Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Band IX.1.4 Nicht Post-, sondern Prämoderne

Was gut funktioniert, sieht auch gut aus. Aber was funktioniert denn schon?

Zu einer Diskussion über Architektur als Verbrechen waren bisher nur Künstler und Architekten bereit, deren Arbeiten wenig Anlaß zu Kritik boten. Sie setzten sich nachdrücklichen Beschimpfungen aus, wenn sie die Leistungen der anderen eindeutig kritisierten. Erklären sich jetzt allgemein Architekten und Berufsverbände mit Pathos zur Debatte um das Architekturdebakel der vergangenen dreißig Jahre bereit, so muß gerade solches Pathos stutzig machen: Denn man ist eigentlich nur bereit, die allgemeine Misere, nicht aber den eigenen Anteil an schuldhafter Leichtfertigkeit zu erörtern.

Natürlich ist zuzugestehen, daß es Problemblindheiten gibt, die nicht den Einzelnen anzulasten sind; sie entstehen aus dem Zeitklima, aus der allgemeinen Befangenheit des Bewußtseins in den Bedingungen des Alltagslebens und Strukturen des gesellschaftlichen Lebens.

Es gibt auch eine Problemblindheit, die sich aus unzureichender Kenntnis von Entscheidungsprozessen geradezu zwangsläufig herstellt: Wer nicht weiß, daß Entscheidungen erst sinnvoll im Hinblick auf grundsätzliche Alternativangebote gefällt werden können; wer nicht weiß, was sogenannte Expertenurteile wert sind, wenn sie nicht Kontroversen berücksichtigen, die prinzipiell allen Entscheidungen innewohnen, der wird kaum Problembewußtsein entwickeln können. Er wird sich stattdessen bequem, ja leichtfertig auf angebliche Sachzwänge, die gar keine Entscheidung zuließen, berufen, weshalb man sich eigentlich fragen muß, was denn jemand, der solche Sachzwänge anerkennt, überhaupt noch in seinem Beruf tun will; man brauchte ja gar keine Entscheider, Funktionäre würden genügen - und haben ja offenbar auch genügt. Denn Probleme entstehen ja erst, wenn man grundsätzliche Alternativen erarbeitet, und es sich nicht von selbst ergibt, wie man sich zu entscheiden hat.

Über derartige Problemblindheiten läßt sich immerhin streiten; ihr Anteil an der gegenwärtigen Misere der gebauten Umwelt ist beträchtlich. Das einzusehen kann aber in keinem Fall bedeuten, auch die selbst verschuldete Problemblindheit zu akzeptieren! Es muß in aller Eindeutigkeit gesagt werden, daß zum überwiegenden Teil die neuerrichteten Lebensräume unserer Städte und ländlichen Bezirke genau dem entsprechen, was die für sie verantwortlichen Architekten wollten, was nach den Vorstellungen der Architekten gebaut werden sollte - im Positiven wie im Negativen.

Gerade die positiven Beispiele zeigen, daß sich Architekten nicht auf die vielbeklagten Sachzwänge berufen konnten und können. Tatsächliche Leistungen lassen sich eben erst vollbringen, wenn man sein Metier immer schon im Hinblick auf die zu überwindenden Schwierigkeiten sieht; also gerade gegen Widerstände, von Widersprüchen herausgefordert, seine Vorstellungen durchsetzt. Das war zu Zeiten Michelangelos oder Perraults nicht anders als heute.

Die Schlußfolgerung liegt nahe, daß wir es bei den Realisatoren von Bauaufgaben in den vergangenen lahren eben nicht mit Architekten, sondern mit bloßen Baufunktionären zu tun hatten. Baufunktionäre sind nicht bloß schlechte, unfähige Architekten; leider nicht einmal das. Sie haben überhaupt keinerlei Beziehung zu dem, was Architektur immer gewesen ist: nämlich Gestaltung von Lebensformen.

