Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 381 im Original

Band IX.1.1 Tischkultur heute

Vortrag zur IDZ-Ausstellung ›Tischkultur heute‹, Berlin, September 1981. Vgl. hierzu auch: ›Essen als Weltaneignung‹, in: ›Ästhetik als Vermittlung‹, S. 534 und ›Sehnsucht und Flügel‹ Band VI, S. 45-52.

Das Thema ›Tischkultur heute‹ ist eines aus dem Bereich der Auseinandersetzung der Alltagsästhetik, die im IDZ seit seinem Bestehen einen besonderen Stellenwert hat. Ästhetik in der Alltagswelt, den hochkulturellen ästhetischen Äußerungen wie Gemälden, Plastiken etc. gegenübergestellt, ist im Grunde eine Frage nach der Ästhetik des Selbstverständlichen, nach dem, was von den meisten Menschen für vollkommen selbstverständlich gehalten wird. Die Frage ist dabei, warum die Menschen die wichtigsten Bereiche ihres Alltagslebens – wir gehen ja nicht dauernd ins Museum, sind aber weitgehend in Wohnungen an den Eßtischen, Eßplätzen – für selbstverständlich halten.

Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste heißt: Wir nennen eben das völlig selbstverständlich, was so kompliziert zu verstehen wäre, daß wir gar keine Aussicht darauf haben, es zu klären. Da man vor etwas Ungeklärtem Angst hat, macht man es sich vertraut, indem man es für etwas völlig Normales und Selbstverständliches hält, wie eben die Frage nach unseren Lebensgewohnheiten, Lebensformen, nach unseren Sitten und Gebräuchen, die kein Mensch hinreichend erklären kann. Die zweite Möglichkeit zu antworten, wäre die, zu sagen: Das Selbstverständliche ist eben das, worum sich die Menschen nicht kümmern können, weil sie ständig wichtigere Probleme zu bearbeiten haben. Sie haben, weiß Gott, andere Sorgen, als sich beispielsweise um die Frage nach dem Geschirr auf dem Tisch und nach der Art, den Tisch zu decken, zu kümmern. Aber das Entscheidende ist, daß man das Leben nicht auf die Darstellung und Erörterung großer Probleme beschränken kann, nämlich gerade der Probleme, um die es eigentlich geht. Die äußern sich tatsächlich erst im Bereich des Selbstverständlichen, nämlich dann, wenn wir nicht mehr für selbstverständlich halten können, was wir bisher dafür hielten. Dann erst hat ein großes Problem für uns seine Bedeutung.

Ich erinnere Sie an den Film ›Lohn der Angst‹ von Clouzot, wo dieser Zusammenhang dargestellt wurde. Der Hauptakteur bringt im Unterschied zu seinen Partnern sich selbst, seine Angst, seine Befürchtungen, unter Kontrolle. Nicht, indem er große philosophische Überlegungen über die Situation des Lebens im allgemeinen, den Sinn des Lebens im besonderen usw. anstellt, sondern, indem er ganz strikt darauf besteht, die alltäglichen Verrichtungen, gerade in einer solchen Situation, durchzuhalten, sich selbst das Durchhalten dieser Selbstverständlichkeiten des Unauffällig-Alltäglichen abzuverlangen und dadurch tatsächlich gegenüber den anderen in Vorzug zu kommen, sich nicht von den Erwartungsängsten gegenüber einer bedrohlichen Situation auffressen zu lassen.

