In: B. Brock, H.U. Reck und IDZ Berlin (Hrsg.): Stilwandel, Köln 1986; vgl. Anm. 1 S. 263
Merkwürdig genug: Während sogar die Hilfsgötter der Kunstgeschichte – wie Willibald Sauerländer aus München einer ist – den Stilbegriff als zentrale Leerstelle ihrer Argumentation aufgeben, erscheint kaum noch eine Konsumgüteranzeige ohne den Hinweis auf Life-Style.
Stil ist Thema für Architektur und Produktdesign, für Mode wie für die Videoclips, für das Führen von Diskursen anstatt von Argumenten wie für das Leben in Beziehungskisten anstatt in Freundschaften, Liebschaften und Familien.
Das renommierte Internationale Design Zentrum in Berlin, dessen Direktor die deutsche Industrie ›stilecht‹ in die Direktionsetagen des Centre Pompidou in Paris trieb, widmete dem Stilproblem jüngst im renovierten Kreuzberger Arbeiterballhaus einen Kongreß mit Tanzpause und programmatischem Paukenschlag; aber auch die deutsche ›Männervogue‹ weihte ein ganzes Heft der Glanzformel Stil, die ihrer Meinung nach »nun einmal so schwer wiegt, daß es wirklich eine Stillosigkeit wäre, sie allzu leicht zu nehmen«.
Die Männervogue bringt es fertig, dreißig definitive Antworten auf die Stilfrage in munterer Bebilderung vorzustellen, zum Beispiel so: »Rene Kollo – Stil haben heißt: sich steigern. Kollo fing als Schlagersänger an, jetzt ist er ein tüchtiger Wagnertenor. Peter Hofmann – Stillos sein heißt: den Hals nicht vollkriegen können. Besonders peinlich: Peter, der Beat-Star – aber sein Beat ist Schiet. Der Supermann sollte erst mal seinen erlernten Beruf – das Opernsingen – solide ausüben. Und nicht im zweiten Parsifal-Akt schlappmachen.«
Oder so: »Juan Carlos von Spanien – Stil haben heißt, im entscheidenden Augenblick seinen Mann zu stehen. Als Putschisten die junge Demokratie bedrohten, hat er sofort gekontert und Spanien vielleicht vor einem neuen Bürgerkrieg bewahrt. Konstantin von Griechenland – Keinen Stil haben heißt, im entscheidenden Augenblick nicht da zu stehen, wo man hingehört. Als die Obristen putschten, verließ Konstantin samt Familie die Hauptstadt. Möglicherweise in bester Absicht. Aber der König im Schach ist ja auch kein Läufer.«
Kann mir jemand aus der Kunstszene ähnlich durchgreifende Erörterungen des Stilproblems nennen, wie es hier die deutschen Männermodemacher beschreiben? Nein? Kein Wunder, wenn Stil haben heißt, »im entscheidenden Augenblick seinen Mann zu stehen«, beziehungsweise »sich zu steigern«. Aber die Stilfrage ist eben nicht vornehmlich dadurch geprägt, daß man sich für die klassische Coca-Cola-Flasche gegen die Coca-Cola-Dose, für Donald Duck gegen Wim Thoelke, für die Boeing 707 gegen die Concorde, für den Hamburger gegen das Zigeunerschnitzel, für Wochenmärkte gegen Fußgängerzonen deutscher Städte zu entscheiden habe. Zwar sind das auch Bekundungen von Werten, aber noch keine Fragen nach der Moral in der Kunst und in der Gestaltung. Und genau diese Fragen bestimmen die neue Stildebatte.
Der große Ruskin hat 1880 über »moralische Gesetze« in der Gestaltung die bedenkenswerte Behauptung aufgestellt, daß Verwirrung und Mißerfolge weit seltener auf Unzulänglichkeit der Mittel oder auf die Hast der Arbeit zurückzuführen sind als auf Unklarheit der Begriffe über das, was getan werden soll. »Wissen, was man zu tun hat – und es dann auch tun«, darauf kommt es an.