Schlechte Architekten wissen immerhin noch von dem Zusammenhang zwischen materialer Gestaltung der Lebensumgebung und menschlichem Verhalten; sie sind nur nicht in der Lage, in einer von ihnen gewünschten Weise diesen Zusammenhang herzustellen. Baufunktionäre vollziehen nur die Normativität des Faktischen: Wer ihnen zufolge gegen keine bestehenden Regeln, Gebote und Verbote verstößt, erhebt nach Gebührenordnung sein Honorar und ist glühender Verfechter der marktwirtschaftlichen Leistungsgesellschaft. Architekturkonzeptionen sind ihnen überflüssig - sie nennen solchen Verzicht einen Beweis für rationelles Arbeiten.

Die Schlußfolgerung, daß bei uns nach dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich Funktionäre anstatt Architekten gebaut haben, liegt nahe, weil es kaum Programmatiken von Architekten gibt, die auf den entscheidenden Aspekt ihres Metiers ausgerichtet sind: auf den Willen zur Gestaltung von Lebensformen. Die wenigen Programmatiken, die in diesem Jahrhundert entwickelt wurden (Bauhaus, Schönheit der Arbeit, Postmoderne) wurden von den zünftigen Berufsständlern der Lächerlichkeit preisgegeben. Das war in einer Hinsicht vielleicht verständlich, da die Katastrophe des Dritten Reiches im wesentlichen gerade durch die rücksichtslose, hundertfünfzigprozentige Durchsetzung von Programmatiken der Lebensformen verursacht worden war. Aber das Dritte Reich zwang in der Architektur so wenig wie sonstwo den Angehörigen eines Berufsstandes eine geschlossene einheitliche Unterwerfung unter eine einzige Programmatik auf. Soweit sich Berufsstände unterwarfen (in einigen Bereichen bereits 1932-34), wurde das von den Berufsständlern gerade genutzt, um sich die Konkurrenz der Kollegen und die Konkurrenz der Ideen und Programme vom Halse zu halten. Diese Manöver wurden dann mit der Behauptung gerechtfertigt, sie seien durch politische Konstellationen erzwungen worden. Mit den Verbrechen des Dritten Reiches sind weder alle anderen politischen Programmatiken hinfällig geworden, noch bedeutet dieses Scheitern, zukünftig in allen gesellschaftlichen Teilbereichen auf Programmatiken verzichten zu können. Nicht die Programme, sondern die Arten ihrer Indienstnahme sind problematisch. Man kann darauf wetten, daß nach dem Zweiten Weltkrieg gerade die alten Nazis sich geflissentlich programmlos pragmatisch gaben. Es paßte ihnen und paßt ihnen wunderbar in den Kram, mit dem Argument, sich demokratisch aufgeklärt verhalten zu wollen, die Verpflichtung auf jeden übergeordneten Gesichtspunkt loswerden zu können.

Natürlich ist das nur eine vorgeschützte Behauptung, die ein Grundübel der jungen Bundesrepublik beschreibt. Wer der angeblich reinen Geschäftemacherei, von ihren Folgen her, Einwände entgegensetzt, wird als Ideologe verdächtigt - das Grundgesetz aber verbiete jede Einmischung von Ideologen ins Geschäftsleben.

Welch eine erhellende Ironie: Einerseits bestätigte die Entwicklung der Architektur in der DDR, daß nicht die Bodenspekulation und damit die Rendite für die Misere der BRD-Architektur verantwortlich sein konnten; andererseits blieben für die merkwürdigen Übereinstimmungen von >moderner< Architektur in der DDR und >moderner< Architektur in der BRD nur noch Gründe übrig, die in der systemübergreifenden Ideologie der Moderne gesucht werden mußten. Die Architektur wurde gerade zu dem, was Architekten wollten, weil sie ihre Vorstellungen für ideologieunverdächtig, für funktionsgerecht, für pragmatisch, für rational und rationell hielten: Das aber hat sich ja als durch und durch ideologische Verdrehung der Wirklichkeit herausgestellt. Die Nachkriegsarchitektur ist ein Verschulden aus künstlerischer Freiheit; die Moderne wurde durch ihren Autonomieanspruch zerschlagen.