Dieses Verfahren ist in all den Büchern, die sich vor hundert Jahren und in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg mit diesem Problem beschäftigt haben, sehr deutlich gesehen worden, Einer der bedeutendsten Autoren, Wolfgang Frett, hat in seinen ›Lebensformen – Anmerkungen über die Technik des gesellschaftlichen Lebens um die Jahrhundertwende‹ ganz besonders die Mitglieder der Pariser Kommune von 1871 gewürdigt. Und nicht etwa, weil er mit deren politischer Auffassung sympathisierte, sondern weil er aufzeigte, daß diese Leute sich auf dem höchsten Stand der Zivilisation und Kultur befanden, denn sie veröffentlichten in ihrer prekären Situation (sie waren eingeschlossen von der für sie feindlichen Umwelt), auf den Tod bedroht, täglich eine Kommuniqué, in dem sie ihren Mitleidenden in der Art und Weise nobler Restaurants mitteilten, wie man »roti de chat« oder ein »filet de chien« oder ein Pferdesteak zubereitete; mit anderen Worten: wie man Ratten, Mäuse, Ungeziefer zubereitete, wobei man im allgemeinen eben meinte, die Form dieser Zubereitung garantiert alleine die Möglichkeit, eine solche Periode zu überstehen, in der man von Ratten, Mäusen, Hunden, Pferden, Kadavern leben mußte. Diese Anmerkungen schlossen regelmäßig mit dem Hinweis darauf, daß jeder, der dieses Ungeziefer nun zwangsläufig nach der Manier nobler Restaurants zubereiten und verspeisen wird, sich selbst und vor allem seinen Magen in ein Museum verwandelte – in ein Museum der Naturgeschichte. Diesem Gedanken wird eine Selbsteinschätzung abverlangt, die den Wert von so etwas Selbstverständlichem wie etwa Tischsitten erst garantierte.

In diesen Abhandlungen wird darauf hingewiesen, daß nicht der Heroismus großer Ideen, nicht der Heroismus großer Konzeptionen die Menschen trägt, vor allem dann nicht, wenn die Situation bedrohlich ist, sondern, wie es wörtlich heißt, der »Heroismus des Alltäglichen«. Und unter diesem, der jedem Menschen abverlangt wird in solchen Situationen (und das können nur die abschätzen, die schon mal in solchen Situationen waren), ist das Beschaffen und Zubereiten des Essens und die Art und Weise, wie man es dann zu sich nimmt, ganz entscheidend. In solchen Situationen wird klar, daß unser Begriff ›Kultur‹ ja von nichts anderem herstammt als eben dieser Art der Beschaffung und Zubereitung von Nahrung, nämlich dem lateinischen ›agricultura‹, das in seiner verkürzten Form als ›Kultur‹ sich wesentlich auf dieses Moment der Anverwandlung von Natur in Gestalt der Nahrungsmittel ausrichtete. In den Formen des Essens kommt diese Art des Bezugs des Menschen zur Natur und Welt als eine Basis jeder Kultur zum Vorschein. Es ist die Basis der Kultur schlechthin. Zweitens: Über das Essen, seine Zubereitung und seine Einverleibung bildet sich, in frühster Zeit in allen Kulturen, etwas Entscheidendes aus, nämlich: Die Regulierung der Beziehung zwischen den Menschen als Ritualisierung, als Ausbildung von Gesellschaftlichkeit in Formvorstellung des Sozialen. Das, was in der Gegenwart beispielsweise ein Künstler wie Beuys ›Soziale Plastik‹ nennt, ist ja nichts anderes, als eine solche Strukturierung, eine solche Ritualisierung gesellschaftlicher Beziehungen. Die ältesten kulturellen Merkmale, die wir im Leben von Menschen feststellen können, vermitteln sich durch die beim Essen ausgebildeten Beziehungen zu andern, vor allem zum Fremden und zum Feind. Dabei wird speziell diese Beziehung während des Essens neutralisiert, so daß die Annahme, es mit einem Feind zu tun zu haben, korrigierbar wird und es möglicherweise gar nicht erst zu einem Ausbruch der Feindseligkeit kommt. Und drittens: Neben der Basis der Kultur, neben der Ausbildung der wichtigsten Formen von Gesellschaftlichkeit und Ritualisierung ist über das Essen, die Zubereitung und die Einnahme, eine ganz entscheidende Form der kommunikativen Beziehung der Menschen untereinander, mit Bezug auf etwas Drittes, Gemeinschaftliches gesehen worden.