Unklarheit der Begriffe über das, was getan werden soll – was das heißt, hat unter anderen der kaum weniger bedeutende Fritz Schumacher 1939 in seiner Arbeit »Die Ziele des baulichen Gestaltens« präzisiert: »Was aus Gestaltungen hervortritt, stammt weniger aus formalen Haltungen als aus geistigen. Stil kommt nicht aus einer bestimmt umrissenen Formensprache. Die Werke einer Zeit werden durch die Aufgabenstellungen charakterisiert, denn erst durch sie verwirklichen die Werke sich als Tatsachen. Dieser soziologische Stilbegriff wird die Bedeutung des ästhetischen allmählich in den Schatten stellen.«
Wenn sich die Werte in den Aufgabenstellungen manifestieren, dann ist natürlich die einzig interessante Frage: Wer stellt die Aufgaben? Vermutlich wird darauf summarisch geantwortet werden, daß die Aufgaben für die Gestalter und Künstler einerseits von Fabrikanten und andererseits von den Künstlern selbst gestellt werden.
Die Fabrikanten formulieren die Aufgabenstellung mit Hinweis auf potentielle Käufer ihrer Produkte; die potentiellen Käufer werden ihrerseits durch allgemein soziologische, kulturelle und wirtschaftliche Bedingungen in ihrem Kaufverhalten geprägt. Stellen also die soziologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen des Lebens die Aufgabe an den Künstler und Gestalter? Ja! Aber diese Antwort nützt gar nichts, denn eben jene allgemeinen Voraussetzungen menschlicher Lebensäußerungen sind und bleiben unbekannt. Weder die Fabrikanten noch die Käufer können sich auf Tatsachen berufen. Es geht immer nur um Hypothesen, vielmehr um die möglichst machtvolle Durchsetzung von Aussagen über die Lebenswirklichkeit, die als die Wirklichkeit erlebt werden!
Die Künstler, Wissenschaftler und Gestalter kennen diese Situation nur allzu gut und weisen deshalb die Wertvorgaben von Fabrikanten und Käufern als Ideologie zurück. Folgerichtig geben sie sich nur noch selber die Gestaltungsaufgaben vor. Diese Selbstverpflichtung ist zwar ein Wert in sich, aber noch kein sehr überzeugender, da man sich ja alles mögliche, ja beliebige zur Aufgabe machen kann. Die einzige Form, in der ›Gestaltung‹ jegliche Beliebigkeit durch die Bildung eines übergeordneten Zusammenhangs zu überwinden vermag, ist das Schaffen eines Stils. Wertfragen in der Kunst sind immer Stilfragen.
Stil ist nicht mehr geprägt dürch die einheitliche, gleichförmige und gleichsinnige Gestaltung von Möbeln oder Kleidungsstücken, von Meinungen und Haltungen, von Architekturen und Automobilen, von Theaterinszenierungen und Kaufhauskulissen. Stil heißt nicht länger Uniformität durch Gestaltung.
Ist Stil vielleicht nur zur anderen Bezeichnung von Mode und Geschmack geworden? Die Life-Style-Kampagnen der internationalen Werbung scheinen auf folgenden Überlegungen zu beruhen: Die Objekte unserer Welt sind nichts aus sich heraus, sie werden erst bedeutsam durch die Art und Weise, wie Menschen diese Objekte zur Gestaltung ihres Lebens benutzen. Der Umgang mit diesen Objekten verleiht ihnen Aura und Aussagekraft. Je älter die Objekte und je gegenwartsferner die Lebensformen, in denen sie ursprünglich verwendet wurden, desto verklärter unser Gefühl für diese Dinge. Die Dinge werden gleichsam mit einer Seele begabt, sie scheinen zu sprechen. Life-Style ist die Aktivierung dieser Sprache der Dinge.
»Der Stil, das ist, was der Mensch der Natur aufzwingt«, formulierte einstmals Buffon; und der Mensch, so ist zu ergänzen, das sind seine Ansprüche und Urteile, seine Bekenntnisse und Ziele. Stil haben heißt also, eine Prätention und eine Intention zu haben, eine Haltung ostentativ zu bekunden, ein Bekenntnis in aller Öffentlichkeit abzugeben.
Stil, das ist das Signalement der Lebensformen. Man signalisiert gleichermaßen Erfolg und Unzufriedenheit, Glück und Widerstand, Selbstbewußtsein und Angst. Diese Ambivalenz und Ambiguität zeichnen die gegenwärtigen Stile aus. Ganz im Unterschied zu den herkömmlichen, von denen man im besonderen Maße Eindeutigkeit erwartete. Stil ersetzt Programmatiken, seit Programmatiken beliebig werden mußten, weil jeder alles und damit alle das gleiche behaupteten, um gewählt zu werden. Stil ist die Form der Zustimmung zu sich selbst, seit selbst der kleinste Erfolg in der Gesellschaft von der Zustimmung der anderen abhängig ist.