Nein, es ging wirklich nicht um Klugheit durch Schaden. Wer sich nach dem Zweiten Weltkrieg etwa wie ein Alberti als Architekt betätigt hätte, wer wie Alberti Bücher über das Familienleben geschrieben hätte, wer wie Alberti die Kommunikationsformen der Nutzer seiner Bauten analysiert hätte, wäre mit Sicherheit der Diskriminierung durch die Mehrzahl seiner Standesgenossen ausgesetzt gewesen; sie hätten ihn der Don-Quichotterie bezichtigt. Aber derartige Überlegungen mit Ernst und Nachdruck verfolgt zu haben, rechtfertigte historisch erst den Ruf der Architektur als erste unter den Künsten; als erste der Künste, weil sie umfassend die Probleme der Lebensgestaltung durch Gestaltung von totem Material zur Sprache zu bringen verstand - die Probleme, nicht aber Vollzugsvorschriften, mit denen man Probleme angeblich problemlos beseitigen könne.

Nichts, keine Techniken und keine Materialien, kennzeichnen die Moderne besser als ihre Auffassung vom Zusammenhang zwischen Lebensgestaltung und Materialgestaltung, zwischen Programmen und ihren Realisationen, zwischen Theorie und Praxis. Diese Relationen gilt es zu problematisieren und den so erarbeiteten Problemen sich zu stellen.

Ich verstehe die Positionen des »Postmodernismus«, soweit sie interessant sind, als das Resultat der geforderten Problematisierung und möchte mich deswegen mit diesen Positionen beschäftigen. Ohnehin ist es Zeit, daß wir auf unseren Schreibtischen aufräumen. Ordnung zu schaffen ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Tabula-rasa-Machen. Die meisten Auseinandersetzungen mit dem Postmodernismus scheinen Abräumkommandos zu gehorchen, damit auch die Theoretiker auf das Bildungsniveau jenes pragmatischen Architekturverständnisses hinaufgehoben werden, das - einem Touristenwitz zufolge - historische Bauwerke danach beurteilt, wie lange man brauche, um diese Bauten abzureißen. Das ist ein Witz; aber zu mehr als zum Witzereißen hat das Totschlagwort Postmodernismus bisher kaum Anlaß geboten.

Denn es ist ja wohl ein Witz, den Postmodernen pathetisch vorzuwerfen, daß sie Antifunktionalisten und Technikfeinde seien. Sie haben nichts gegen klimatisierte Hochhauspaläste an verkehrsreichen, innerstädtischen Straßen. Leider gibt es Derartiges nicht; denn was sich heute so nennt, ist reiner Schwindel mit ungedeckten Wechseln.

Die Infrastrukturen der Hochhauspaläste sowohl im Wohn- wie im Gewerbebaubereich sind völlig unzureichend, ja asozial. Um die Eingangszonen pfeift der Wind, als wehe er tatsächlich. Die Klimaanlagen sind Krankheit >demokratisierende< Keimschleudern; Fahrstühle rumoren, Eisschränke sirren; es prasselt die Wasserspülung des Nachbarn; Lautsprechervibrationen nerven, Formen und Farben der verwendeten Bau- beziehungsweise Ausstattungsmaterialien fördern ständig den Brechreiz. Moderne Infrastruktur der Stadt?

Die Brutalobänder der Straßen strangulieren statt aufzuschließen. Den Verkehr bestreiten lärmende, Gift speiende, aber kaum fahrende Automobile, die es samt und sonders verdient hätten, in den Museen für Vorgeschichte der Technik eingemottet zu werden. Bestenfalls gleicht die moderne Stadt allen jenen mittelalterlichen an Gestank, quälender Enge und Terror der Anpassungszwänge, die die moderne Architektur endlich zu ersetzen versprach.

