussagenzusammenhänge in anderen Werken, für die er den Status vorwissenschaftlicher Theorien beansprucht - und ja wohl auch weitgehend beanspruchen kann.

Welcher Arbeitsaufwand würde dem Leser bei der Aneignung all dieser Werke abverlangt, wenn schon die Durcharbeit einer Einführung in die Zeichentheorie derartige, alle zeitlichen Begrenztheiten des Lebens übersteigende Mühen verlangt?

Ist dergleichen Vorgehen nichts als eitle Unterwerfung unter ein wissenschaftliches Ritual, das dem Leser imponieren will, um die Statusdifferenz zwischen ihm und dem Autor als Experten nachdrücklich zur Geltung zu bringen? Werden da nur Geltungsansprüche für Aussagen reklamiert, weil sie angeblich aus der Anwendung anerkannter Regeln wissenschaftlichen Arbeitens hervorgegangen sind? Wäre dem so, dann müßte eine dieser Regeln etwa so lauten: »Gib an, daß du die gesamten Aussagentraditionen zu einem Problem kennst, indem du alle Autoren aufzählst, die sich seit hunderten, gar zweitausend Jahren mit diesem Problem beschäftigt haben; denn nur so vermagst du glaubhaft zu machen, daß deine eigenen Aussagen die bis dato verbindlichsten sind. Das wird dir um so besser gelingen, als du einfach so tust, als ob Fragen nach der Vergleichbarkeit von Theorien dir kein Problem zu sein scheinen, weil du ja mit dem Zustandekommen deines Textes beweist, daß du diese Fragen erfolgreich bearbeitet hast.«

Eine derartige Regel für wissenschaftliches Arbeiten gibt es nicht - wenn es auch die bloße Gepflogenheit bei vielen Wissenschaftlern zu geben scheint, alle anderen auf eine solche Regel verpflichten zu wollen.

3 Alles geht, wenn es geht!

»Wissenschaft hat mit Kunst das eine gemeinsam, daß sie - wie diese - einen unbestrittenen, in sich begründeten Wert darstellt, der unabhängig von der Parteizugehörigkeit des sie betreibenden Menschen ist. Im Gegensatz zur Kunst ist die Wissenschaft nicht unmittelbar allgemeinverständlich und vermag daher eine Brücke gemeinsamer Begeisterung zunächst nur zwischen einigen Individuen zu schlagen, zwischen diesen aber umso besser. Über den relativen Wert von Kunstwerken kann man verschiedener Meinung sein, obwohl auch hier Wahres und Falsches unterscheidbar ist. In der Naturwissenschaft aber haben diese Worte eine enge Bedeutung. Nicht die Meinungsäußerung von Individuen, sondern die Ergebnisse weiterer Forschung entscheiden, ob eine Aussage wahr oder falsch ist.«

Daß es sich bei diesen nachdrücklichen Bemerkungen des weltweit anerkannten Wissenschaftlers Konrad Lorenz nicht um Hinweise auf wissenschaftstheoretische Begründungen seines eigenen Aussagenanspruchs handelt, sondern nur um Gepflogenheiten der Selbstdarstellung eines Wissenschaftlers, vermögen allein schon einige Hinweise auf die Widersinnigkeiten der Argumentation zu zeigen.

Zunächst gesteht Lorenz Kunst und Wissenschaft einen unbestrittenen, in sich begründeten Wert zu. Gerade das kennzeichne ihre Vergleichbarkeit. Aber das eben noch als unbestritten Konstatierte wird sogleich bestritten - oder für bestreitbar gehalten: »Über den relativen Wert von Kunstwerken kann man verschiedener Meinung sein«; über den von wissenschaftlichen Werken offensichtlich nicht: Und zwar deshalb nicht - so Lorenz -, weil »in den Naturwissenschaften die Worte 'wahr' und 'falsch' eine enge Bedeutung« hätten. Gesteht man das einmal zu, obwohl es auch für die Naturwissenschaften längst andere Wahrheitsbegriffe gibt als den hier von Lorenz offensichtlich gemeinten einer adaequatio intellectus ad rem - dann bleibt ja wohl auch in den Naturwissenschaften darüber zu streiten, ob nun eine Aussage wahr ist oder nicht; denn empirische Befunde können auf die verschiedenste Weise zu ›Ergebnissen‹ verarbeitet werden, je nachdem, welche theoretisch begründete Fragestellung an die Befunde herangetragen werden kann. Das ist gerade vielen, nicht nur den bedeutendsten Naturwissenschaftlern, völlig unabweisbar, von Wissenschaftstheoretikern ganz zu schweigen: Sie vermögen zu zeigen, daß man gar nicht erst zu empirischen Befunden kommt ohne theoretisch begründete Fragestellung.

Eine Fragestellung theoretisch zu begründen, heißt vor allem zu fragen, wie man durch Untersuchung eines Sachverhalts zu Antworten auf die Fragen kommen könnte. Nicht nur 'die Naturwissenschaft' geht so vor; es ist kennzeichnend für jegliche Wissenschaft, weshalb es auch ganz unzulässig ist, wie Lorenz nur »die Naturwissenschaft« als Wissenschaft anzuerkennen (er sagt dies indirekt, da er sagt, daß nur in den »Naturwissenschaften die Worte 'wahr' und 'falsch' eine enge Bedeutung« hätten).

Wie sollte man angesichts der vielfältigen Versuche von Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern, »Kunst zu verstehen«, die Behauptung begründen, daß die »Kunst unmittelbar allgemeinverständlich« sei? Wenn dem so währe, würde sich gerade jener Streit der Meinungen erübrigen, den Lorenz der Kunst gegenüber für gegeben hält. Den Streit der äußerst konträren Meinungen im Hinblick auf den gleichen Gegenstand der Betrachtung gibt es; von Interesse ist gerade, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, warum es diesen Streit geben muß. Lorenz macht seine Bemerkung als Naturwissenschaftler, und dennoch kann - ganz gegen die von ihm dekretierte Voraussetzung - über diese Bemerkung sogleich gestritten werden, was ich hiermit demonstriere, obwohl sich Streit in diesem Falle nicht lohnt.

Was Lorenz zum Ausdruck bringt (vielleicht gegen seine eigentliche Absicht), ist eben eine Gepflogenheit mancher Wisssenschaftler, nur noch als Wissenschaft anzuerkennen, was sie selber dafür halten: nämliche ihre eigenen Aussagenkonstruktionen. Sie sichern sich für ihre Selbstdarstellung ab, indem sie ihre Auffassung von Wissenschaft zu der 'der Naturwissenschaft' insgesamt erklären - zur einzig wissenschaftlichen.

Das ist nicht akzeptabel, weil es keine Personen und Instanzen gibt, die auch nur die Gesamtheit eines wissenschaftlichen Teilgebietes repräsentieren - geschweige denn 'die Wissenschaft' zu repräsentieren vermöchten, was auch immer das heißen könnte.