Nicht nur im Christentum, sondern in vielen Religionen, stellt das Abendmahl die entscheidende Form der Ausbildung einer solchen Kommunikationsgemeinschaft dar. Wenn diese drei Grundvoraussetzungen – Basis der Kultur in der Nahrungszubereitung, in der Aufnahme von Essen; Ausbildung der entscheidenden Formen von Gesellschaftlichkeit, Ritualisierungen, drittens die entscheidende Begründung von gemeinsamer Kommunikation gegenüber anderen – angenommen werden, dann fragt das Thema »Tischkultur heute«, eben danach, wie es mit diesen Leistungen gegenwärtig steht. Wohl nicht allzu gut.

Vor zehn Jahren hatten wir schon eine Ausstellung im IDZ zum Thema »Essen in der Arbeitswelt«, die zu einem nicht sehr begeisternden Resultat kam. Inzwischen hat sich die Situation wohl noch verschlechtert: »Tischkultur heute« zu betrachten, heißt zu sehen, daß im Hinblick auf die Basis aller Kultur die Nahrungszubereitung überhaupt nicht als kulturelle Tätigkeit gewertet wird, nicht gesehen wird; die Bemühungen einiger Künstler, wie beispielsweise Spoerri, oder Bemühungen von Zeitschriften wie ›Essen & Trinken‹, die Wahrnehmung für diesen Vorgang des Beschaffens, der Anverwandlung und der Einnahme der Nahrung als kultureller Leistung bewußter zu gestalten, haben wenig Erfolg gehabt.

Natürlich spielt dabei eine Rolle, daß wir weitestgehend von der Kultivierung ausgeschlossen sind, da wir industriell gefertigte Nahrungsprodukte, Fertiggerichte zu uns nehmen. Diese lassen neben der Beschaffung und Kultivierung des Ausgangsmaterials nicht einmal mehr die Anverwandlung zum Kochen zu, so daß wir selber von der kulturellen Bearbeitung ausgeschlossen werden, das heißt im Hinblick auf dieses erste Problem »Basis aller Kultur ist die Anverwandlung der Nahrung« einfach kulturlos geworden sind – weitestgehend.

Im Hinblick auf die Ausbildung von Gesellschaftlichkeit, Ritualisierungen in bestimmten Hinsichten, können wir sagen, daß es heute Ritualisierung dieser Art bestenfalls noch als Gewohnheiten gibt und dann womöglich auch nur noch als schlechte Gewohnheiten, nämlich die der Bequemlichkeit. Wo es zu Ritualisierungen kommt, vielleicht in großen Gruppen, gibt es eine strikte Trennung gegenüber der Privatebene, also der eigenständigen kultivierenden Tätigkeit eines Menschen. Dies merkt man besonders dann, wenn man bei sich selbst entdeckt, daß man weder auf der einen, der Großgruppenebene noch auf der privaten Ebene in der Lage ist, solche Gesellschaftsformen, solche Ritualisierungen mit Verbindlichkeit zu versehen. Selbst da, wo es eigentlich am leichtesten sein sollte, nämlich beim Festefeiern, werden diese Gelegenheiten gerade durch Entritualisierung zu etwas genauso Beliebigem und Albernem, Bedeutungslosem, Zerhacktem, Partikularem wie alle anderen Handlungen des Alltags auch.

Dann der dritte Punkt: Der kommunikative Akt des Essens ist mit Bezug auf dessen Verpflichtungen zur Gesellschaftlichkeit zu sehen. Auch in dieser Hinsicht hapert es entscheidend. Beispielsweise sind die Geschäftsessen und die Arbeitsessen ziemlich schmal gefaßte, vorwegbestimmte kommunikative Akte, und soweit sie nicht von vornherein als solche deklariert sind, kommt ihnen allen gemeinsam zu, daß sie auch den Teilnehmer von eigener kultureller Tätigkeit ausschließen. So wird ihm immer schon alles vorgegeben, sei es, daß er diese Vorgaben bewußt wählt, oder, daß man sie ihm aufnötigt. Zum Beispiel in der Kantine, in der die dort gehandhabte Form des Essens – möglichst schnell eine große Anzahl von Menschen sich sättigen zu lassen – die Kommunikation nicht ermöglicht.