»Wir werden mit den bedauerlichen Vorgängen in der Neuen Heimat ganz allein fertig, dazu brauchen wir nicht die immer erneuten kritischen Hinweise von Außenstehenden«, tönt der Obergewerkschaftler, obwohl das »Selberfertigwerden« jahrelang darin bestand, das Vorhandensein jener Probleme überhaupt strikt abzustreiten. »Wir denken gar nicht daran, Regierungsmitglieder ihres Amtes zu entheben, bloß weil sie bei der Geldbeschaffung für ihre Parteien gegen geltendes Recht verstoßen haben. Wer diese Verstöße als solche beschreibt, gar als Skandal öffentlich kennzeichnet, macht ein objektives Verfahren unmöglich. Die Aufdeckung von Gesetzesverstößen verhindert ihre Verfolgung«, verlautbart die Bundesregierung.

»Das Sein bestimmt das Bewußtsein; die Leute ziehen eben in die Märkischen Viertel, weil es ihnen dort gefällt! Sonst würden sie ja wie viele Architekten in einem schönen Fachwerkhaus wohnen«.
Das soll die so sehnlich herbeigewünschte Moderne sein, aufgeklärt, technisch rational, demokratisch?

Und da wundert man sich noch über das Pathos der Postmodernen? Bevor die Postmodernen auch nur einen Bruchteil ihrer Berufspraxis in die Welt gesetzt haben, wird man bemerken, daß es die Moderne noch gar nicht gegeben hat. Die Postmoderne wird die Prämoderne geworden sein. Der Postmodernismus ist eine ganz verständliche Reaktion auf die leeren Versprechungen des Modernismus, der nur behauptete, sich möglichst weitgehend an Funktionen auszurichten. Täte er das nur - wir würden ihm allesamt die Beglaubigung als Ausdruck unseres Selbstbewußtseins zugestehen.

Was für kümmerliche Funktionalisten, die unfähig sind, als formprägende Funktion auch Metaphorik des Ausdrucks, Vielwertigkeit und Vieldeutigkeit der Erscheinungen, ja das Verlangen nach Erwartungsstörung, Überraschung, Irritation anzuerkennen! Was sind das für lächerliche Sonntagsprediger vor nicht einmal zahlungskräftigen Auftraggebern, die von Bedürfnissen annehmen, daß sie befriedigt anstatt zur Sprache gebracht werden müßten?

Das ganze absurde Gerede von Postmodernismus als Gegenaufklärung und Irrationalismus ist ein Versuch aller gläubigen Kunstzöglinge, für sich selbst den vemeintlichen Rechtfertigungstitel ›rational/wissenschaftlich‹ zu retten; Rettungsversuche künstlerisch Impotenter, die sich selbst kastriert haben, als sie lehrbuchgemäß die Naturformen ihrer delikatesten Körperpartien zu rechteckigen Kästen umgestalten wollten.

Kurz: Der postmoderne Impuls richtet sich nicht gegen die Zielsetzungen der Moderne, sondern gegen die Behauptungen des Modernismus, diese Ziele seien bereits erreicht oder auch nur auf dem bisher favorisierten Wege zu erreichen. Der vorherrschende Zustand der selbstherrlich modern sich nennenden Welt ist zum überwiegenden Teil als das finstere Mittelalter zu bezeichnen, das es historisch außerhalb unserer Moderne nie gegeben hat. Die mittelalterliche Welt erscheint uns als über sich selbst wesentlich aufgeklärter, als wir es im Hinblick auf die haltlosen Anmaßungen des Modernismus sind.

Die postmoderne Kritik behauptet nicht, daß unsere moderne Welt durch allseits vorherrschende Rationalität sinnen- und lebensfeindlich geworden sei, sondern durch zu wenig Rationalität; daß sie nicht von zu viel Technik beherrscht werde, sondern durch die kindischen Spielereien beschränkter Bastler.