Wenn man nur als tatsächlich wissenschaftlich anerkennt, was man selber in dreister Auto-Apotheose für die allein verbindliche Auffassung von Wissenschaft hält, dann wären auch die Betreiber einer »deutschen Physik« oder »leninistischen Biologie« völlig gerechtfertigt. Aber wären sie nicht auch gerechtfertigt, wenn man jegliche in sich geschlossene Konstruktion von Aussagenzusammenhängen als wissenschaftliche anerkennt? Zweifellos; doch wer zu solcher Anerkennung bereit ist, wird die Begrenztheit, ja Beschränktheit seiner eigenen Auffassungen immer in Rechnung stellen, und er wird damit zur nötigen Zurückhaltung gegenüber der argumentativen Kraft seiner Aussagenansprüche - die er gegen andere durchzusetzen bestrebt ist - gezwungen sein. Eine solche Zurückhaltung zeigten die Betreiber deutscher Physik oder Lysenkowscher Biologie nicht - allein deshalb sind sie als Wissenschaftler nicht gerechtfertigt. Lorenz hat das selber gegen Lysenkow vorgetragen; daß er dennoch selber die gleichen Fehlhaltungen zeigt, sollte erst recht dazu veranlassen, stets zu bedenken, daß das faktische Handeln eines Wissenschaftlers und sein expressis verbis vorgetragenes Selbstverständnis als Wissenschaftler zweierlei sind.

Feyerabend hat recht: Alles geht, wenn es geht!

Aber gerade deshalb sind Wissenschaftler wie Nichtwissenschaftler gehalten, die Aussagenkonstruktionen anderer nicht apodiktisch als unwissenschaftlich zu verurteilen - wie das Lorenz in der zitierten Bemerkung leider tut.

4 Theoretiker und Praktiker

Einer weiteren, nicht akzeptablen bloßen Gepflogenheit angeblich wissenschaftlichen Arbeitens möchte ich in Anmerkungen zu folgenden Aussagen entgegentreten: In der Einleitung zum jüngsten Großunternehmen, den Gesamtbestand der kognitiven Psychologie darzustellen, bemerkt Hans Aebli: »Der Empirismus sensualistischer Ausprägung liegt, wenn auch nicht mit Deutlichkeit formuliert, noch heute einem großen Teil des psychologischen und didaktischen Denkens zugrunde. Daß es zum Beispiel bis heute keine brauchbare Theorie der Anschauung und des anschaulichen Unterrichtes gibt, liegt daran, daß die Didaktiker ihre empirische Vergangenheit nie bewältigt haben; und wenn in modernen Lehrbüchern der Psychologie unter dem Titel der Begriffsbildung entweder die aristotelische Idee der Abstraktion oder aber Bruners Experimente über Begriffsfindung, die mit Begriffsbildung nichts zu tun haben, bemüht werden, so zeigt dies, daß auch die moderne Psychologie vor grundlegenden Problemen noch ratlos steht.

Die kognitive Wende in der Psychologie ist darum so wichtig, weil sie dem Theoretiker und dem Praktiker Antworten auf eine Gruppe von ungelösten Problemen verspricht, die insbesondere die höheren Lernprozesse betreffen… Was der kognitiven Psychologie bis heute aber noch fehlt, ist die Durchführung im Einzelnen…

Es ist immer ein wenig unheimlich, wenn man eindrucksvolle Theorien über das Denken und über das Problemlösen hat, aber nicht sagen kann, wie Wahrnehmung, Vorstellung, Gedächtnis und ähnliche dem Denken zugrundeliegende Prozesse funktionieren.«

Und Aebli fügt auch kurz noch an, worin die zentralen Annahmen der kognitiven Psychologie bestehen: »Damit das in den Sinnen Gegebene verarbeitet und sodann gedächtnismäßig gespeichert werden kann, muß es entweder sofort sprachlich verschlüsselt, also im einfachsten Falle benannt werden. Oder aber, seine Elemente müssen einzeln 'bemerkt' und gemäß einem - häufig hypothetischen - Plan zu einem strukturierten Bild verknüpft werden. Eigentlich wahrgenommen und gespeichert wird also nur diese Konstruktion, niemals das passive Abbild der Reizgegebenheiten. Die Analyse wird vom Ziel der Konstruktion - also der figuralen Synthese oder einer umfassenden Deutung – hergeleitet. Wahrnehmung ist 'Analyse durch Synthese'(wie Neisser den konstruktiven Akt umschreibend benennt)!«

Also: Auch die moderne Psychologie steht vor grundlegenden Problemen noch ratlos. Gehört die kognitive Psychologie nicht zur modernen? Verspricht sie doch - laut Aebli - dem Praktiker Antworten auf eine Gruppe von ungelösten Problemen. Wenn sie aber nur verspricht, ohne auch tatsächlich solche Antworten zu geben, wieso sollte sich der Leser dann auf die vierhundert Seiten von Neissers 'Kognitiver Psychologie' einlassen? Andernfalls stünde die moderne Psychologie eben nicht mehr ratlod da wie bisher. Wenn es aber darauf ankommen sollte, die Probleme kennenzulernen - gerade als ungelöste -,dann bestünde zwischen den bisherigen Ausführungen der modernen Psychologie und den nun von Neisser vorgelegten in der speziellen Hinsicht kein Unterschied, auf den Aebli aber gerade Wert legt.

Aebli meint: »Was der kognitiven Psychologie bis heute noch fehlt, ist die Durchführung im einzelnen.« Sollte Neisser diese Durchführung noch bieten, so fehlt sie ja auch nicht mehr. Heißt denn »durchführen« einfach »sagen, wie Wahrnehmung etc. funktionieren«? Das haben doch viele der Autoren moderner Psychologie »gesagt«, ohne daß sie nach dem Dictum Aeblis damit etwas ausgesagt hätten; sie hätten bestenfalls »eindrucksvolle Theorien über das Denken und Problemlösen« vorgelegt. Die aber sind Aebli unheimlich, weil in ihnen nur gesagt und nicht durchgeführt wurde, wie Wahrnehmung etc. funktionieren. Zunächst müßte also etwas gesagt werden (als eindrucksvolle Theorie), und dann müßte es durchgeführt werden. Wie sollte aber jemand zu einer eindrucksvollen Theorie des Denkens gekommen sein, wenn er nicht in ihr gesagt hätte, wie - seiner Theorie zufolge - Wahrnehmung etc. funktionieren? Denn - und das ist die besondere Pointe dieser Ausführungen - »jede durchzuführende Analyse wird vom Ziel der Konstruktion, eine umfassende Deutung zu geben, geleitet«. Als eine solche Konstruktion muß jegliche Theorie angesehen werden - und das in ihr über das Funktionieren von Wahrnehmungen etc. Gesagte. Aeblis - meiner Ansicht nach - gute Kennzeichnung der Leistung von kognitiver Psychologie sagt nichts anderes, als daß die Annahmen, die bisher über Theoriebildungen bestanden, nunmehr auch für das Funktionieren von Wahrnehmung etc. zu gelten haben: nämlich, daß sie konstruktive Akte darstellen. Hier scheint sich die Gepflogenheit wissenschaftlichen Arbeitens anzudeuten, eigene Aussagen nicht gleichen Kriterien zu unterwerfen, mit denen man fremden begegnet.

Wenn sich überhaupt verkürzte Unterscheidungen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Aussagenansprüche vorbringen lassen, dann auf jeden Fall die, daß ein Wissenschaftler bereit sein muß, seine eigenen Aussagen in der gleichen Weise zu kritisieren wie diejenigen, durch deren Kritik er zu seinen eigenen Aussagen gekommen ist.

Wenn er jedoch nicht durch die Kritik fremder Aussagen zu eigenen gekommen ist, so besteht für ihn keine Möglichkeit, gar die gesamte »moderne Psychologie« in irgendeiner Weise zu qualifizieren. Ganz davon abgesehen, haben Vertreter der »modernen Sozialpsychologie« wie C. S. Hall und L. Gardner zu dem von Aebli angesprochenen Sachverhalt (Zusammenhang von Theorie und Exemplifikation) Verständigungsvorschläge gemacht, denen sich jeder Wissenschaftler anschließen kann - wie auch immer gerade diese Tatsache beurteilt werden mag.