Von Essen als kommunikativem Akt kann dabei gar keine Rede mehr sein; sei es, daß man sich ›Mc Donald's‹ oder etwas ähnliches an Verköstigungsstätte aussucht, weil man von jedem Wahldruck und von jedem Entscheidungs- und vor allem auch Zahlendruck frei sein will. Das Angebot ist so beschränkt, daß es gar nichts zu wählen gibt, und die Preise sind so, daß man sich im Grunde genommen gar nicht fragen muß: Kann ich mir das leisten oder nicht? Also Wahl- oder Zahldruck verschwinden, man wird nicht mehr sozial schief angesehen oder deklassiert. Man fühlt sich selbst auf diese Weise nicht geschädigt, weil sowieso alle nur dasselbe herunterschlingen können. Oder sei es, daß jemand eben eine Wurstbude als den Ort wählt, an dem er angeblich ißt. Ebenfalls wenig, billig, schnell, und vor allen Dingen informell, das heißt also auch ohne Entscheidungsdruck, ohne Verpflichtung auf andere Mitesser oder Teilnehmer an derselben Situation. Inzwischen ist es ja wohl auch in den Restaurants und Hotels ganz ähnlich.

So groß ist der Abstand zwischen erstklassigen Restaurants und Würstchenbuden, auch zu erstklassigen Hotels nicht mehr, wenn ein Hotelier abgepackte Käsescheiben auf den Tisch schmeißt, abgepackte Butterstückchen, abgepackte Marmeladen, wenn in die Zuckerdose die abgepackten Süßstoffbällchen reingeschmissen werden, dann ist das nur durch den Preis noch von einer Würstchenbude unterschieden. Ich kann Ihnen versichern, daß gerade First-class-Hotels, die sich etwas darauf zugute halten, daß sie noch Traditionen verpflichtet seien, inzwischen nicht einmal mehr über die Unterscheidungsfähigkeit verfügen, die dazu gehört, ein gutes von einem schlechten Restaurant oder ein gutes von einem schlechten Hotel zu unterscheiden.

Aber auch wenn man nicht in öffentlichen Lokalitäten, sondern in privaten Haushalten die Frage nach der Bedeutsamkeit dieser drei Vermittlungsformen des Essens – kulturelle Basis, Gesellschaftlichkeit und kommunikative Akte – stellt, ist das Essen und das damit Verbundene ziemlich weitgehend deklassiert. Damit ist eine entscheidende Voraussetzung, uns selber noch kulturell zu bestätigen, aufgegeben.

Die Hausführung, die Haushaltsführung, wird nicht mehr als Beruf gewertet, obwohl das in rechtlicher Hinsicht heute eher möglich wäre als jemals zuvor. Hausfrauentätigkeit wird als Selbstverständlichkeit, die man nebenher bewältigen kann, angesehen, als unerheblich. Die meisten Menschen wissen heute schon gar nicht mehr, daß eine Hausfrau beispielsweise, wenn sie in diesem Sinne allein das Problem Essen bewältigen wollte, mehr Entscheidungsakte als ein normaler Manager pro Tag – wohlgemerkt – inklusive Einkauf zu fällen hat. Daß eine normale Hausfrau, die derart etwas optimal machen will, Industriemanagerqualitäten haben muß. Und in einem unglaublichem Maße wird uns die Basis für eine solche Vermittlung kultureller Tätigkeit im Hause selbst – im Museum lassen wir uns das gerne noch gefallen – zerstört, obwohl wir gerade dort den größten Teil unseres Lebens, die verbindlichsten Äußerungen unseres Lebens, erfahren.