Wer hätte etwas gegen ein Ambiente aus Chemieprodukten, die tatsächlich das wären, was sie als Ausdruck moderner Technik zu sein behaupten? Was anderes aber als bestenfalls naive Technikbanausen sind die Herren der Großchemie, die nur den Primärnutzen, nicht aber den Sekundär- und Tertiärschaden ihrer Produkte zu erkennen vermögen. Soll das etwa Ausdruck von moderner Rationalität sein, den bei jeder Produktion entstehenden Abfall irgendwo in die Gegend zu kippen? Es ist nichts als scholastische Begriffsklauberei, der modernen Produktion ihre eigenen Bedingungen nicht zurechnen zu wollen oder mit ein paar operativen Zügen auf dem Papier und in Bilanzen das aus der Welt verschwinden lassen zu wollen, was nicht in den Kram paßt. Alles das ist finsterstes Mittelalter! Von Rationalität und Funktionsgerechtigkeit kaum eine Spur. Und das will die Moderne sein? Wie schön waren die Zeiten, in denen man allgemein die Egoismen wirtschaftlicher und politischer Macht für die Deformationen der Moderne verantwortlich machen konnte. Doch diese Egoismen sind ihrerseits Ausdruck der Natur unseres Weltbildapparates, die für ein Leben hinterm Walde gerade noch hinreichen mag, den Anforderungen einer Moderne aber noch lange nicht gewachsen ist. Zu recht preist die Reklame die hellsten Köpfe unter uns als schlaue Füchse: Und ist das nicht füchsisch schlau, sich selbst bloß als tierische Natur zu verstehen? Bloß als Affen auf Rädern und nicht als verantwortlichen Verkehrsteilnehmer? Bloß als natürlich reaktives Bündel feuernder Gehirnzellen und noch nicht als vernunftbegabten Götterliebling?

Aber ist ein solches Bekenntnis zu der eigenen Beschränktheit nicht schon Ausdruck wünschenswerter Reflexivität? Nein, denn es gilt, seine eigenen Beschränktheiten nicht als Entschuldigungen für böswillig oder leichtfertig weitergetriebene Spielchen ins Feld zu führen, sondern durch die Einsicht in die eigene Beschränktheit weniger leichtfertig oder weniger böswillig zu handeln.

Postmodernismus vor der Moderne

Als in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts Louis Sullivan leichtfertigerweise seinen Aphorismus »die Form folgt der Funktion« zu einem allgemeinen Gesetz erhob, hätte man glauben dürfen, daß er mit dieser Parole nicht einmal einen durchschnittlich aufgeklärten Zeitungsleser hinter dem Ofen hervorzulocken vermöchte, geschweige denn die künstlerische Avantgarde der Moderne in Bewegung zu setzen. Denn es war ja immerhin schon einige Jahrzehnte her, seit Darwin und mit ihm die aufgeklärte bürgerliche Welt jenes angebliche Gesetz »form follows function« auf den Status einer sich fortschrittlich gebärdenden christlichen Bibelexegese hinabgestoßen hatte. »Die Form des Giraffenhalses folgt seiner Funktion«, hatte Lamarck hundert Jahre vor Sullivan dekreditiert. Der Giraffenhals habe die bekannte langgestreckte Form, weil die Giraffe auf diese Weise auch hochhängende Blätter von den Bäumen zu fressen vermöge. Im übrigen habe alles Belebte auf Erden seine bestimmte Form, damit ein Ganzes entstehe, in dem alles paßt und gut funktioniert. Das war bei weitem keine Evolutionstheorie, wie Darwin zu zeigen vermochte, sondern nur die Ersetzung des christlichen Schöpfergottes durch die sich wandelnde Natur.

Darwin zeigte, daß Abweichung (Mutation) und Anpassungsfähigkeit (Selektion) im wesentlichen den Mechanismus der Evolution ausmachen. Durch wie auch immer hervorgerufene Mutationen hatten einige Giraffen längere Hälse bekommen. Diese Tiere konnten sich ihren Lebensräumen besser anpassen, weswegen sie sich stärker vermehrten als die Kurzhalsigen. Ob nun Darwin mit seiner Auffassung tatsächlich das Gesetz der Evolution formuliert hatte oder nicht: klar war jedenfalls geworden, daß das Gesetz der Evolution auf gar keinen Fall »form follows function« heißen konnte. Allen war das klar, nur eben nicht Sullivan und denen, die ihm nachfolgten.