Sie stellen etwa fest, daß dasjenige, wonach gefragt wird, definiert wird durch die besonderen empirischen, eine Beobachtung beschreibenden Begriffe, die Bestandteil der vom Beobachtenden benutzten Theorie sind. Das, wonach gefragt wird, ist ein Konstrukt aus einer Reihe von Maßzahlen oder beschreibenden Begriffen, die aus der Beobachtung der befragten Sache mit Hilfe der Annahmen hervorgehen, die eine zentrale Stellung in der jeweils angewandten Theorie haben.

Also sinngemäß: Wenn jemand herausfinden will, wie Wahrnehmung etc. funktionieren und dazu Beobachtungen anstellt, dann braucht er Grundannahmen, anhand derer er seine Beobachtungen anstellt, auswertet und bewertet. Diese Grundannahmen müssen in einem theoretischen Aussagenzusammenhang vorweg formuliert sein.

Je nachdem, welche Theorie er voraussetzt, wird die Antwort auf die Frage, wie Wahrnehmung etc. funktionieren, ausfallen.

Das dürfte auch Aebli als Binsenwahrheit, die darum nicht weniger beachtenswert ist, akzeptieren. Er vergaß sie, indem er sich der Gepflogenheit unterwarf, zusammenhängende Aussagen anderer als bloße Theorie abzuqualifizieren. Damit soll offenbar der Eindruck erweckt werden, man selber habe mehr zu bieten als bloße Theorie. Und das ist offenbar wünschenswert, weil damit Zweifeln an der eigenen Theorie zu entgehen ist. Diese Zweifel stellen sich zwangsläufig ein, weil unter Wissenschaftlern keine Einigkeit darüber besteht, welchen Anforderungen ein Aussagenzusammenhang zu genügen habe, damit die zusammenhängenden Aussagen als Theorie anerkannt werden können beziehungsweise müssen.

Auch Aebli erweckt den Eindruck, als ob 'der Praktiker' sich nicht um Theorien zu kümmern brauche, zumal sie ja bloß »sagen« und nicht »durchführen«. Sind eigentlich die Didaktiker der Kunst- und Gestaltungslehren, die Aebli anspricht, Theoretiker oder Praktiker? Das wäre im Grunde gleichgültig, gibt doch die kognitive Psychologie »dem Theoretiker und dem Praktiker Antworten auf eine Gruppe noch ungelöster Probleme«. Abgesehen davon, daß es schwierig sein dürfte, Antworten auf noch ungelöste Probleme zu erhalten (denn hier soll ja wohl die Lösung eines Problems als Antwort verstanden werden - es sei denn, die Antwort heißt »ungelöst«, was aber nach Aeblis Intention kaum anzunehmen ist); »weil die Didaktiker ihre empirische Vergangenheit nie bewältigt haben«, soll es nach Aebli bisher keine brauchbare Theorie der Anschauung geben.

Alle vorliegenden Theorien der Anschauung sind also unbrauchbar; warum? Weil sie nicht durchgeführt und nicht gesagt haben, wie Wahrnehmung etc. funktionieren? Das aber hat doch gerade der Empirismus sensualistischer Ausprägung in einem Umfang getan, wie bisher keine andere Ismustheorie - die kognitive Psychologie eingeschlossen. Und die Didaktiker haben für ihre Praxis sich dieser Durchführung bedient. Empirismus sensualistischer Ausprägung in der Psychologie muß dann wohl falsch durchgeführt haben - es läuft am Ende also nicht auf die Unterscheidung von Theorien mit Durchführung im einzelnen und den unheimlichen Theorien, sondern auf die Unterscheidung zwischen brauchbar und unbrauchbar durchgeführten hinaus.

Welches ist das Kriterium der Unterscheidung? Ob die Durchführung für den Theoretiker brauchbar ist, oder für den Praktiker? Die Praktiker 'praktizieren' ja, und damit das möglich ist, müssen sie wohl über etwas Brauchbares verfügen. Oder will der Theoretiker dem Praktiker ganz schlechthin sagen, er sei gar kein Praktiker, weil er nicht wisse, »daß Bruners Experimente über Begriffsfindung nichts mit Begriffsbildung zu tun haben« - was ja wohl jeder verstehen wird, der etwa Wohnungssuche und Wohnungsbau unterscheiden kann!

So baut sich durch leere Apodiktik - je nach Opportunität - der praktische Theoretiker oder der theoretische Praktiker vor dem Leser auf. Was der auch immer selber sei - ein Praktiker (als Didaktiker) oder ein Theoretiker (des anschaulichen Unterrichts) - die kognitive Psychologie à la Aebli liefert ihm das Brauchbare, der Leser brauchte nur dem zuzustimmen, daß alle bisherige Psychologie ratlos dastehe.

Sie stand aber gar nicht ratlos da, vor allem nicht der »Empirismus sensualistischer Prägung«, wie Aebli selber konstatiert, denn jener habe ja bis heute die Didaktiker in ihrem Handeln unter seinen Aussagenanspruch zu bringen vermocht. Das sei höchst hinderlich und habe sich fatal ausgewirkt. Dergleichen Konsequenzen sind offenbar bei der fälligen Ablösung des »Empirismus« durch die kognitive Psychologie nicht für das Selbstverständnis der Didaktiker zu erwarten. Wieso eigentlich nicht? Das zu fragen, erübrigt sich für Aebli, weil er zumindest den Eindruck erweckt, als sei nunmehr endlich und schließlich durch die kognitive Psychologie alles das aus der Welt geschafft, was die Didaktiker beschränkte.

5 Probleme der Kunstdidaktik

Es läßt sich wohl schwerlich etwas dagegen sagen, daß der Abgrenzungszwang durch Konkurrenz viele Wissenschaftler zu glauben veranlaßt, sie seien in ihrer Arbeit nur gerechtfertigt, wenn sie behaupteten, ihre Lösungen eines Problems seien bisher noch nicht dagewesen. Sie unterliegen in ihrem Selbstverständnis eben auch Bedingungen stammesgeschichtlicher und sozialer Provenienz, die auch für alle anderen Handlungsbereiche einer Gesellschaft gelten.

Nicht, daß sie sich genauso verhalten wie etwa die Künstler oder die Unternehmer, ist ihnen vorzuhalten, sondern ihr Glaube, allein die Tatsache, daß sie Wissenschaftler seien, befreie sie von diesen Bedingungen kraft Definition. Ein Beleg dafür: »Die Gründe für die(se) antiwissenschaftliche Haltung und Einstellung sind allzu durchsichtig. Das Selbstverständnis ›des Künstlers‹ ist durch wissenschaftliche Sondierungen gefährdet, weil es sich zu einem hohen Prozentsatz als

  • Illusion,
  • Fiktion,
  • Rolle,
  • harmlose Selbsttäuschung oder als eine
  • milde Form von Narzißmus entlarvt.«

Sollte das heißen, daß das Selbstverständnis des Wissenschaftlers durch wissenschaftliche Sondierungen nicht gefährdet ist, weil es sich zu einem hohen Prozentsatz als Illusion, Fiktion, Selbsttäuschung und Narzißmus entlarven läßt? Hatte nicht Aebli den vom Empirismus geprägten Didaktikern vorgeworfen, ihre Auffassungen seien bloße Fiktionen - und aus dem Blickwinkel der kognitiven Psychologie eine Illusion? Warf er nicht den Lehrbuchverfassern vor, ihr Verständnis von Bruners Begriffsfindungen als Begriffsbildungen sei bloße Selbsttäuschung? Und wurden die Didaktiker nicht gerade in ihrer Rolle dafür verantwortlich gemacht, daß es bisher keine brauchbare Theorie der Anschauung gibt, was ja besonders bemerkenswert ist? Erweist sich Aeblis Behauptung, die kognitive Psychologie verspreche Antworten auf ungelöste Probleme - wenn nicht gar als schwere Form von Omnipotenzgebaren, so doch als milde Form von Narzißmus?