Auch im Hause geht es schon um informelle, billige, schnelle und nach Schema F verlaufende Nahrungszubereitung, Nahrungsaufnahme. Das Essen vor dem laufenden Fernseher, Radio oder, wie die Autoren es in früheren Zeiten immer wieder geißelten, bei Tafelmusik; auch das morgendliche Stehschnellessen oder die Kinderschlingerei am Mittag – es sind ja solche Zerstörungen der kulturellen Leistungsfähigkeit von Essen als Aspekt der Kultur, Tischkultur, beschrieben worden. Am allergrausamsten wird einem das klar, wenn man sich selbst bemüht oder bei anderen darum bemüht ist, ein Familienfest zu gestalten, wo man ja entweder nur kumpelhaft-verpflichtungslos oder privat in totaler Regellosigkeit oder eben gewohnheitsgemäß in totaler Bewußtlosigkeit der Situation gegenüber sich verhalten kann, um sich noch zu retten.

Von der Auffassung, es bei so einer Gelegenheit mit der größten Herausforderung an die kulturelle Fähigkeit eines Menschen zu tun zu haben, ist bei uns aber auch nicht mehr der geringste Rest ehemaliger Bewußtheit vorhanden. Wenn wir also fragen: »Tischkultur heute?« – kann man natürlich das, was heute vorliegt, was ich eben skizziert habe, als die Kultur bezeichnen, die wir haben. Es ist eben diese, aber es ist eben darin eine wenig leistungsfähige. Selbst wenn man sie als Entsprechung zu unserem heutigen Leben akzeptiert, kann man nur zu der Auffassung kommen, daß man sich eines entscheidenden Instruments begibt, nämlich gerade gegen alle Schwierigkeiten des Lebens der einzelnen wie der Kollektive, jenen kulturellen Heroismus des Selbstverständlichen, Alltäglichen zu zeigen, und das heißt, Anstrengung als Selbstkontrolle, gerade gegen das Überschwemmtwerden von Willkür und Angst, die einem gar nicht von außen aufgenötigt werden müssen, einzusetzen. Gerade in einer selbst vorgegebenen Bedingung, Regelhaftigkeit, sich gegen die Labilitäten, die Willkürlichkeiten, Bedeutungslosigkeiten zu stützen. Daß so etwas Menschen nicht ungestraft aufgeben können, und Gesellschaften schon gar nicht, hat unter anderem ja Norbert Elias in seinem »Prozeß der Zivilisation« auf bewundernswerte Weise über Jahrhunderte hin herausgearbeitet.

Etwa seit dem 15. Jahrhundert glaubte man, unter anderen auch Luther und Elias, der das in vielfachen Reden zeigte, daß eine entscheidende Entwicklung der Kultur über die Entwicklung der Tischkultur lief, damals eingeführt in Schriften, die sich eben »Tischzuchten« nannten. Die Tischzucht war die Begründung von Verbindlichkeiten, so daß die ihr sich Anschließenden sich selbst als Gesellschaft verstehen konnten, wie groß oder klein sie auch gewesen sein mag, wie weit sie öffentlichen oder privaten Charakter gehabt haben mag. Bei uns ist aus diesem Aspekt der Tischzuchten nur die Frage nach den sauberen Fingernägeln, nach der Art und Weise, wie man die Ellbogen aufstützt und wie man das Besteck hinlegt oder nicht hinlegt, übriggeblieben.

Elias und andere Autoren können im Sinne einer Evolution des Menschen als sozialen Wesens, hinsichtlich der Entwicklung seiner Kultur zeigen, wie beispielsweise die zu trainierende Fähigkeit eines Menschen, die linke und die rechte Hand gleichzeitig auf eine Operation hin zu benutzen, nämlich mit Messer und Gabel zu essen, – wie diese erweiterte Fertigkeit der Hand von einer Erweiterung der Wahrnehmung in vielfacher Hinsicht begleitet wird. Das Repertoire der Hand wächst also nicht nur im Sinne technischer Fähigkeiten, (und daß das schwer ist, zeigt sich darin, daß man lernen muß, überhaupt eine so feine Koordination zu erreichen), sondern dabei läßt sich auch eine Erweiterung des Repertoires des Auges und anderer Sinnesorgane, vor allem der haptischen Wahrnehmungsfähigkeiten erkennen. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung der Tischkultur weit mehr als die Entwicklung beliebiger Regeln, Normen, Vorschriften, wie man sich bei Tische zu bewegen hätte. Sie sind natürlich nicht abtrennbar von den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen, leisten aber ganz spezielle Erweiterungen der kulturellen Ausdrucksfähigkeit des Menschen als eines notwendigerweise sozialen Wesens.