Der heutige Postmodernismus holt also endlich nach, was schon vor dem ausgerufenen Modernismus hätte auch für die Künste selbstverständlich sein können: Form ist Funktion. Alles Lebendige lebt auf dieser Erde und doch in je eigenen Welten. Das gleichzeitige Zusammenleben wird möglich, weil die artspezifischen Aktions- und Reaktionsweisen, anhand derer das Überleben der Arten gesichert wird, auf Gestaltrepertoires (aus Formen, Farben, Gerüchen) anspringen, die im wesentlichen nur jeweils einer Art wahrnehmbar sind. Schon der Pfau versteht die spezifische Geste des Truthahns nicht mehr. Form, Farbe etc. sind konstitutive Funktionen für den Aufbau der Lebenswelt einer Art.

Schon vor Beginn der Moderne hatte Friedrich Nietzsche gefragt, ob auch die Evolution der Kulturen nach den gleichen Gesetzen verlaufe wie die der Natur. Nietzsches Antwort war ein eindeutiges Ja. Die Moderne würde sich nach Nietzsches Meinung dadurch von allen anderen Epochen unterscheiden, daß sie sich dieser Einsicht nicht mehr versperrte. Mit der Einsicht wäre dann die Moderne auch aller jener Einschränkungen und Beschränktheiten ledig, die vorhergehende Kulturen bezwungen hätten.

Nietzsche machte die sensationelle Entdekkung, daß Mutationen im kulturellen Bereich gerade dann vermehrt entstünden, wenn man sich darauf kapriziere, kulturell gewachsene Ideen, Weltbilder und Begründungszusammenhänge stabil zu halten, indem man sie identisch von einer Generation auf die nächste zu übertragen versuche. Gerade die rigiden Anstrengungen, Traditionen stabil und damit verbindlich zu halten, erzeugen Abweichungen, die um so wirksamer sind, als die Zeitgenossen gar nicht merken, wie sich, gegen ihren Willen, die entscheidenden Werte und ihre Repräsentationen verändert haben. So etwa glaubten, nach Nietzsches Meinung, seine Zeitgenossen im allerfortschrittlichsten Europa immer noch, eine christliche Gesellschaft zu sein. In Wahrheit diene die Berufung auf die Offenbarung jedoch nur der Tarnung von Wolfsgesinnungen.

Hinter dem Bemühen, Traditionen verbindlich zu halten, entdeckte Nietzsche das menschliche, allzumenschliche Verlangen nach etwas Bleibendem, Unveränderlichem. Kulturelles Selbstbewußtsein schien sich überhaupt nur aus dem mehr oder weniger erfolgreichen Versuch herzuleiten, den durch Instinktabschwächung beliebig agierenden, dem Nihilismus ausgelieferten Menschen unaufhebbare, seinem subjektiven Vermögen nicht mehr zugängliche Bindungen und Letztbegründungen zu schaffen. Nietzsche machte sich über diese Wahrheitssuche lustig, denn gerade sie war dafür verantwortlich, daß kein alter Stein auf dem anderen blieb. Er wußte schon, daß wir logischerweise das uns unaufgebbar Letzte nur verteidigen können, indem wir es zerstören.

Die Selektion im Kulturbereich besorgte nach Nietzsches Meinung die Indienstnahme von kulturell/künstlerischen Programmatiken und Werken. Im Zeitalter der Demokratie begründet sich Macht durch die Bereitschaft, dem gesunden Menschenverstand allein Autorität zuzugestehen. Gesunder Menschenverstand ist jener Urteilsmechanismus in uns, der den natürlichen Instinktregulierungen noch am stärksten verhaftet ist. Macht selektiert kulturelle Produktion: Also die Dummheit selektiert kulturelle Produktion. Alle sogenannten realistischen, naturgetreuen Auffassungen des künstlerischen Arbeitens hätten in Diktaturen des gesunden Menschenverstandes ihre Chance auf Geltung, - alles angeblich seit alters her Unveränderte, alles penibel Tradierte, alles Dauer Behauptende. Die Dummheit des gesunden Menschenverstandes sei überhaupt so mächtig, weil sie Dauer garantiere kraft Natur des Menschen! Endlich Schluß mit den ewig neuen Entwicklungen; endlich nicht mehr umlernen müssen; endlich nicht mehr argumentieren müssen.