Wer so, wie Ebert es nahezulegen scheint, verführe, vernachlässigte meiner Ansicht nach sträflich das Gebot, sich den gleichen Kriterien der Kritik auszusetzen, die er anderen gegenüber anwendet, soweit er sich von ihnen durch Kritik absetzt. Darüber hinaus hat Ebert wohl nicht bedacht, was ihn veranlaßt, etwa

  • Rollenverhalten,
  • milden Narzißmus,
  • unumgängliche Selbsttäuschung,
  • Fiktivität der Argumentation und
  • illusionäre Ichideal-Entwürfe

so negativ zu sanktionieren. Es ist ein großes Verdienst der wissenschaftlich betriebenen Tiefenpsychologie, gezeigt zu haben, daß derartige Bestandteile eines Selbstverständnisses für jeden Menschen die Voraussetzung für erfolgreiches Lernen und Produzieren sind. Ebert zeigt denjenigen Pädagogen, die glauben, ohne theoretische Fundierung auskommen zu können, völlig zu recht, welche theoretischen Implikationen gerade in dieser Auffassung liegen - ja, immer schon liegen müssen. Es sollte ihm deshalb selbst daran gelegen sein, die Implikationen, die in seiner Unterscheidung des Selbstverständnisses von Künstlern und Wissenschaftlern liegen, kennenzulernen. Dann müßte Ebert entweder bereit sein, sein eigenes Selbstverständnis ebenfalls zu »entlarven« oder bereit sein, eine entsprechende »Entlarvung« von seiten eines Künstlers durch entsprechende künstlerische »Sondierungen« hinzunehmen. Was dabei als Selbstverständnis des Kunstwissenschaftlers herauskäme, ist ebenso unhaltbar - oder, laut Ebert, ebenso haltbar wie das, was Ebert als Entlarvung des Selbstverständnisses des Künstlers vorträgt. Etwa folgendes: Das Selbstverständnis der Kunstdidaktiker entlarvt sich zu einem hohen Prozentsatz als das illusionäre Theoretisieren von Schreibtischpädagogen, die in ihrer Rolle als Pädagogikprofessoren zu der Annahme neigen, man würde allgemein ihre Überlegungen als bloße Fiktionen ablehnen. Im Gegensatz zu Ebert bin ich der Meinung, daß eine derartige »Entlarvung« in Frage gestellt werden muß.

Denn auch hier gilt es zu fragen, warum denn eigentlich derartige Kennzeichnungen von vornherein so negativ sanktioniert sein sollten - gehört es doch zur Erfahrung jedes Didaktikers, daß sich ein großer Teil seiner einwandfreien theoretischen Begründungen angesichts der konkreten Unterrichtsbedingungen als Illusion erweist. Und selbstverständlich kommen jedem Lehrerausbilder in diesem Fach Bedenken, ob er nicht effektiver arbeiten würde, wenn er sich nicht so stark von den Rollenerwartungen als Professor bestimmen lassen müßte; und ebenso selbstverständlich hat man sich schon oft zweifelnd gefragt, ob man nicht doch einen Teil der künstlerischen Fähigkeiten selber haben müßte, über deren Entäußerung bei anderen man immer wieder zu urteilen gezwungen ist.

Macht da nur der Ton die Musik, wie man sprichwörtlich vermutet? Offensichtlich nicht, wie sich gegenwärtig herausstellt, wenn vor Gericht naturwissenschaftliche Experten gleicher Aussagenautorität zu ein und demselben Sachverhalt völlig konträre Urteile abgeben. Die Reaktionen der betroffenen Nichtwissenschaftler, soweit sie sich etwa in der Tagespresse und in familiären Gesprächen mitteilen, machen deutlich, worum es geht.

»Wenn die Experten sich genau so streiten, wie wir, was ist dann noch die ganze wissenschaftliche Autorität wert? Wieso behaupten sie, Naturwissenschaftler seien nicht von Meinungen, sondern nur von der eindeutig feststellbaren Wahrheit oder Falschheit einer Aussage abhängig?« Ähnliche Andeutungen über das, worum es bei den Urteilen wie denen von Aebli oder Lorenz geht, haben Wissenschaftler immer wieder selbst vorgetragen, als sie die inflationäre Ausweitung des Personenkreises beklagten, der sich Professor nennen darf - ohne es wirklich zu sein.

Man meint, daß nur Insider (also zum Beispiel die Angehörigen einer Lorenzschen Begeisterungsgemeinschaft) und nicht Außenstehende in der Lage seien, die selbstgesetzten oder vorgegebenen Bedingtheiten wissenschaftlichen Arbeitens in ihrer Auswirkung auf Urteile >richtig< zu erkennen und zu bewerten. Wenn die Bewertung durch Außenstehende zugelassen werde, sei die wissenschaftliche Unabhängigheit in Gefahr, das heißt, der mit dem Hinweis auf Wissenschaftlichkeit begründete Aussagenanspruch.

Mag dem auch so sein, das Gleiche könnten dann aber alle anderen Rollenträger genauso für sich in Anspruch nehmen.

Merkwürdigerweise trauen sich aber unzählige Wissenschaftler zu, in der gleichen Weise wie der hier zitierte Konrad Lorenz etwa über die selbstgesetzten oder vorgegebenen Bedingtheiten des künstlerischen Handelns zu urteilen und die Handlungsresultate zu bewerten.

Gesprächsnotorisch ist die unsachliche Feststellung: »Ich verstehe ja nichts von der modernen Kunst - aber, so ein Haufen Filz und Fett soll ein Kunstwerk sein? Ja, ein Caspar David Friedrich oder ein El Greco, das sind große Kunstwerke, aber dieser Dreck?«

Ein ähnlich negatives Urteil hat man zum Beispiel noch bis 1908 von seiten der Wissenschaft, ja der Kunstwissenschaftler über El Greco vorgetragen. Schon Horaz' Ars-poetic-Klage »qui nescit versus, tamen audet fingere. quidni?« bezieht sich auf solche Gepflogenheiten im Umgang mit den Künsten.

Dafür mag es viele und sinnvolle Erklärungen geben; wie immer sie ausfallen mögen: Der so im Brustton der Überzeugung urteilende Wissenschaftler oder Nichtwissenschaftler benutzt das aus sich heraus haltlose Urteil - offensichtlich mit Erfolg - als Bekenntnis zu einer Begeisterungsgemeinschaft; vielmehr: zum Aufbau und zur Demonstration eines deshalb gerechtfertigten Selbstverständnisses, weil es durch die Angehörigen einer Begeisterungsgemeinschaft unangefochten bleibt.