1868 schreibt der Philosoph Hermann Lotze in seinem außerordentlichen Essay »Über den Baustil der Gegenwart«: »Nur gehört zu dem Charakter der Gegenwart eine Universalität des Geschmackes, die, durch Überlieferung aller Art genährt, jede eigentümliche Gattung der Schönheit nachzugenießen und zu bewundern fähig ist, ohne deshalb jede als unmittelbare Lebensumgebung ihren eigenen Gewohnheiten entsprechend zu finden. Nicht jede Schönheit der Kunstgeschichte läßt sich im Leben reproduzieren, und anderseits sind die Strömungen dieses Lebens selbst so vielförmig, daß zu ihrem Ausdruck ein einziger alles beherrschender Stil vielleicht nicht in derselben Weise zu hoffen und zu wünschen ist, wie er vergangenen Zeiten von gleichförmigerer Signatur ihres Wesens möglich war.« Lotze führt für die gleichförmige Signatur vergangener Zeiten die Einheit des religiösen Bewußtseins als entscheidend ins Feld.
Es ist schon erstaunlich, daß vor hundert Jahren festgestellt wurde, was allgemein als Charakteristikum unserer Epoche angesehen wird, daß es nämlich keinen vorherrschenden Geschmack und keinen verbindlichen Stil mehr gebe. Die schon vor Lotze des öfteren gestellte Frage »In welchem Stil sollen wir bauen?« lief aber nicht auf die Antwort hinaus: »Baut, wie ihr wollt.« Das Konzept für die Wiener Ringstraßen-Neubauten sah folgende Antworten vor: Man halte die Bauten für Kunstakademien, Museen und Theater im Renaissancestil, die der kommunalen Selbstverwaltung und des religiösen Lebens im gotischen Stil und die der zentralistischen, gesetzgeberischen Gewalt und Exekutive im klassizistischen Stil. Hinter solchen Programmen standen bestimmte Einschätzungen der geschichtlichen Entwicklung in historischen Epochen (Blüte der Künste in der Renaissance; Entwicklung des Parlamentarismus am Ende des 18. Jahrhunderts und Höhepunkt der städtischen Zunftgesellschaften sowie des sakralen Lebens im Spätmittelalter, der Zeit der Gotik).
Auch Lotze sagt ja, daß die Strömungen des Lebens zu vielförmig seien, als daß sie einem Stil unterworfen werden könnten. Er gibt zudem auch die Begründung für die Möglichkeit, die unterschiedlich historisch entwickelten Stile zur gleichen Zeit anwenden zu können. Die Universalität des Geschmacks ist für ihn ausschlaggebend, nämlich die Fähigkeit, unterschiedlichste historische Stile gleichermaßen zu genießen und zu bewundern, ohne daß die eigene Lebensumgebung durchgehend diese Stile anverwandle. Geschmacksurteile sind für ihn geradezu darauf ausgelegt, historische Distanz zu relativieren; Geschmack baut Absolutheitsansprüche ab. Geschmack relativiert Stile und erhält ihnen dadurch ihre Bestimmtheit, daß er jeden Stil mit anderen Stilen in Relation setzt.
Es gibt also keinen Stil, sondern nur Stilvielfalt. Es wäre ganz falsch, Stil noch länger als gleichförmige Signatur einer Epoche sehen zu wollen; vielmehr sind die Epochen dadurch gekennzeichnet, daß sie die Vielfalt unterschiedlicher Stile möglichst dynamisch entfalten. Eklektizismus des 19. Jahrhunderts war also keine Reaktion auf Mangel an Stil; ganz im Gegenteil, je größer die Vielfalt, desto vitaler die Epoche. Kritisch wird der Eklektizismus nicht durch Stilvielfalt, sondern durch ein unzureichendes Verständnis für das Verhältnis von systematischen Stillehrbüchern zu ihrer Umsetzung in gebaute Architektur. Stillos ist also die lehrlingshaft-penible Unterwerfung unter Lehrbuchweisheiten der Stilkunde. Was einen Stil auszeichnet, liegt eben nicht ein für allemal fest, sondern hängt von der Konfrontation eines Stils mit anderen Stilen ab. Und diese wechselseitige Identifizierung der Stile ist nicht abgeschlossen, weshalb es eben keine verbindlichen Stillehrbücher geben darf.