Gründete die Moderne in der Anerkennung jener Tatsachen, denen jede Kultur unterworfen sei, die aber bisher gerade geleugnet wurden, dann mußte es zur Programmatik der Moderne gehören, das Verlangen nach Dauer nicht durch rigiden Traditionalismus, sondern durch Einsicht in diejenigen Mechanismen zu gewinnen, die unsere Urteilskraft, unsere Weltsicht beherrschen. So hatte Kant schon das Programm der Aufklärung, der Moderne skizziert. Die Moderne wäre so ein tatsächlicher Vorstoß zu den ewigen, »natürlichen« Bedingungen unseres Lebens jenseits bloß fiktiver Bezüge zu historisch beliebig entwickelten Traditionen, die sich unter der Hand ständig wandeln und die deswegen kaum verbindlich sein können.

Eine so verstandene Moderne konnte sich aber, und das sah bereits Nietzsche, nicht dagegen wehren, von dem reaktionären Traditionalismus unter den gleichzeitig konkurrierenden Stilen und Denkweisen ausgewählt und in Dienst genommen zu werden. Der Modernismus war nur deswegen ein so erfolgreiches Programm und eben keine tatsächlich erfolgreiche Veränderung der Lebenspraxis, weil er von der Reaktion getragen wurde. Es ist kein Zufall, daß die politisch reaktionärsten Systeme sich am vorbehaltlosesten der technisch zivilisatorischen Evolution verschrieben. Die bekannteste Charaktermaske in diesem Feld ist der angeblich weder historisch noch politisch interessierte, sondern bloß sachverständige Technokrat. Die tatsächlichen Programmatiker der Moderne kamen gegen die Technokraten nicht auf; denn sie begingen den entscheidenden Fehler, ihre Modernität dadurch beweisen zu wollen, daß sie sich als kalte, dem rationalen Kalkül und nicht der historischen Vernunft dienende Sachverständige darzustellen versuchten. Die Besten unter ihnen hat das Spiel mit falschen Karten stets erschreckt. Ein doppelt falsches Spiel, sowohl von Seiten der politischen und gesellschaftlichen Reaktion, wie von Seiten ihrer Opfer. Der Charaktermaske auf der einen Seite steht das unglückliche Bewußtsein des wirklich Modernen auf der anderen Seite gegenüber, der durch seine Einsicht in die verständliche, aber zerstörerische, ›natürliche‹ Befangenheit des reaktionären Technokraten daran gehindert wird, sich ihm entschieden zu widersetzen. Das ›Eklektizismus‹ genannte Kaufhaus der Stile aller Zeiten wechselte zur Umsatzsteigerung das Warenangebot. Gerade Wände, rechte Winkel, ornamentfreie Oberflächen: Das war nicht nur ein brauchbares Tarnprogramm, sondern auch noch ein gutes Geschäft.

Nietzsche, Marx und Max Weber haben vor Beginn des Modernismus diese Indienstnahme der Moderne durch die Reaktion klar zu analysieren verstanden. Bei diesen Analysen setzen die Postmodernen wieder an, um nun vielleicht doch noch das seit dem 16. Jahrhundert angekündigte, seit dem 18. Jahrhundert entwickelte und im 20. Jahrhundert vorübergehend zerschlagene Projekt der Moderne in Angriff zu nehmen. Der zentrale Ansatzpunkt betrifft das Verhältnis von Programm und faktischem Handeln, von Plan und Durchführung, von ldee und ihrer materialen Vergegenständlichung. Alle reaktionären Systeme wie individuellen Haltungen gehen davon aus, daß Planungen realisiert werden müßten und daß die Realisierungen um so optimaler seien, je weitgehender sie der Planung entsprächen. Oder: jedes politisch/kulturelle System, jede individuelle Haltung wird totalitär, wenn sie sich anschickt, irgendwelche noch so harmlosen Programmatiken buchstabengetreu, begriffsgläubig zu verwirklichen.