Bis heute gab es in unserer Gesellschaft nur eine Begeisterungsgemeinschaft mit dem erwünschten Effekt: die der Wissenschaft, speziell die der Naturwissenschaft, welche sich gerne als die >strenge< bezeichnet. Jetzt allmählich setzt sich auch gegenüber den Wissenschaften (als Folge des Gesamtkomplexes »Umweltzerstörung«) durch, was von seiten der Nichtfachleute mit völliger Selbstverständlichkeit gegenüber den bildenden Künsten, der Musik, dem Theater, der Politik, dem Sport und der Kirche immer schon praktiziert wurde.

Aber - wie urteilende Zugriffe auf Künste und Kirche, Politik und Sport nicht dazu geführt haben, daß sich diese Bereiche nicht mehr entwickeln konnten, so wenig wird der urteilende Zugriff auf die Wissenschaften diese daran hindern, sich weiterzuentfalten, solange die nichtfachmännischen Kritiker noch verstehen, daß erst die Gewährung von Autonomie alle jene Bereiche dazu befähigt, Angebote für die Erfüllung kritischer Forderungen zu machen.

Nach meiner Auffassung wehren sich Wissenschaftler gegen den (gegenwärtig verstärkt einsetzenden) urteilenden Zugriff von Nichtwissenschaftlern, wenn und insofern sie die Vermutung hegen, mit ihren Arbeiten weder dem Autonomieanspruch noch dem Anspruch auf Funktionserfüllung genügen zu können.

Für den hier im Vordergrund stehenden Bereich der Kunstdidaktik heißt das wohl: Viele Didaktiker werden - gerade wenn sie sich um wissenschaftstheoretische Begründungen bemühen - im Hinblick auf die Frage, welchen Status ihre Aussagenkonstruktionen beanspruchen dürfen, verunsichert. Über Formen und Kriterien der Theoriebildung herrschen eben keine einheitlichen Auffassungen. Die Beurteilung kunstdidaktischer Aussagenansprüche wird dadurch gerade für die Wissenschaftler sehr schwierig, die ihr Tun für begründungspflichtig halten. Die Theorien scheinen wie Pilze aus dem saisongedüngten Boden zu schießen. Um sich vor der arbeitshemmenden Dauerreflexion auf die Begründbarkeit der eigenen Aussagenansprüche herauszuziehen, vermeidet man es, die konkurrierenden Theorien überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen.

Wissenschaft als institutionell garantierte Bereitschaft, sich auf die Begründungen des eigenen Tuns hin befragen zu lassen, findet kaum noch statt, da es ohnehin äußerst schwierig ist, die ums Ganze differierenden Begründungszusammenhänge anderer Wissenschaftler sinnvoll mit Bezug auf die eigenen zu befragen.

Konzentrieren sich aber die vor diesen Schwierigkeiten kapitulierenden Kunstdidaktiker auf die Praxis, so geraten sie bald in Zweifel darüber, ob sie mit ihren Mitteln überhaupt in der Lage sind, die Funktionen zu erfüllen, die einer Fachdidaktik abverlangt werden. Man entdeckt, daß es offenbar viele Möglichkeiten gibt, ans Ziel zu kommen; vielmehr, daß diese vielen Möglichkeiten darin gleichwertig sind, daß sie alle nur in gewissem Umfang die Erfüllung vorgegebener Funktionen garantieren.

Damit fällt dann aber der Ansporn weg, überhaupt noch produktiv zu sein. Die Kunstdidaktiker erfüllen sich den nach Flauberts Pecuchet innigsten Wunsch des Normalwissenschaftlers, endlich wieder in Frieden abschreiben zu dürfen. Das als äußerst ehrenwert aufzufassen, sollten wir uns wieder angewöhnen; wir geraten dadurch keineswegs in die Gefahr, unsere Pädagogik nicht mehr weiterzuentwickeln. Denn: Selbst bei dem Versuch, vorgegebene Auffassungen bloß zu reproduzieren, stellen sich notwendigerweise so viele fruchtbare Mißverständnisse ein, daß allein deshalb schon Neues als Abweichung in Fülle entsteht.

Wer diese chinesische Entwicklungstechnik noch nicht braucht, weil er glaubt, auch als Kunstdidaktiker allen Zweifeln am Status der eigenen Aussagenkonstruktionen und allen Ohnmachtserfahrungen der Unterrichtspraxis standhalten zu können, bei dem kommen Antriebe zur Geltung, die Wilhelm Ebert als für Wissenschaftler bisher nicht zulässig ansieht. Quidni?

Die fatalen Antriebe müssen ja nicht unbedingt das Resultat so angetriebenen wissenschaftlichen Arbeitens völlig verderben - wie ich eben versuchte anzudeuten. Derartige Resultate kämen nur schwer zustande, wollte man statt dessen Antriebe allein gelten lassen, die Ebert für die gegenwärtige Kunstdidaktik anführt:

»Die Fachtheorie hat inzwischen - nach Umfang und Struktur - so differenzierte und komplexe Formen angenommen, daß auf eine syste-matische Ordnung und Aufbereitung nicht mehr verzichtet werden kann. Diese Aufgabe darf aber nicht dem Dilettantismus und dem Zufall überlassen werden, sondern zu diesem Zweck sind Fachtheoretiker mit einem regulären Arbeitsauftrag zu verpflichten, die in der Lage sind, die erforderlichen Arbeitsmethoden auszubilden.« »Man mag zu diesem Prozeß stehen, wie man will, aufzuhalten ist er nicht.« l8

Ich glaube, er wird aufgehalten werden. Denn die Erfahrung wie die Logik zeigen, daß eine systematische Ordnung und Aufbereitung nicht durchführbar sind. Die systematische Aufarbeitung zu einer Ordnung würde bei der vorausgesetzten Differenziertheit und Komplexität der Formen der Fachtheorie(n) so lange dauern, daß inzwischen schon eine große Zahl neuer Arbeiten entstanden wäre, die erst wieder der Ordnung einverleibt werden müßten. Die Ordnung aller Ordnungen (jede Theorie ist ja ein Versuch, Ordnungen auszuweisen) ist, abgesehen von allen anderen Einwänden, allein schon deshalb nicht erstrebenswert, weil der zeitliche und organisatorische Aufwand, sie aufzubauen selbst, wenn das möglich sein sollte in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen steht.

Ein Handbuch wie das der Psychologie l9 liegt noch keine zehn Jahre vor - und dennoch gibt es bereits jetzt mehr psychologische Literatur in der Welt, die im Handbuch nicht berücksichtigt werden konnte, als berücksichtigt wurde. Dabei ist selbst ein solches Großunternehmen befähigter Wissenschaftler keineswegs als systematische Ordnung anzusehen, sondern nur als ein Versuch der Übersicht.