Diese Feststellung erweist sich auch unter anderen Argumentationsgesichtspunkten als hilfreich. Das Phänomen ›Stil‹ ist ja erst dann wirklich beachtlich, wenn wir davon ausgehen, daß Stile nicht gemacht werden, sondern entstehen. Zwar gibt es stilprägende Kräfte, die im einzelnen (zum Beispiel als regionale Kulturzentren oder sogar als einzelne Persönlichkeiten) identifizierbar sind. Aber warum sich diese Kräfte gegenüber anderen durchsetzen, ist damit keineswegs gesagt. Bis heute gibt es nicht einmal vernünftige Vermutungen über diesen Sachverhalt. Wie man auch immer das »Leben der Formen« oder »Gesetze des Stilwandels« beschrieben haben mag – diese Feststellungen gelten immer nur im nachhinein, während eine Theorie des Stilwandels sich gerade auch prospektiv bewähren müßte.
Was wir heute als dominierende Tendenz der 50er Jahre in bemerkenswert einheitlichen Urteilen herausarbeiten, mag daran liegen, daß wir die Vielfalt der Erscheinungen in den 50er Jahren nur nach eingeschränkten Kriterien sortieren; wir sehen in den 50er Jahren nur noch das, was zu unserer Auffassung von den 50er Jahren paßt. Aber dieser Sachverhalt ist ja nicht weniger mirakulös, als es die Verbreitung, ja Durchsetzung eines Stils (wie zum Beispiel des Nierentischdesigns) gewesen ist. Man könnte meinen, Stileigentümlichkeiten leiteten sich aus Grundformen (in den 50er Jahren also die Nierenform) ab; wenn alle Formen nur als Variation der Grundform aufzufassen wären, ließe sich formale Stileinheit verständlich machen. So aber verhält es sich ja nicht; für den dominierenden Stil der 50er Jahre sind genauso prägend hoch- und querformatige parallele Rechtecke wie Linienkurvaturen, die mit dem Nierenumriß keine Verwandtschaft haben. (Vgl. zu den Stilphänomenen der 50er Jahre: ›Wir wollen Gott‹ Band VI, S. 34-44 und ›Die fünfziger Jahre werden mythenfähig‹, Band VIII, S. 234-235.) Wie man die Sache auch betrachtet, Stil wird erst zum Phänomen, wenn man weder seine Planbarkeit noch seine nachträgliche Ausdifferenzierung als beliebig in Rechnung stellt.
In dieser Lage kann man schon auf den Gedanken kommen, den Lotze nur für frühere Zeitalter gelten lassen will: Stil ist die säkularisierte Manifestation »der Einheit des religiösen Bewußtseins«. Säkularisiert ausgedrückt heißt das, Stil ist eine Hirnfigur; Stilbildungen sind zwangsläufige Konsequenzen der Mechanik unseres natürlichen Weltbildapparates oder ein Phänomen der Biologie der Erkenntnis. Stil ist eine regulative Idee, weil unser Weltbildapparat von Natur aus aufs Klassifizieren über Analogiebildungen angewiesen ist. Wir sind also nicht bloß Dezisionisten, die bestimmte Ordnungsgefüge für verbindlich halten. weil wir uns für sie entschieden haben und nicht umhinkönnen, uns für eine Ordnung gegen eine andere zu entscheiden. Wir sind vor allem anderen Distinktionisten; wir müssen unterscheiden, damit uns die Phänomene unserer Wahrnehmungswelt als bedeutsam erscheinen können. Stile sind also Systeme der Differenzierung, weil mit diesem Unterscheiden Bedeutungen konstituiert werden. Stile prospektiv zu entwickeln oder retrospektiv herauszuarbeiten ist unvermeidlich. Stile sind nicht vermeidbar. Gerade deswegen kommt dem Geschmack als Kraft der Relativierung eine derartige Bedeutung zu. Geschmack begegnet der Gefahr des Konformismus.