Den Reaktionären mit totalitären Wirkungen erschien die Moderne als eine Gelegenheit, endlich nicht mehr durch die Eigengesetzlichkeit von Medien und Materialien und durch ständigen kulturellen Wandel daran gehindert zu werden, die spekulativsten und umfassendsten Pläne identisch in gesellschaftliche Wirklichkeit zu übersetzen. Das war ihrer Meinung nach geradezu das Kennzeichen der Moderne, daß nun alle noch so phantastischen Pläne tatsächlich ohne Abstriche verwirklicht werden könnten. Die heute so genannte Postmoderne ist in Wahrheit eine Prämoderne, insofern sie diese Kennzeichnung von Einstellungen und Haltungen als die endlich durch Modernität zu ersetzende auffaßt. Um das zu erreichen, bedarf es einer Entflechtung, einer Entzerrung, ja einer Zerschlagung des Identitätskampfes: die Moderne und die Reaktion müssen entzweit werden.

Durch bewußt vorläufige, auf Widerruf, auf Variabilität angelegte Kulissenarchitektur versucht der Postmoderne, das reaktionäre Mißverständnis zu verhindern, die gebaute Architektur sei um so gerechtfertigter und um so qualitativer, je eindeutiger sie als identische Übersetzung allgemeiner, akzeptabler, ja sogar anerkannter Planungen sei. Die postmoderne Prospektarchitektur leugnet ihren demonstrativen Charakter gar nicht; sie zu kritisieren, weil sie ganz offensichtlich keinen hohen, bleibenden, verbindlichen und Epochen sowie Kulturen überspringenden Stil entwickelt habe, hieße ihr Selbstverständnis und ihre tatsächliche Leistung vollkommen zu verfehlen.

Seit dem 16. Jahrhundert, speziell im 18. Jahrhundert und eben in der unmittelbaren Gegenwart waren Ruinen für Architekten und Künstler von besonderem Interesse. Die Ruine ist nämlich ein Objektcharakter, in dem sich in aufklärender Weise Programmatiken und Verwirklichungen, Planung und Ausführung vermitteln. (Vgl. hierzu ›Ruinentheorie‹, Band VIII, S. 176-190) Wo die Reaktion baute, um noch zukünftige Ruinen die ursprüngliche Mächtigkeit rücksichtslos durchgesetzter Programmatiken bezeugen zu lassen, da interessiert sich der wahrhaft Aufgeklärte für die Ruinen (gerade als Neubauten), insofern sie bekunden, daß eine menschliche Architektur niemals Ideen, Vorstellungen, Programme verwirklichen darf. Sie muß sie zur Diskussion stellen, um aus diesem Impuls über das hinausgehen zu können, was uns bisher darauf festlegen wollte, daß Wahrheit in der platten Übereinstimmung ideeller Konzepte und materialer Gegebenheiten liege. Die postmodernen Architekten errichten solche Ruinen. Sie sind Wegmarken der geforderten Selbsteinsicht des modernen Menschen in seine eigenen Abhängigkeiten und prinzipiellen Beschränktheiten. Notwendige Forderungen, damit er nicht länger ein bloßes reaktives Tier bleibe. Der Postmodernismus schafft Voraussetzungen für eine zeitgemäße Wiederaufnahme der Diskussion um die Moderne. Es steht zu hoffen, daß die tatsächliche Moderne nichts anderes sein wird als eine solche Diskussion.

Petrarca-Preis 1977, Tusculum, Bild: © Melusine Huss.
Petrarca-Preis 1977, Tusculum, Bild: © Melusine Huss.