Die Erweiterung der Repertoires, der wechselseitig in Abhängigkeit stehenden Repertoires der Hand, des Auges, des Geruchssinnes, des Drucksinnes usw., erzwingt eine Veränderung der Präsentation der Speisen. Die Präsentation der Speisen muß gleichsam für diese erweiterten Fähigkeiten wieder einen erneuten Anlaß schaffen, so wie Elias zeigt, wechseln jeweils raffinierte andere Formen der Präsentation einander ab. Wenn ein Angebot erschöpft ist von den verschiedensten Wahrnehmungsfähigkeiten, wird eine andere Form gewählt, an der sich erneut das entscheidende Training des kulturell Leistungsfähigen erweist, nämlich unterscheiden zu können, und das nicht mit Kategorien, mit Namen und Begriffen, sondern im eigenen Wahrnehmen.

Dieses Unterscheiden führte die Tischkultur im 18. Jahrhundert zu so weitgehenden, speziellen Äußerungen der Tischkultur, wie es die ›Klimaräume‹ sind, von denen die Autoren der Bücher sprechen. Die Frage, welches ›optische Klima‹ ein Speiseraum zu haben hat, welches ›psychologische Klima‹ im Sinne der Distanz, die die Menschen untereinander haben, er aufweisen sollte. – Es gibt eine ganze Reihe von spezifischen Angeboten zum Unterscheiden. Und es wird insgesamt gesagt, daß eine Kultur in diesem Sinne, nämlich hinsichtlich der Fähigkeit des Unterscheidens, um so höher entwickelt ist, je mehr Anlässe sie beispielsweise in diesem fundamentalen Bereich der Tischkultur für die Unterscheidungsfähigkeit bietet. Etwa also auch ein Geschirr so zu organisieren oder, wie es damals hieß, »zur Tafel zu komponieren«, daß das Ganze, als das es erscheint, von den aufmerksamen, kulturell leistungsfähigen Genossen des Tisches auf die Unterscheidungen, die dort vorgegeben sind, untersucht werden kann und dadurch das Erlebnis der Gemeinschaftlichkeit, Entwicklung der Kommunikation entsteht.

Das Zubereiten der Speisen wird weitgehend den Augen und der Verfügung der Essenden entzogen, es wird in spezielle Orte – Küchen – verlagert. Man sieht es nicht mehr. Sobald die Speisen hereingetragen werden, sind sie ebenfalls durch die Art, wie man sie anordnet oder dekoriert, schon als solche Veranlasser des Unterscheidens zu sehen. Man hat später (vor hundert Jahren fing das an) nachweisen können, wie durch die Wahrnehmung der Speisen bereits Sekretionsprozesse in Gang gesetzt werden; hat so also auch physiologisch nachweisen können, daß die Zubereitung von Speisen im Sinne einer Präsentation tatsächlich auch ihren Grund hat.