In seiner Warburg-Biographie schreibt Gombrich: »Für Warburg war Stil immer eine Frage der Entscheidung und damit ein Symptom einer moralischen Haltung. Was ihm unausgesprochen den stilistischen Ansatz verdächtig machte, war das Element von Konformismus, das damit einhergeht.« Gemeinhin wird der Dezisionismus (Frage der Entscheidung) gerade nicht als Symptom einer moralischen Haltung gewertet, da man die Moral nur aus höchsten und unverrückbaren Wertpostulaten glaubt ableiten zu können. Die bloße Entscheidung, zum Beispiel die Entscheidung für ›eine böse Tat‹, ist für uns die Konsequenz einer unmoralischen Haltung. Nun könnte man sich aus der Affäre ziehen, indem man zu Recht behauptet, in Gestaltungsfragen gäbe es kein Gut und Böse; es gäbe zum Beispiel keine faschistische Architektur, wohl aber den Faschismus, für oder gegen den man sich zu entscheiden habe. Aber das reicht nicht hin. Viele Antifaschisten schätzten die faschistische Kunst, Architektur und Gestaltung; viele Faschisten zeigten nicht nur heimlich extreme Vorlieben für Formalavantgardismus, für Konstruktivismus, ja auch für Dadaismus (ganz zu schweigen von der Tatsache, daß die italienischen Faschisten den Futurismus nahezu als Staatskunst etablierten, den der deutsche Faschismus als Kunst seiner Gegner Stigmatisierte).
Stil erzeugt immer Konformismus, und Geschmack relativiert den Stil und den Konformitätsdruck. Kritisch werden diese Größen, und das heißt unmoralisch, wenn die Relativierungen des Geschmacks nicht mehr zugelassen werden. Es ist ganz ähnlich wie mit der kritischen Größe des Eklektizismus, die aus einem naiven Umsetzen von Lehrbuchdogmatiken entsteht. Entscheidungen aus unmoralischer Haltung sind Entscheidungen für die Eliminierung der relativierenden Geschmacksvielfalt (und der Haltungen, der Urteile, der Verfahrensweisen). Dogmatisierung ist unmoralisch, weil der Konformitätsdruck total wird, denn es gibt ja keine Argumente mehr, sich ihm zu entziehen. Ist dieser Konformismus »das tragende Gemeinbewußtsein«, von dem H. J. Schoeps 1970 meinte, daß es »alle in einer Zeit lebenden Individuen imprägniert? Ist Konformismus wirklich tragend, wie Schoeps glaubt, oder nicht in Wirklichkeit zerstörerisch, wie uns alle historischen Beispiele zeigen?
Wenn sowohl das tragende Gemeinbewußtsein wie das religiöse Bewußtsein Konsequenzen der Biologie der Erkenntnis sind, die in dem allen Menschen gemeinsamen Weltbildapparat von der Natur verankert sind, dann ist Dogmatisierung Dummheit, natürliche, kreatürliche Dummheit, der nur durch zivilisatorische Geschmacksbildung begegnet werden kann.
Argumente haben Überzeugungskraft durch Evidenz. Evidenzerlebnisse stellen sich sowohl dem dogmatischen Dummkopf wie dem durch Stilbildung Differenzierenden und durch Geschmack Relativierenden. Die natürliche Dummheit hat ebenso ihre Wahrheit wie die Stile und die Geschmacksurteile. Da hat es in der Tat keinen Sinn, mit der Dummheit zu streiten, man kann sich nur gegen sie stellen.
Stil und Geschmack sind keine Argumente gegen die natürliche Dummheit des Menschen, sondern Versuche, die Dummheit zu überformen, sie zu bezähmen, indem sie die Dummheit gegen sich selbst kehren. Ob das sehr erfolgreich sein kann, ist mit Fug und Recht zu bezweifeln; aber insofern wir überhaupt noch einen Gestaltungsanspruch erheben wollen, bleibt uns gar nichts anderes zu tun, als zu stilisieren und zu relativieren. Wer die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der Moderne als Stil bedauert, ja diesen Mangel als einen Beweis der Schwäche moderner Gestaltungskonzepte wertet, versagt sich der Einsicht, daß weniger mehr ist, wie Mies das so feierlich enthüllte. Stilisierung ist das Verfahren, durch das weniger mehr wird. Mehr bedeutet eine größere Vielfalt der unterscheidbaren Größen, die in einer wechselseitigen produktiven Steigerung nur erhalten bleiben können, wenn sie relativiert werden.