Bleiben die gravierenden Einwände. Wer ist die Instanz, die entscheidet, welche Fachtheoretiker Dilettanten sind und welche nicht? Müssen die Nichtdilettanten in der Lage sein, diejenigen Arbeitsmethoden auszubilden, die für eine Entwicklung der systematischen Ordnung und Aufbereitung geeignet sind? Sind aber diejenigen keine Dilettanten, die zu solcher Arbeit fähig sind, dann scheint es nach Ebert bisher nur Dilettanten in der Fachtheorie gegeben zu haben, denn in den rund zehn Jahren seit Abfassung von Eberts Manuskript sind nach meiner Kenntnis solche Methoden nicht entwickelt worden. Und das versteht sich auch Ebert zufolge von selbst, denn: »Die Probleme, Aufgaben und Konsequenzen (also vor allem die einer systematischen Ordnung und Aufarbeitung, Brock), die sich aus diesem Strukturwandel ergeben, können nur genannt und beschrieben, nicht gelöst werden, weil... nur die gesamte Fachschaft eine solche immense Arbeit zu leisten imstande ist …«20

Wiederum - wer könnte denn die gesamte Fachschaft dazu anhalten, sich ausschließlich dieser Arbeit zu widmen? Die die Fachschaft bildenden Didaktiker arbeiten ja ununterbrochen an »systematischen und nicht nur kasuistischen Aussagen«2l, soweit sie Theorien entwickeln. Es würde aber das Ende jeglicher Entwicklung der Kunstdidaktik bedeuten22, wollte man alle diese zu einem systematischen Ordnungsgefüge aufarbeiten; vorausgesetzt, das wäre überhaupt möglich. Es ist jedoch nicht möglich; gerade durchgängig formulierte Theorien sind miteinander unvereinbar - sonst wären sie eben nicht durchgängig formuliert.

Kann man der Meinung sein, alle bisher vorliegenden Theorien seien noch gar keine? Gewiß wäre das möglich. Dann müßte man aber die Hoffnung aufgeben, je zu solchen zu kommen, wodurch die Unterscheidung von vorliegenden und tatsächlichen Theorien nichts einbringen würde.

Ebert sagt selber: »Freilich müssen wir uns eingestehen, daß die theoretischen Vorarbeiten… noch vorwiegend hypothetischer Art sind, und nur zu einem geringen Teil auf Unterrichtsanalysen und Feldforschung beruhen.«23 Wenn nach Jahrzehnten intensiver Arbeit bisher nichts als theoretische Vorarbeiten zustande gekommen sein sollen, bleibt das Postulat nach mehr als Vorarbeiten ›hypothetisch‹. Der vorgeschlagene Weg zu mehr als theoretischen Vorarbeiten durch Unterrichtsanalysen und Feldforschung dürfte da auch in Zukunft nicht weiterführen als bisher, denn solche Analysen sind eben von den vorausgesetzten Theorien abhängig. Sollte das Urteil richtig sein, daß bisher noch keine akzeptablen Theorien vorliegen, so wäre deshalb auch keine Analyse durchführbar, die weiterführte als bisher.

Es ist sicherlich äußerst anerkennenswert, daß Wissenschaftler ihre Arbeiten als nur bescheidene »theoretische Vorarbeiten« bezeichnen und damit die ihrer Kollegen ebenfalls; denn - hätten die Kollegen mehr als Vorarbeiten zu bieten, so wäre ja nicht einzusehen, warum man sich diesen Kollegen nicht angeschlossen hat. Es ist sicherlich nicht sinnvoll, aus der Bescheidenheitsgeste (man verstehe seine Aussagen nur bescheiden als Vorarbeiten) zu schließen, daß die theoretischen Hauptarbeiten möglich wären; wenn ja, wann folgen sie nun endlich; warum geht man denn nicht zur Hauptarbeit über? Wer so eindeutig zu urteilen bereit ist wie Ebert (wenn er sagt: »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die fachdidaktische Theorie mehr spekulativen und deduktiven Charakter. Sie basiert nicht auf empirischen Untersuchungen unter Anwendung wissenschaftlicher Arbeitsmethoden«), der sollte dazu Stellung nehmen, warum - wenn er das so genau unterscheiden kann - er nicht selber sein Postulat erfüllt hat. Sollte das aber nicht von einzelnen Didaktikern erfüllbar sein, dann fällt jegliche Begründung für die Unterscheidung von Dilettanten und Nichtdilettanten, soweit diese Unterscheidung daran geknüpft wird, ob jemand bloß spekuliert und deduziert - oder ob er Unterrichtsanalyse und Feldforschung betrieben hat. Es bliebe dann allenfalls die Unterscheidung im Hinblick auf den Entfaltungsgrad der konkurrierenden Theorien - falls die denn überhaupt vorliegen - was Ebert bezweifelt.

So stieße man wiederum auf die Schwierigkeit, Einigkeit darüber zu erzielen, welche Theorien tatsächlich als solche anerkannt werden können und welche nicht.

Was hindert uns daran, anstelle der ehrenwerten Bescheidenheitsgeste die Einsicht zu setzen, daß zumindest dem einzelnen Wissenschaftler unter den nun einmal gegebenen Bedingungen der Lebens- und Forschungsökonomie nicht mehr zu erreichen möglich ist, als er erreicht hat, um »die der Praxis inhärenten Theorien aufzudecken; die der Praxis und den Interessen an der Praxis handelnd Beteiligten adäquate Theorie situationsbezogen, handlungsbezogen weiterzuentwickeln; die Ergründbarkeit der Praxis durch Theorie und die Konsistenz von Theorie und Praxis zu überprüfen sowie gegebenenfalls alternative Praxis zu antizipieren?«24

In dieser Bestimmung der Aufgaben des Didaktikers durch Otto liegt, daß die Weiterentwicklung nicht abschließbar sein kann; daß sie niemals in eine endgültige systematische Ordnung aller bisherigen theoretischen Arbeiten einmünden wird. Auch in den vergangenen Dezennien der Didaktik ist solche Weiterentwicklung besser vielleicht Weiterentfaltung - betrieben worden. Anderes ist mit Gründen nicht zu erwarten. Und das ist auch hinreichend, wenn tatsächlich die Mehrzahl der Didaktiker bereit ist, sich solcher Notwendigkeit zur Weiterentfaltung nicht blockierend in den Weg zu stellen.

Die Theorien werden dabei bleiben, was sie immer gewesen sind und nur sein können: Die jeweils den einzelnen Wissenschaftlern möglichen Versuche, Begründungszusammenhänge für das eigene Handeln zu entwickeln.

Sollte Ebert mit »systematischer Ordnung« gemeint haben, daß die einzelnen Fachtheorien unter dem Gesichtspunkt zu vereinheitlichen seien, inwiefern sie fundamentalen, wissenschaftlich repräsentierten Weltanschauungen zuzurechnen seien? Von denen gibt es ja nicht sehr viele: den kritischen Rationalismus, den Strukturalismus, den historischen Materialismus, die funktionale Systemtheorie und den Anarchismus. Auch dabei käme nicht mehr als Ordnung im Sinne von Zuordnung und Übersicht heraus. Das wäre vielleicht hilfreich für diejenigen, die ihre Bereitschaft zum Eingehen auf andere als die eigenen Theorien davon abhängig machen, welcher Couleur deren Verfasser zuzurechnen sein sollten. Ob derartige Zuordnungen im Sinne Ottos die Didaktik weiter entfalten helfen, bleibt zu bezweifeln. Die Herausarbeitung von Frontstellungen zwischen den Begeisterungsgemeinschaften hindert eher, als daß sie nützt, wie etwa die Auseinandersetzungen zwischen den Repräsentanten des Konzepts »Visuelle Kommunikation« und des Konzepts »Ästhetische Erziehung« nahelegen,25 obwohl in diesem Fall scheinbar das Aufgeben bestimmter Fronten konstatiert wurde; eher handelte es sich jedoch um Frontbegradigungen.

Die zitierten Einstellungen Aeblis und Eberts unterscheiden sich (Aebli: vorliegende Theorien sind unbrauchbar, hier wird jetzt die brauchbare geliefert - Ebert: vorliegende Theorien sind nur theoretische Vorarbeiten), aber sie demonstrieren die gleiche Gepflogenheit, die es meiner Meinung nach zu vermeiden gilt.