Diese Komposition wird als Ausgrenzung eines Aufmerksamkeitsfeldes gesehen, an dem die bei Tische Sitzenden die Selbstwahrnehmung entwickeln können. Sie können sich selbst diesen Anforderungen durch den Gastgeber gewachsen zeigen, indem der einzelne möglichst alles das bemerkt, was an Unterscheidungsangeboten vorliegt, ohne es aber zum Thema zu machen. Es wird auf sehr schöne Weise, selbst in dem ›Lexikon der feinen Sitten‹ oder in der ›Töchterschule ins höhere Leben‹ immer wieder dargestellt, daß ein Gast nur dann stumpfsinnig wirkt bei Tische, wenn er den Eindruck macht, als sei er nicht in der Lage, auf die Angebote des Unterscheidens, also des kulturellen Wertens und Gewichtens, die an der Tafel geboten werden, einzugehen. Er sei nicht etwa deswegen ein guter Partner bei Tisch, weil er viel zu erzählen wisse, und er sei nicht deswegen fähig, weil er alles lobt, was dort stünde, auch das sei nicht erlaubt, sondern weil man seiner Aufmerksamkeit anmerkt, daß die Situation ihn dazu anreizt, sich selbst als jetzt kulturell Produktiven im Urteilen und Unterscheiden wahrzunehmen.

Das führt mich eigentlich zu dem Punkt, von dem aus ich die Situation »Tischkultur heute« sehen will, soweit man sich nicht mit dem zufrieden gibt, was mit der Würstchenbude, mit McDonald's usw. vorhin angedeutet wurde. Ein entscheidender Aspekt zur Befähigung, etwa umweltbewußt zu sein, problembewußt zu sein, wird gerade in den Bereichen entwickelt, die wir als selbstverständlich und nicht thematisierbar sehen, wie zum Beispiel die häuslichen und die anderen Augenblicke, in denen wir im Sinne der vorgegebenen drei Funktionen kulturell tätig sind.

Diese Situation auf den Punkt gebracht, heißt kurioserweise, daß wir so gleichgültig, daß wir so wenig problembewußt sind gegenüber ganz anderen Aspekten des Lebens als dem Tisch, weil wir so wenig genußfähig sind. Eine Feststellung, die über weite Strecken die Autoren der Tischzuchten und der Enkulturation immer schon vertraten, seit dem 15. Jahrhundert.

Nur der Genußfähige wird nämlich Wert darauf legen, daß er in konkreten Situationen tatsächlich zwischen gut und schlecht, zwischen wohlgeraten und gleichgültig unterscheidet und das in seinem Verhalten auch zeigt. Schon lange bevor man physiologische Beobachtungen machte, wurde gesagt: Wer das nicht kann, dem nützt das beste Essen nichts. Er wird Magenbeschwerden bekommen, Verdauungsbeschwerden bekommen, er wird nicht einmal merken, daß er etwas Gutes gegessen hat. Die, die genußlos essen, mit anderen Worten, fressen oder abstinent sind, haben eine unterentwickelte Fähigkeit zum Urteilen. Das ist ein ganz entscheidender Hinweis, den selbst Kant in seinen Philosophien zu diesen Aspekten des Alltagslebens aufgenommen hat. Nicht zuletzt beschäftigen sich die Philosophen gerne mit diesem Problem des Selbstverständlichen im Bereich, in dem wir eigentlich kulturell am wichtigsten und am längsten tätig sind.

Deswegen ist durchaus die Diagnose möglich, daß etwa das Problem des ›Dickseins‹ oder sonstige Verhaltenseigentümlichkeiten im wesentlichen, soweit sie nicht eindeutig verursacht sind, Resultat mangelnder Genußfähigkeit, das heißt mangelnder Urteilsfähigkeit sind. Das könnte wiederum heißen, daß die Situationen, wie sie etwa im Bereich der Familie uns allemal bei Tisch geboten werden, nicht hinreichend differenziert sind, uns überhaupt noch kulturelle Tätigkeit zu lassen, sondern im Gegenteil uns gerade davon abhalten wollen, in diesem Bereich produktiv zu sein. Ein entscheidender Faktor ist dabei natürlich die Vermittlung des Lebensprozesses selbst, also im Grunde das Problem der Zeit. Für den Urteilslosen, Genußlosen verschnellt sich die Zeit, rafft sich, so daß er jede Handlung letztlich nur mit Bezug auf die Leere danach und das dann wieder erneut Aufzunehmende durchexerzieren kann. Für den, der seine Urteilsfähigkeit und Genußfähigkeit durch Unterscheidung dessen, was ihm da am Tisch geboten wird, ausbildet, dehnt sich die Zeit, es verlangsamt sich der Eßvorgang selbst, weshalb er weniger ißt, mit mehr Effekt.