Man wehrt sich gegen Konkurrenten, indem man ihren Arbeiten abspricht, Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können, weil sie falschen Theorien folgen, beziehungsweise Theorien, die gar keine sind. Doch offensichtlich kann man zu anspruchsvollen Aussagen kommen wie Ebert-, obwohl man sich eingesteht, daß mehr als bestenfalls Vorarbeiten für die Begründung eines theoretischen Aussagenanspruchs nicht vorhanden sind.

Mit einer falschen Theorie, soweit sie eine ist, zu arbeiten, vermag beim bösesten Willen die Arbeit nicht als unwissenschaftlich zu qualifizieren.

Nicht nur Wissenschaftslaien scheinen den Meteorologen wegen der häufigen falschen Wettervorhersagen vorzuwerfen, mit der Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit sei es wohl nicht weiter her als mit der von Wetterpastoren. Mögen die Theorien der Meteorologen falsch oder unzulänglich sein; aus solchen Kennzeichnungen ist niemals auf die Unwissenschaftlichkeit in der Arbeit mit diesen Theorien zu schließen.

Ebert bestimmt die generelle Tendenz der Fachdidaktiken als Übergang von »einer vorwissenschaftlichen, fachlichen Methodenlehre zu Wissenschaften vom Unterricht«; dieser Tendenz entsprechen zu wollen, gilt seine Kunstdidaktik, weil man sich auf die Dauer in so gravierenden Fragen nicht mit Hypothesen, Zufallsergebnissen und Entscheidungen auf Verdacht begnügen könne.26

Nun zeigt sich aber, daß auch dort, wo Wissenschaft als theoretische Begründung von Aussagenansprüchen betrieben wird, damit nicht Hypothesen, Zufallsergebnisse, Entscheidungen auf Verdacht vermieden werden können! (Siehe Aeblis Kritik an der empiristischen Befangenheit der Didaktiker und der Kritik an den Lehrbuchverfassern in der Psychologie).

Was wäre dann mit einer Entwicklung der Didaktiken zu Wissenschaften erreicht? Ebert zeigt deutlich, was das heißen soll; und dieser Auffassung muß man zustimmen, wenn man unter Wissenschaft das versteht, was in dem institutionell ausgegrenzten Handlungsfeld 'Universität' vor sich geht. »Nach allem, was an Überlegungen vorausgeschickt wurde, bedarf es keiner besonderen Begründung mehr, weshalb das Direktorat des Seminars für Didaktik des Kunst- und Werkunterrichts nur von dem Inhaber des Lehrstuhls für Kunstdidaktik, der über künstlerische Erfahrungen und eine wissenschaftliche Qualifikation in der Kunstdidaktik verfügt, verwaltet werden kann.«27

Die wissenschaftliche Qualifikation soll Eberts anschließenden Ausführungen zufolge gegeben sein, wenn jemand promoviert und habilitiert sei. Einverstanden - aber das schützt nicht vor bloß hypothetischen, zufälligen oder auf Verdacht gestützten Ergebnissen. Die von Aebli Kritisierten sind sicherlich alle promoviert und habilitiert. Und was den Nachweis von künstlerischen Erfahrungen anbelangt, es sollten »strebsame und tüchtige Lehrer nach Leistung honoriert werden und nicht nach dem Status eines einmaligen Studienabschlusses. Als Qualifikationsmerkmale müßten auch Veröffentlichungen und der Nachweis überdurchschnittlicher künstlerischer Leistungen (Aufträge, Kunstpreise, Ankäufe namhafter Sammlungen und Museen) angesehen werden«28.

Hier genügt ein Studienabschluß als Merkmal institutionell verbürgter und deshalb wissenschaftlicher Qualifikation nicht mehr; aus dem naheliegenden Grund, weil man sich nur außerhalb der Institution, in der Wissenschaft betrieben wird, künstlerisch qualifizieren kann? Keineswegs, denn es sind ja wiederum die in Wissenschaftsinstitutionen Arbeitenden, also Wissenschaft Betreibenden, die darüber entscheiden, welche außerhalb der Wissenschaftsinstitutionen erworbenen künstlerischen Erfahrungen und Qualifikationen anerkannt werden, und welche nicht.

So merkt Ebert ausdrücklich an: »Es ist nachdrücklich davor zu warnen, Qualifikationsnachweise im künstlerischen Bereich dadurch aufzuweichen und zu inflationieren, daß schon die Teilnahme an Ausstellungen von allzu provinziellem Charakter und die Beschickung von Ausstellungen in allzu privaten oder obskuren Galerien zu einer ungewöhnlichen Qualifikation hochgespielt werden. Wer weiß, wie Ausstellungen zustandekommen und wie Ausstellungskataloge und Ausstellungsnachweise gemacht werden, weiß auch ihren Wert einzuschätzen«.29 Der postulierte Übergang der Fachdidaktiken von vorwissenschaftlichen Methodenlehren zu Wissenschaften von Unterricht reduzierte sich so auf bloße Regulierungen von Statusfragen des in Wissenschaftsinstitutionen arbeitenden Personals. Die Statusansprüche werden erhoben oder zurückgewiesen mit dem Hinweis auf die gegebene oder nicht gegebene Wissenschaftlichkeit der Begründung von Aussagenansprüchen. Die Kompetenz der Entscheidung darüber aber wird denen zugestanden, die über den höchsten Status verfügenweil sie über den Status verfügen.

Die Argumente wären nur mehr als Tautologien, wenn man akzeptierte, daß eben als Wissenschaft zu gelten hat, was in Wissenschaftsinstitutionen betrieben wird.

Gunter Otto kennzeichnet ähnliche Auffassungen von dem Wissenschaftsverständnis der Didaktik als typisch für Aufsteigerwissenschaften, »deren Hauptproblem es ist, sich als Wissenschaft in der Universität zu legitimieren«. Als Universitätsdisziplin werde sie dauernd »darauf hingewiesen, daß sie theoretisch zu sein habe«. Daraus entstehen für die Didaktik jene Probleme des Wissenschaftsverständnisses, wie sie sich an Eberts Auffassungen zu zeigen scheinen. Otto zeigt, daß in den gegebenen Wissenschaftsinstitutionen - wenn eine solche Auffassung von Wissenschaft akzeptiert wird - Fachdidaktik sich nicht legitimieren kann. Denn »Fachdidaktik gewinnt ihre Legitimation als Wissenschaft im Praxisbezug ihrer Aussagen«30 und nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Wissenschaft betreibenden Institution.

Wenn der Didaktik durch die Zugehörigkeit zur Wissenschaftsinstitution der Praxisbezug erschwert oder gar unmöglich gemacht wird, nützt ihr der Status als Wissenschaft qua Zugehörigkeit gar nichts. Sinnvoll wäre diese Zugehörigkeit, obwohl sie nichts über den Wissenschaftsanspruch der Didaktik aussagte, insofern, als die Didaktik bereit ist, Aufgaben darin zu sehen, »die Erkenntnisse korrespondierender Fach- und Sozialwissenschaften im Blick auf Unterricht zu entfalten, zu konkretisieren und umzuformulieren« 31

Als wissenschaftlich legitimiert ließe sich die Didaktik dann verstehen, wenn es ihr gelänge, die Möglichkeiten und Formen solcher »Entfaltungen, Konkretisierungen und Umformulierungen« für die Unterrichtspraxis in durchgängigen Begründungen von Aussagenansprüchen (Theorien) so zu fassen, daß dadurch Alternativen der Gestaltung von Unterricht zustandekämen. Erst, wenn für Unterricht mehrere alternative Gestaltungen ein und derselben Unterrichtseinheit ermöglicht, ja erzwungen werden, hat sich die Durchführbarkeit der Umsetzung erwiesen. Die Bewertung der Alternativen ist eine andere Sache. Meines Erachtens ist nicht die ohnehin äußerst schwierige Erfolgskontrolle für diese Bewertung ausschlaggebend; sie hätte nur Wert, wenn standardisierte Modelle, die nachweislich erfolgreich waren, von allen Lehrern eingehalten werden müßten.