Diese Zeitdehnung kann so weit gehen, daß die Zeit vergessen werden oder stillstehen kann, bei einem solchen Vorgang des Genusses, gleichsam des Genusses der eigenen Genußfähigkeit, die wahrscheinlich für die meisten Menschen die größte Lust darstellt.

Ein Aspekt zur Erhöhung der Unterscheidungsfähigkeit der Materialien, wie zum Beispiel des Geschirrs, der Komposition, Arrangements ist, daß es so etwas wie Veranlasserfunktionen der Form gibt, das heißt, daß die Formen nicht unabhängig von unserem Verhalten sind, daß nicht alle Formen gleichermaßen jedes Verhalten ermöglichen und nach sich ziehen. Wir nennen das ›Formempathien‹, das heißt Übertragungsleistungen aus der Anmutung auf uns selbst. Es gibt bestimmte Grundmuster hierbei, zum Beispiel klobig, dick, bauchig bedeutet in der Übertragung dieser Formanmutungen, man habe es mit ›viel‹, im Sinne des ›Vielessens‹ zu tun. Andererseits vermittelt die Anmutung und formempathische Übertragung auch, wenig Qualitätvolles zu bekommen. Das normale Kantinengeschirr, mit Ausnahme der paar Beispiele, die es überhaupt für hinreichend differenziert gestaltetes Geschirr gibt, vermittelt den Eindruck von Unauffälligkeit, Beiläufigkeit, das heißt beim Essen immer Unkontrolliertheit, die Verführung über rein natürlich gegebene Formempathien.

Kultur ist gerade in diesem Sinne ›Agrikultur‹ der Anverwandlung dessen, was uns am Leben erhält. Im Hinblick auf die Tatsache, daß wir natürliche wie auch soziale Wesen sind, sind die entscheidenden Punkte immer Sensibilisierung, Erhöhung der Unterscheidungsfähigkeit und der Urteilsfähigkeit, die wir ruhig mit Kant als Genußfähigkeit heute postulieren wollen.

Es gibt gegenwärtig einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Umweltbewußtheit, Lebensbewußtheit, auch Gesellschaftsbewußtheit, und der Art und Weise, wie man ißt. Nicht zuletzt haben sich die Alternativen ganz entscheidend auf alternative Formen der Nahrungszubereitung, der Nahrungsaufnahme, der Kommunikation beim Essen ausgerichtet, weil sie diese Art des Zusammenhangs genau spürten. Nun sollen wir ja nicht alle Körnchenfresser werden, aber wir kommen nicht darum herum, uns diesen Zusammenhang ebenfalls klarzumachen, das heißt das weitgehende Desinteresse, die Gleichgültigkeit gegenüber dem, was unsere Umwelt ausmacht, ist nichts anderes als der Hinweis darauf, daß wir genußunfähig sind. Das hört man weniger gern, als wenn man jemandem sagt, daß er urteilsunfähig sei, denn dafür interessiert sich kaum jemand.

Das Entscheidende ist also, daß angesichts dieser Gesellschaft, die sich angeblich in einem so hohen Maße auf das Gute, Teure etc. orientiert, die Diagnose zu stellen ist – wenn man die Tischkultur heute betrachtet –, daß sie über weite Strecken, mit Ausnahme der paar Alternativen und der paar Normalen, genußunfähig ist. Die dann empfohlene Veränderung oder die empfohlene Möglichkeit, die Situation zu verändern, bedeutet, in einem höheren Maße die Genußfähigkeit zu steigern.

Das ist in diesem Bereich nur dadurch möglich, daß kultureller Schaffens- und Gestaltungsprozeß, in dieser seiner wichtigsten Erscheinungsweise uns gegenüber, nämlich als Tischkultur, wieder so gekennzeichnet wird, daß man klarmacht, über welche Fähigkeiten man dort verfügen muß.