Das Faktum alternativer Gestaltungsmöglichkeiten, die im eben angedeuteten Sinne sich aus der theoretisch fundierten Umsetzung ergeben, wäre Bewertungskriterium für den Wissenschaftsanspruch von Didaktik. Aber auch das nichtwissenschaftliche Theoretisieren - das zeigte seine Leistungsfähigkeit - kannte die Bedeutsamkeit des bloßen Vorhandenseins von Alternativen der Gestaltung von Unterricht; sie äußerte sich etwa darin, daß der Absolvent der Lehrerbildungsanstalt im Unterricht den Schülern nichtwissenschaftlich - zu verstehen gab: »Wenn es so nicht geht, dann versuchen wir es nochmal andersherum. «

Jedoch: Muß die Didaktik überhaupt einenWissenschaftsanspruch erheben? Soweit auch nichtwissenschaftliches Theoretisieren die Lehrer dazu befähigt, alternative Gestaltungen ein und derselben Unterrichtseinheit zu entwickeln und anzuwenden, bedarf es keiner wissenschaftlichen Legitimation. Da das überwiegend nicht gewährleistet zu sein scheint, ist das Bestehen auf wissenschaftlicher, also theoretischer Begründung sicherlich zu rechtfertigen. Auch in sofern müssen wohl Lehrer den Anspruch auf wissenschaftliche Begründung erfüllen, als sie mit der Zeit in der Lage sein sollten, die Entfaltung, Konkretisierung und Umformulierung neuerer Erkenntnisse der korrespondierenden Fach- und Sozialwissenschaften selbständig zu leisten. Dazu bedarf es der Fähigkeit, die Aussagenansprüche dieser anderen Disziplinen zu evaluieren. Es gilt, auseinanderzuhalten:

1. Die Zielsetzung der ästhetischen Erziehung
a) Kunstunterricht,
b) Visuelle Kommunikation,
c) Zeichenunterricht.

Sie sind in den Lehrplänen ausgedrückt allerdings nicht als »systematisch geordnete Bildungsinhalte«32, sondern als aufgezählte;

2. die Exemplifikationen der Zielsetzungen durch Auswahl und Darstellung von Gegenstandsbereichen ästhetischer Erziehung.

Sie werden aus der soziokulturellen Umwelt der Schüler ausgewählt; die Auswahl ist teilweise schon in den Lehrplänen vorgezeichnet - zum größeren Teil wird sie von Didaktikern oder von Lehrern, die dazu nicht unbedingt Wissenschaftler zu sein brauchen, vorgenommen - wobei der Rückgriff auf Traditionen der Exemplifikation nicht vermeidbar ist, ja, gar nicht völlig vermieden werden sollte, (zum Beispiel bei Märchen als traditionellen Exemplifikationen);

3. den didaktisch organisierten Zusammenschluß der Exemplifikationen zu Unterrichtseinheiten, wobei im oben angedeuteten Sinne alternative Gestaltungen dieses Zusammenschlusses erreicht werden müssen. Dies ist genuiner Aufgabenbereich von wissenschaftlicher Didaktik;

4. den Zusammenschluß der didaktisch organisierten Einheiten zur Kontinuität von Unterricht analog zu den im Lehrplan festgesetzten Arbeitsperioden.

Es erübrigt sich wohl doch nicht, darauf hinzuweisen, daß die Exemplifikationen der ästhetischen Erziehung, die aus der soziokulturellen Umwelt von Schülern ausgewählt und dargestellt werden, keine Verengung der oben genannten Zielsetzungen bedeuten - wenn man sich nicht auf das beschränkt, was den Schülern jeweils ohnehin schon in den Blick gekommen ist, sondern daran orientiert, was den Schülern ihrer Entwicklungsstufe entsprechend - gemäß Lehrplan in den Blick kommen sollte.

Zu bestimmen, welche solche den Entwicklungsstufen entsprechende Exemplifikationen sind, ist ebenfalls eine wesentliche Aufgabe wissenschaftlicher Didaktik. Denn: Für diese Bestimmung kann man nicht einfach die Feststellungen der Entwicklungs- und Sozialpsychologie übernehmen, sondern man muß sie - mit Blick auf die ausgewählten Gegenstandsbereiche der ästhetischen Erziehung - entfalten, konkretisieren und umformulieren - also exemplifizieren.

Insoweit ich Otto angemessen verstanden habe, ließe sich handfest formulieren:

Die Didaktik ist Wissenschaft von der ausbildungspraktischen Aneignung der Arbeitsresultate anderer Wissenschaften.

Die Didaktik der ästhetischen Erziehung ist Wissenschaft von der ausbildungspraktischen Aneignung der Arbeitsresultate der Kunstwissenschaften, der Psychologien, der Kultur- und Kommunikationswissenschaften .

Otto äußert sich sehr zweifelnd zur Verwendung des Begriffs »Aneignung« überall dort, wo man bisher »lernen«, »handeln«, »malen«, »zeichnen«, »bauen«, »erkennen« gesagt hat.33

Aber es geht nicht um die Ablösung jener Begriffe durch den Begriff Aneignung. So habe ich zwar gelernt, mathematische Operationen vorzunehmen - aber nicht, sie anzueignen, denn: Mathematisch zu denken und zu handeln ist nicht Bestandteil meiner Fähigkeiten geworden, mich in der Umwelt zu orientieren. Kenntnisse und Fähigkeiten sind angeeignet, wenn sie zum Fond des Außen- und Selbstbezuges einer Person gehören und deren Äußerungsformen charakterisieren.

Wissenschaftliche Didaktik sollte vor allem Aneignung ermöglichen: Eben diese Aufgabenstellung bringt Didaktik über die Lehre von der situations- und adressatengerechten Zurichtung von Lehrstoff durch Anwendung standardisierter Methoden hinaus. Es bedarf dazu einer Orientierung auf die Adressaten, die Otto meiner Ansicht nach meint, wenn er fordert, daß Schüler und Lehrer zu Subjekten der wissenschaftlichen Didaktik (»Theorieprozeß«) werden müssen.34

Um ihnen das zu ermöglichen, müssen sie didaktisches Denken tatsächlich angeeignet haben und nicht nur die Fähigkeit demonstrieren können, ihrem Lehren und Lernen äußerlich bleibende Methoden der Zurichtung von Lehrstoff anzuwenden. Dann werden ästhetische Erziehung und Didaktik der ästhetischen Erziehung, Wissenschafttreiben und wissenschaftlich denken, schulisches Lernen und der Erwerb von Fähigkeiten zur differenzierten Orientierung in der Lebenswelt jeweils zu einer Einheit. Diese Einheit erreichen zu können, legitimiert den Geltungsanspruch von Didaktik in Schulen und Hochschulen.

siehe auch: