Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 359 im Original

Band IX.1.1 Design der 80er Jahre

Modern ist’s, wenn man es trotzdem macht

In: Kunstforum International, Bd. 66, 10/83, anläßlich der Fernsehsendung Nachtschalter, ›Gebrauchsgegenstand Mensch‹, WDR III

In erster Linie wurde bisher Design als Entwurf der äußeren Form und des Images von Produkten der industriellen Massenproduktion verstanden, unter ausdrücklicher Rücksicht auf das technisch funktionelle Innenleben der Produkte, auf die Fertigungs-/Vertriebs-/Nutzungsformen sowie der sich daraus ergebenden Materialien. Früher selten, inzwischen häufiger gibt der Designer einen Entwurf vor, für den dann andere den Weg ins Wirtschaftsleben, in die Produktkarriere zu bahnen haben.

In jedem Fall: Der Designer war nur ein Glied in der Kette vom Entwurf bis zum Verbraucher. Er blieb ebenso weitgehend anonym wie alle anderen Beteiligten (wie zum Beispiel der Patenthalter, der Produzent, der Vertriebsorganisator etc.). Nur in einer Industrie war das anders: in der Filmindustrie. Dort wurden in endlosen Vor- und Nachspannen fast alle Beteiligten genannt, die tatsächlich am Zustandekommen des Produktes beteiligt waren. Natürlich nicht alle. Zum Beispiel nicht die Filmvorführer, die Filmtheaterbesitzer, die Kopievertreiber nicht, vor allem nicht die Zuschauer. Die Nennung von Dutzenden von Namen hatte zur Folge, daß man auf keinen mehr recht Wert legte bis auf einen, den des Regisseurs oder des Autors oder eines Schauspielers. Wurden Namen genannt, weil der Film sich als künstlerisches Schaffensfeld verstand? Der wichtigste Grund für die Nennung von Namen, auch der Designer, ist darin zu suchen, daß die Designhistoriker nun eben einmal Namen nennen mußten, sonst hätte man ihre Geschichte für langweilig gehalten. Designgeschichte oder vielmehr die Geschichte der industriellen Produktion ohne Namen ist offenbar genauso unattraktiv wie die Kunstgeschichte ohne Namen, da sie sonst ja reine Problemgeschichten wären.

Ein zweiter Grund für die Personalisierung der industriellen Produktion und von Verbrauchsgütern: Inzwischen sind viele, wenn nicht zu viele Hersteller in der Lage, das technische Innenleben der Produkte, ihren Vertrieb etc. optimal zu garantieren. Da kommt es zunehmend darauf an, die Produkte gerade im Hinblick auf ihre Vermarktbarkeit nach dem Design unterscheiden zu können. Zur Thematisierbarkeit des Designs aber gehört in erster Linie die Persönlichkeit des Designers. Er erhält eine Biographie, die das Produkt fördert, indem auch das Produkt ein belebtes tier-, ja sogar menschenähnliches Wesen mit Schicksal wird.

Gegen dieses Verständnis von Design und von diesem Selbstverständnis der Designer versuchen sich gegenwärtig wieder junge Künstler abzusetzen. Interessant ist, daß viele von ihnen gar nicht wissen, wie sehr ihre Positionen wieder mit Argumenten gekennzeichnet werden, die seit 100 Jahren, seit es im obigen Sinne Designprobleme gibt, vorgetragen wurden. Nikolaus Pevsner bietet in seinem berühmten Buch "Wegbereiter moderner Formgebung", 2. Auflage 1949, die Pointe, daß Morris ein Wegbereiter der Moderne insofern ist, als er "als Erster die Vereinsamung des Künstlers und der Kunst seit der Renaissance und vornehmlich im 19. Jahrhundert und, daraus entwickelt, die soziale Bedeutung des Kunstgewerbes erkannt hat. Der Künstler, lehrt Morris, muß wieder dienen wollen, und er kann nur dienen, wenn er sich von der Staffelei losreißt und sein Talent wieder den Gebrauchskünsten widmet. Andererseits aber verabscheute Morris die Industrie und die Maschine, denen er den Verfall der Kunst in seiner Zeit ausnahmslos zuschrieb" (dt. 1957, S. 119).

Gegen das Design industrieller Produkte wird das Kunstgewerbe angerufen. Design hieß Aufgeben der Kunst, der allerdings ohnehin bedeutungslosen! Kunstgewerbe war angewandte Kunst und damit Aufhebung der Vereinsamung, also Aufhebung der Bedeutungslosigkeit der Kunst! Kunstgewerbe ist bedeutsame, weil sozial anerkannte Kunst! Wohl gemerkt, Morris sieht diesen Wandel als Dienst, den der Künstler auf sich nehmen müsse, also doch als eine Einbuße, als ein Notbehelf, minderwertig aber effektiv?

Nein, Morris verstand von heute aus gesehen sehr wohl, daß in der Autonomie der Kunst, ja in ihrer vollständigen Freiheit zugleich eine Herabminderung, eine Herabwürdigung zur Narrenfreiheit steckte; daß sie nur frei sein durfte. insofern sie bedeutungslos und daß sie bedeutungslos sei, weil sie bindungsfrei, ohne Auftrag, ohne Anspruch auf Geltung zu sein wünschte.

Peter Winter konstatiert am 21. Januar 1983 in der FAZ den Sieg der Bugatti über Boccioni/Marinetti; also der angewandten Kunst über die Malerei und zwar deshalb, weil das Publikum zum Bugattisalon ströme, während es die gleichzeitige Boccioni-Ausstellung kaum frequentiere. Dabei hatten die lästerlichen Futuristen ihre Niederlage als Künstler gegenüber dem Anwender Bugatti selber verschuldet, weil sie lauthals herausposaunt haben, ein Rennwagen sei schöner als die Nike von Samothrake. Welch groteskes Mißverständnis nach fast 100 Jahren Diskussion.

Den Beginn der angewandten Kunst kennzeichnet das Bemühen von Künstlern, wieder eine Rolle zu spielen, wie die anderen wirksamen Rollenträger der Gesellschaft: die Generäle, die Regierungsbeamten, die Industriellen, die Professoren und Ingenieure. Eine der erfolgreichsten Methoden, eine bedeutsame Rolle zu übernehmen, wählten die Designer, indem sie sich als Künstler vollständig in die industrielle Produktion integrierten. Ihre Namen, ihre kreative Persönlichkeit traten sie, wie die Ingenieure, wie die Wissenschaftler, an die Produkte ab, die sie herzustellen hatten und deren Erfolg, Glanz, Marktmacht sie dienten, wie Priester ihrem selbstgefertigten, sich aber dann verselbständigenden Gott dienen. Sie gaben dem Geist der Formen und Funktionen körperlich/materiale Gestalt als Produkt, und der Geist des Produktes ernährte sie und sicherte ihre sozial bedeutsame Rolle.

Aber, sagte Morris, auf diesem Wege Geltung zu erlangen, bleiben die Künstler eben nicht lange Künstler, und ihre Kunst verfällt. Aus dieser Ausgangslage von vor 100 Jahren ergaben sich immer erneute Versuche, andere Positionen zu definieren:

Erstens Designer, die zugleich Patenthalter, Produzent, Vertreiber etc. in einer Person sein wollten; alternatives Design. Jüngster Versuch in dieser Richtung durch die Gruppe Kunstflug, Krefeld.

Zweitens: große Künstler, die zuvor anonyme Grafikdesigner waren, wollten lieber angewandte Kunst betreiben. Andy Warhol gelang der Einstieg ins Kunstgewerbe nahtlos!

Drittens: Designer, die sich mit ihren Einkünften Eskapaden finanzierten, von denen, so behauptet Charles Wilp, Künstler nur zu träumen vermögen. Charles träumt davon, ein Künstler zu sein.

Viertens: Künstler, die nicht im Sinne von Morris dienen, sondern herrschen wollten. Sie arbeiteten anstatt vor der Staffelei im Atelier auf Straßen und Plätzen mit Lautsprecheranlagen und Extraausgaben; sie formten statt Lehm das lebendige Fleisch des sozialen Körpers. Der erfolgreichste unter ihnen war A. H.

Fünftens: Künstler, Designer, Kunstgewerbler, die im Sinne von Morris dienen wollten, indem sie anderen zur Herrschaft verhalfen, wenn auch nur zur Herrschaft über sich selbst, über die Probleme der Wohnungseinrichtung, der Kleidung, der Organisation des Alltagslebens, des Aufbaus einer Biographie. Künstler als soziale Strategen, als Therapeuten, als Arbeitsbeschaffer, als Animateure, als Freizeitgestalter! Sie sind, sie waren die sozial Wirksamsten und wurden entsprechend von den Stilisten des einsamen Genies verachtet.

Je nach Weltbild, Erfahrung und Temperament wird man es erstaunlich oder selbstverständlich finden, daß auch die gegenwärtigen Tendenzen, die Grundkonstellationen der Probleme in neuen Positionen zu variieren, nicht weit voraus ins Nirgendwo, in die Utopie führen. Aber das hat sein Gutes: Man hilft sich gegenseitig wo man kann. Nur nicht gleich das Schwert gewetzt und das Beil geschliffen! Was ihr niemals überschätzt, habt ihr nie begriffen. Das heißt nach Paul Heyse: Nur wenn man die behaupteten Positionen überschätzt, also bis zum Platzen aufbläht, kann man ihre wirkliche Belastbarkeit, ihre tatsächlichen Qualitäten kennenlernen. Ich will das anhand einiger, nicht ganz so gängiger Beispiele versuchen, die ich in dem WDR TV III "Nachtschalter" vorgeführt habe unter dem Titel "Gebrauchsgegenstand Mensch"

I. Der neue Ornamentalismus

Im selbstbewußten, unverkrampften Zugriff der Alltagserfahrung auf die Kunst (eine Möglichkeit, die Morris gar nicht in Rechnung stellte) identifiziert man - Gott, ist das ein Sakrileg - die Spiraloide des Künstlers Mario Merz als ausgefallenes, aber eben gefallendes Möbel, also als Kunstgewerbe, mit dem man sich gerade als Moderner nach der Moderne gern einrichten würde, wenn das Kunstgewerbe nicht eben so viel teurer wäre als die guten Designprodukte. Merzens Spiraloide gehören ja immerhin zu den anspruchsvollsten Weihestücken der Gegenwartskunst. Das aparte Zusammenspiel der Materialien Glas, Stahl, Sandstein und Holz signalisiert das seit 50 Jahren moderne Gestalterbewußtsein. Die Ungewöhnlichkeit der Form sollte ja im modernen Design wie im modernen Kunstgewerbe jene Leistungen ersetzen, die früher das Ornamentale und das Dekorative boten. Ornament und Dekor sind Tabu in der Moderne. Und doch sind sie das eigentlich Interessante. Denn Ornamente ermöglichen das Zusammenfügen von Teilen zu einem Ganzen, das als Ganzes nicht anders aussieht als die Einzelheiten. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile - hier nicht. Jedes Teil ist hier ein Ganzes, alles könnte endlos so fortgesetzt werden nach ein- und demselben Gestaltungsprinzip. Jedes Ende ist bloß ein Abbruch, ein Ausknipsen, das gar nichts besagt und genauso gut weiterlaufen könnte wie das Fernsehprogramm oder die Fahrstuhlmusik.

Im Unterschied zu diesen baut aber Merz seine Spiralen als Additionen nach dem Muster 0 + 1 = 1; 1 + 1 = 2; 1 + 2 = 3; 2 + 3 = 5; etc. Das ist die Fibonacci-Reihe, die Merz für eine Konstante, ein Ornament der Natur hält, sichtbar in der Windung des Schneckenhauses wie im Spiralnebel und wie eben in Merzens eigenen Werken. Ornamentale Reihung nach beliebigem, bloß formalem Vorgehen ist offenbar heute die einzig allgemein verbindliche Art, ein Ganzes zu bilden, von dem wir tatsächlich sagen können, wie es aussieht: nämlich wie eines seiner Teile - und von dem wir nicht bloß behaupten müssen, es sei mehr als die Summe der Teile, nämlich das Wechselspiel der Teile - ohne dafür mehr als eine gestaltpsychologische und philosophische Spekulation ins Feld führen zu können.

Der Dekor hat die wichtige Aufgabe, die Grenzen zwischen verschiedenen ornamentalen Ganzheiten und Systemen sichtbar zu machen, indem er sie überdeckt. Die Grenzen der verschiedenen formalen ornamentalen Gestaltungsfelder oder auch Gestaltungsräume werden durch diese Überdeckung zugleich dynamisiert. Das Vorbild jeden Dekors sind die Wolken; sie sind nichts material Festes, dennoch unübersehbar, und legen uns die Wahrnehmung von Bewegung und Räumlichkeit nahe, derer der einheitlich blaue Himmel entbehrt. Spannungslose Einheitlichkeit droht den nackten Wänden genauso wie den von Ornamenten überbordenden! Es ist eben doch nicht alles mit allem vereinbar, wie gewisse Moderne behaupten. Es bedarf des Dekors, um die verschiedenen Einheiten, die alle in sich aus der bloßen Wiederholung eines Grundeinfalls, eines Grundmusters bestehen, miteinander in Beziehung treten zu lassen. Dekor und Ornament garantieren den Stil der Stillosigkeit, also das erstrebte Ziel aller Kulturexperimentatoren. Auch Bauhaus war nur ein Stil. Auf den nackten weißen Wänden der kubischen Einheitsräume ist alles stilvoll, also spannungslos, weil nur auf sich konzentriert und damit ohne Bezug zu anderem. Dekor schafft Spannung durch demonstrative Übergänge. Die Postmoderne ist dekorativ und ornamental. Sie bringt die Ereignishaftigkeit dekorativer und ornamentaler Gestaltung zurück, auch wenn sie so arm und unbezähmt und so wenig formell aussieht wie ein Spiraloid von Mario Merz. Gerade dann!

Die im Design bedeutsamsten ornamentalen Formen, die gegenwärtig geschaffen werden, sind die Laminat-Hochdruck-Schichtstoffplatten von E. Sottsass, die die Namen "Bacterio", "Spinato", "Granilia", "Serpente", "Lamiera" tragen, sowie die Ornamente von Paolo Narvone mit den Namen "Tigrato", "Coriandolo" und das ,,Reli-tech" von Andrea Branzi. Sie alle behaupten, daß ein Dekor nicht länger halten muß als ein Paar Schuhe. Sie alle haben Dutzende von Schuhen im Schrank und sehen sich außerstande, ihre Schuhe nach Gebrauch wegzuwerfen.

2 Readymade-Design

Es war eigentlich zu erwarten, daß Duchamps Demonstration des Readymade auch im Design bzw. der angewandten Kunst zum Zuge kommen müßte. Die Aktivitäten der Design- und Schmuckgalerie Mattar in Köln und ihrer zahlreichen Künstler werden zu einem guten Teil als Readymade vorgewiesen.

Kopfhautmassagebürsten aus Kunststoff und knackfarbig, von hinten durch ein Wollgewebe gedrückt, lassen auf der Oberfläche eines Pullovers ein serielles Noppenmotiv entstehen, das ganz unkalkulierbar, also überraschend wirkt, weil man die Grundplatte nicht sieht. Metallene Topfschrubberringe werden als Armreifen getragen, desgleichen Fahrradketten; Dichtungsringe auf Finger gezogen, Armatureinheiten als Ohrringe oder als Broschen gebraucht etc.

Alle Formen und Materialien fordern zur Entzifferung heraus und das nicht nur, weil man sie in diesem Kontext als Schmuck nicht erwartet, sondern weil man sie tatsächlich noch nie gesehen hat. Der metallene Topflappen als Armreif ist gewiß eine gleich starke Demonstration der Kontextabhängigkeit aller Bedeutungen von Objekten, wie es Duchamps Urinoir im Museum gewesen ist. Der Readymade-Schmuck unterläuft zugleich das Dekortabu der Moderne, wie das Luxustabu der Jugend. Wer Billigstartikel verwendet, demonstriert Intelligenz, Unabhängigkeit von Konventionen und Selbstbeherrschung und ist dennoch zugleich auffällig, signalgebend, thematisierbar.

Saskia Andrea verwendet nicht nur Grabkranzschleifen als Hutbinden oder als Gürtel und Zitronenpressen als Hutschmuck, Armaturenknöpfe als Busenbroschen. Sie kombiniert auch metaphorisch: weißes Kleid, grüne Schleifen - das Leichenhemd. Armaturenknöpfe als Busenbrosche umschreiben den Tastappell, der von Brustwarzen ausgeht. Durch diese Metaphorik vermag Saskia Andrea so etwas wie einen Stilbegriff für Readymade zu entwickeln; der Stil der Readymades ist so etwas wie die vereinheitlichende, verwandelnde Kraft der Metaphorisierung beliebig zusammengestellter Zeichen. Saskia trägt das zugleich als Parodie vor, als ein Vergnügen für die Selbst- und Fremdwahrnehmung, eine Aufhellung der Seele durch den Verstand.

Heike Fendel stellte gerade einen Dokumentarfilm über eine New Yorker Pornoqueen fertig, die vor der Kamera ihr Design für sexuelle Geilheit vorstellt. Die Geilheit stützt sich im Prinzip auf die Kontextierung vorgefundener Objekte, die deswegen sexuell stimulierend wirken, weil sie eben einer besonderen, ungewöhnlichen Verwendung unterworfen werden. Der Ring nicht am Finger, sondern durch die Schamlippen, 10 Ringe dort. Die lange grüne Gurke, die Staubsaugerdüse . . . Eine Symbiose aus analytischem Readymade und synthetischem Do-it-Yourself. Heike Fendel trägt selber Readymade-Kleidung der 50er Jahre aus Beständen der Heilsarmee. Ihre Designleistung besteht darin, die Kleidungsstücke mit einem entsprechend entworfenen Trägerverhalten (vor allem Bewegungen und Mimik) so zu verfremden, daß grelle Unangemessenheit und schrille Panik des Witzlosen oder die Schönheit des Kitschkaputt genossen werden können.

3 Zwischen Revival, Recycling und Re-Edition

Es wird auch kurz Re-Design genannt. Der erste glänzende Exekutor war Alessandro Mendini, der dann mit Narvone und Sottsass immer erneute Varianten entwickelte: zum Beispiel das Kandissi Kanapee als Revival des von François Burkhardt wiederentdeckten tschechischen Kubismus, vermählt mit Kandinsky und El Lissitzki. Mendini nahm sich den berühmten Zickzackstuhl von Rietveld vor und setzte in die hölzerne, hoch ausragende, rechteckige, brettartige Rückenlehne eine ebensolche Querführung, so daß die Lehne nun die Form eines Kreuzes erhielt. Die Querführung ist fester Bestandteil der ursprünglichen Lehne aus demselben Material, in denselben Farben und mit denselben Techniken in den ursprünglichen Stuhl integriert. Rietvelds Stuhl wird durch Mendinis gestalterischen Eingriff revitalisiert. Durch schiere Gewöhnung waren uns die Implikationen, die Provokationen, die Konnotationen des Objektes verloren gegangen. Die subtile Interpretation, die Mendinis Eingriff darstellt, wird am deutlichsten, wo sie den Reduktionismus von Rietveld, die Askese seiner Formen und den Purismus seiner Mittel als Erfüllung der christlichen Tradition gottgefälliger Unterwerfung unter abstrakte Gesetzmäßigkeiten erscheinen läßt. Mendini ruft in Erinnerung, daß viele Moderne der 10er und 20er Jahre sich als Mönche und ihre Zusammenschlüsse (Bauhaus) als Klöster verstanden; man trainierte die unanschauliche Begrifflichkeit wie ein Zen-Meister; die Zen-Spiritualität wird gegen den alteuropäischen Anschauungszwang ausgespielt.

Das Revival ist immer Wiederbelebung, Verlebendigung, Vergegenwärtigung eines Aspektes oder einiger Topoi früherer Design-Programmatiken, die nur jeweils von der Gegenwart her an historischen Objekten entdeckt und gewichtet werden können. Das Revival schafft also tatsächlich neue historische Objekte, indem es die Sichtweise auf die alten total verändert. Wichtig ist, daß die Sichtweise sich material und konzeptuell vollständig in das Objekt integriert (vergleiche im Unterschied dazu nachfolgend "Banal-Design").

Die heute bedeutsamste Variante der Revitalisierung ist das Recycling. In Deutschland wird es gegenwärtig meisterhaft von Claudia Rahayel vertreten. Sie sucht sich vom Sperrmüll und aus anderen Billigquellen Objekte des 50er-Jahre-Designs wie Nierentische, Blumentopfständer, Sessel, Fassadenkachelungen, Mosaikpflaster von Aquarienuntersätzen. Einzelne Objektteile sind natürlich beschädigt, verbraucht. Anstatt sie aber zu restaurieren, was sich bei den inzwischen erheblichen Nachfragen nach 50er-Jahre-Möbeln lohnen würde, löst Claudia die nicht mehr brauchbaren Teile ab und kombiniert die brauchbaren zu neuen Objekten/Möbeln. Restaurierungen wären ohnehin weitgehend Fälschungen, die vortäuschten, orginal/echt zu sein. Echte Fälschungen enthüllen aber ihren Charakter. So wird das ostentativ Falsche als ein solches Falsches wiederum wahr. Das ist eine Leistung, die das Recycling als Kulturtechnik dem Rekonstruieren der originalen Zusammenhänge voraus hat. Sie ist enthüllend, insofern unser Umgang mit der Geschichte immer darauf ausgerichtet ist, schlauer zu sein als diejenigen, deren Geschichte wir angeblich ganz objektiv untersuchen.

Die 50er Jahre wußten noch nicht, daß sie schon sehr bald jene typischen, auf hundert Meter eindeutig identifizierbaren 50er Jahre gewesen sein würden. Rahayels Recycling ist wahrhaft falsch und darin eine sehr bedeutsame Leistung. Sie zeigt uns Aspekte der 50er Jahre, zum Beispiel in swingenden Rundungen einen unheimlichen, zerstörerischen Polarisierungswahn; Aspekte, die eigentlich Aspekte unserer Gegenwart sind, wodurch unsere Gegenwart schon so überdeutlich gekennzeichnet wird, als sei sie bereits vergangen. Rahayel entwickelt Inkunabeln der 50er Jahre, die sie zum Beispiel als intarsierte Tischplatten wie Reliefs an die Wand hängt und in dieser Perspektivkippung Ansprüche der Gestaltung thematisiert, die gerade von der Kunst nicht erfüllt werden können. Sie sind nicht erfindbar, sondern nur auffindbar. Als Form der Thematisierung wählt Rahayel häufig die Übertragung von objektgebundenen Formen und Farben auf die Wände des Zimmers beziehungsweise Ausstellungsraumes. Das ist nicht angewandte, sondern übertragene Kunst; rückeroberte und wiedererfundene Kunst, wie sie Ugo La Pietra nennt. Er hatte das Re-Design schon Ende der 60er Jahre theoretisch postuliert als Revival, Recycling, Reconquering, Re-Invention. Das Re - zurück - kann aber natürlich niemals ein Retour sein, bestenfalls eine humorvolle, ironische und manchmal zynische Retourkutsche. Es geht um das Erneuern, nicht um ein Wiederholen. Es geht um Aneignung, nicht um Unterwerfung.

Das Re-Design ist zeitgemäß, insofern zum ersten die Wegwerfbewegungen der 60er Jahre ein abruptes Ende gefunden haben und damit eine andere Technik des Problemumgangs notwendig wurde. Statt wegwerfen aneignen.

Das Re-Design ist zum anderen zeitgemäß, weil es auf einer Mülltheorie aufbaut, die zu zeigen vermag, daß kulturelle Wertschöpfung immer eine Umwertung darstellt. Wichtigste Voraussetzung der Umwertung ist aber die Entwertung im Müll. Erst danach landet der Müll im Museum, daß heißt, es repräsentiert aus dem Müll neu geschaffene Werte.

Re-Design ist drittens zeitgemäß, weil jede Aneignung stets Anverwandlung sein muß. Nur Geschichte ist wahrhaft gestaltbar. Jede Gegenwart wird sich, wenn sie stark und anspruchsvoll genug ist, ihre eigene Vergangenheit verschaffen durch Re-Design des historischen Materials. Erst vor kurzer Zeit ist aber allgemein akzeptiert worden, daß die Umgestaltung und Umwertung nicht die Zerstörung des historisch Überlieferten zur Folge haben dürfe, damit später anhand des gleichen Materials unter dem Ereignisdruck der zukünftigen Gegenwart auch unsere jetzige Gegenwart als Vergangenheit neu erschaffen werden kann.

4 Banal-Design: Romantisierung

Mendini, Narvone, Puppa, Raggi gaben den Impuls vor. Banal-Design ist die Applikation von Zeichen an vorgegebene Objekte, aber eben als bloße Hinzufügung, nicht als Integration. Ein ganz normales Bügeleisen wird mit einer Seitenverkleidung, eine Handtasche aus Kaufhaus-Kunststoff mit kleinen Kegeln in Leuchtfarben besteckt, desgleichen Schuhe mit Leuchtpfeilen oder fertig abgepackte Oberhemden mit Plexiaufsatzkragenzipfel in farbigem Wolkendekor. Banal-Design ist die Markierung eines Aufmerksamkeitsfeldes, eines Rahmens, in dem das alltäglich Normale nicht als etwas Besonderes, sondern als etwas überhaupt Gewolltes verstanden werden kann. Denn es fällt schon gar nicht mehr auf, daß jedes Objekt eine Form hat und daß auch beim banalsten Objekt dieser Form eine Entscheidung zugrunde liegt. Diese Entscheidung, diese wie die Wahrheit schon anonymen Repertoirs, diese von Ewigkeit zu Ewigkeit problemlose Selbstverständlichkeit, will das Banal-Design thematisieren.

Dazu beschrieb Novalis den Schlüssel: "Indem ich dem Banalen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten gebe, so romantisiere ich es. Die Welt muß romantisch werden, so findet man den ursprünglichen Sinn wieder ..." Eben das versucht jedes Banal-Design. Es banalisiert nicht, sondern romantisiert.

Und welches ist der ursprüngliche Sinn des Design? Klare Antwort: das völlig anonyme, fraglose, selbstverständliche, bestens funktionierende, stille, unauffällige Produkt, das nichts anderes sein will, als es ist - das weder Eigenschaften behauptet, die es nicht hat, noch Eigenschaften verschweigt, die es hat.

Gesundheit läßt sich nur definieren als Nichtthematisierung des Körpers. Sobald der eigene Körper überhaupt auffällig wird, zum Beispiel durch bemerkenswerte Schmerzen, ist er krank. Gesundheit ist banal und doch das größte Geheimnis, weil man von ihr nicht sprechen kann, außer, wenn sie abhanden gekommen ist. Sobald man von der Gesundheit spricht, ist bereits der Tatbestand der Krankheit gegeben.

Für das Banal-Design heißt das, zu gestalten, als habe man nicht gestaltet, zu besitzen, als besäße man nicht. Das ist ein formgebendes Tun, das ganz absichtslos bleibt, ein Design, das aus dem Himmel gefallen zu sein scheint, also das Einfache, das schwer zu machen ist. Früher nannte man das Banal-Design ,,die gute Form".

Früher, das heißt, solange die gute Form noch nicht erstrebt wurde, sondern selbstverständlich war.

5 Sozio-Design - Kommunikationsdesign

Für die Entwicklung des Begriffs Sozio-Design gingen wir vor 10 Jahren von der einfachen Tatsache aus, daß der Designer ja nicht eigentlich Produkte als Objekte gestalten will, sondern über die Objekte das soziale Verhalten zu ändern und das Wünschen von Menschen zu beeinflussen versuchte. Es geht ja doch eigentlich um die unsichtbaren Beziehungen von Menschen, die manchesmal von Institutionen offiziell kanalisiert, überwacht und ausgenutzt werden (zum Beispiel im Krankenhaus), oder um Beziehungen, die ganz informell bestehen, von Zufällen abhängig sind und sich höchstens hie und da rituell verdichten, bei gewissen Gelegenheiten, die man vorgeben, die man designen muß (zum Beispiel unter lauter fremden Menschen Aufklärungskampagnen über das soziale Verhalten dieser Menschen, das es etwa im Interesse der Ökologie zu verändern gelte). Das Sozio-Design richtet sich auf diese unsichtbaren Beziehungen. Die Arbeit an ihnen ist unsichtbar, sichtbar sind nur die Mittel, mit denen wir die Arbeit an den Beziehungen vortragen. Deshalb formuliert Lucius Burckhardt "Design ist unsichtbar". Burckhardt, dessen zehnjährige Werkbundpräsidentschaft die Entwicklung des neuen Design stark beeinflußt hat, postuliert für das unsichtbare Sozio-Design auch eine Richtgröße, den sogenannten kleinstmöglichen Eingriff, das Intervento minimo. Paradebeispiel für das Gegenteil, das heißt für die kontraproduktive Kette der Verhängnisse, die die normale Produktion zwischen fiktiver Marktanalyse über das Produktdesign zum Nutzerflop werden läßt, sind jene pompösen Gartenschauen, für die Gestalter aller Provenienzen in großer Zahl tätig werden, und deren pflegerische Bemühungen um ein kostbares Stück Stadtareal fast immer zu dessen Zerstörung führt, sozusagen durch Pflege zerstört. "Durch Pflege zerstört" ist der inzwischen sprichwörtliche Titel, unter dem Burckhardt die Gartenschau Kassel 1981 analysierte. Intervento minimo besagt: "Greife nur material und irreversibel in Geschehnisse ein, um Probleme sichtbar zu machen, nicht aber um zu behaupten, Deine Eingriffe stellten Formen der Problemlösung dar".

Das institutionelle oder informelle soziale Beziehungsgefüge bestimmt die Kommunikation der Menschen. Die Veränderung der Kommunikationsformen kann aber auch verändernd auf das Netzwerk der sozialen Beziehungen zurückwirken. Die Infrastruktur "Verkehr" zum Beispiel beeinflußt die Kommunikation. Veränderte Kommunikationsformen, zum Beispiel die Angewohnheit, Weekend-Urlaub zu verbringen, wirken auf das Netzwerk der Straßen zurück. Für Weekend-Urlaub bedarf es der hinderungsfreien Straßen zum Schnellfahren, sonst lohnt sich der Reisezeitaufwand nicht. Also mußten zum Beispiel Fahrverbote für Lastwagen erlassen werden. Das ist ein Vorgang des Sozio-Designs. Aber die Menschen davon zu überzeugen, daß die Wochenendraserei sinnloser Kraftverschleiß ist und zudem extrem gefährlich und daß man sich deshalb am Wochenende lieber auf die eigenen Füße stellen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen sollte, das ist ein Prozeß des Kommunikationsdesigns.

Der große Meister des Kommunikationsdesigns, der generalistische Arbeiter schlechthin, ist Christo. Die nicht zu überschätzende Bedeutung seiner Großprojekte, wie der running fence, liegt nicht in ihrem Wert als Kunstwerke. Sie waren nur Veranlasser, Auslöser, Gelegenheit für umfassendere Aktivitäten Christos. Die Durchsetzung von künstlerischen und technischen Konzepten verlangt erfolgreiches Kommunikationsdesign. Wer das nie versucht, weiß nicht, welche grandiose Leistung darin besteht, Hunderte von Grundstücksbesitzern, Dutzende von Gemeinderäten, Bürgermeister, Landräte, Polizeichefs, Sicherheitsämter etc. so zu beeinflussen, daß sie nicht bloß überwältigt sich einem Plan unterwerfen, sondern Freude und Neugier entwickeln, ein solches Projekt experimentell unter eigener Beteiligung durchzuspielen, also den Beteiligten Erfahrung zu ermöglichen, die sie auf keine andere Weise hätten machen können.

Solches Kommunikationsdesign wäre nur banal, wenn es etwa um den Bau eines Donau-Main-Kanals oder ähnlich wirtschaftspolitisch machtvoll vertretene Projekte ginge. Tatsächliche Erfahrungen, wertvolle Erfahrungen mit sich selbst und dem sozialen Beziehungsgefüge macht man erst, wenn es, wie bei Christo, um die Demonstration einer "bloßen" künstlerischen Idee geht, die zudem nur auf kurze Zeit bestehen soll, und der beim besten Willen kein wirtschaftlicher Nutzeffekt angedichtet werden kann.

Damit hier nicht der Eindruck entsteht, ich, Bazon Brock, theoretisiere nur, will ich einige, im Vergleich zu Christo winzige, aber wohl nicht ganz folgenlose eigene Sozio-Designs und Kommunikationsdesigns anführen, den "Kulturlehrpfad der historischen Imagination - Im Gehen Preußen verstehen" und die Demonstration "Zeig Dein liebstes Gut". Beide wurden vom IDZ, Berlin, im Rahmen der Berliner Festwochen veranstaltet. "Zeig Dein liebstes Gut" war 1977 eine wörtlich zu nehmende Aufforderung an die Berliner, endlich auch einmal das Demonstrieren zu demonstrieren und nicht immer bloß für oder gegen irgendetwas zu demonstrieren. Ich wollte zu reflexivem Denken anleiten, was eine Voraussetzung für jede erfolgreiche Aufklärung über Aufklärer ist. Jeder Teilnehmer brachte sein ihm liebstes Gut, das ihm liebste Gut, und versuchte es so zu zeigen, daß dem Außenstehenden eben klar würde: hier wird etwas gezeigt. Jeder Teilnehmer mußte also sehr intensiv darüber nachdenken, wie er das Vorzeigen zeigen könnte. Er mußte sich darüber klar werden, daß es in Wahrheit gar nicht um die einzelnen Objekte ginge, sondern um die Darstellung der je eigenen Beziehung auf diese Objekte. Das Zeigen des Zeigens ist ein reflexiver Akt. Viele griffen sehr schnell auf historische Beispiele zurück, etwa die Entwicklung der Monstranz im 12. Jahrhundert, auf die Reliquiare und Schatzkästchen von der Antike bis zur Erfindung der Schaufensterauslage und der Vitrinen. Unsere Prozession führte damals von IDZ zum Kudamm und zurück, eine Strecke, lang genug, um jedem Beteiligten unter Veröffentlichungszwang ("Zeig"!) wie unter dem Druck der Öffentlichkeit klar zu machen, daß nicht die Objekte für sich, sondern unsere Beziehung zu anderen Menschen, die über die Objekte vermittelt werden, jenen Wert haben, den wir etwas Kostbarem, Einmaligem, Liebstem beimessen.

Der "Kulturlehrpfad" führte 1981 durchs Herzstück deutscher Geschichte; Herzstück, soweit Ereignisse immer auch von den Ereignisorten bestimmt sind. Er führte durch die südliche Friedrichstadt in Berlin-West ins Areal zwischen Stresemannstraße, Prinz-Albrecht-Straße, Wilhelmstraße, dem Anhalter Komplex und dem Landwehrkanal. Das ist heute ein zum Teil erst nach dem Krieg erzeugtes Trümmerfeld, ein Abraumfeld mit vereinzelten Neubauten beziehungsweise Wiederaufbauten; kurz, ein einmaliger Ort, insofern in ihm von der dichtesten Folge entscheidender historischer Ereignisse, die dort stattfanden, kaum noch eine Spur vorhanden ist. Alles muß imaginiert, vorgestellt, im Kopf rekonstruiert werden. Und gerade darin liegt die Chance und die Faszination dieses Geländes.

Zwei Wochen lang habe ich jeweils nachmittags für 4 Stunden eine Gruppe von zumeist 200 Leuten durch das Gelände geführt; begleitet von einem Archäo-Mobil, das François Burkhardt gebaut hatte, das Stühle und Kaffee transportierte und vor allem eine Projektionsanlage, auf der an Ort und Stelle Anschauungsmaterial zur Geschichte des Geländes vorgeführt werden konnte. Das entscheidende Moment dieses action teaching - und das vernachlässigen, aus welchen Gründen auch immer, alle bloßen Führungen durchs Gelände, die jetzt zahlreich angeboten werden - sind die Themata, anhand derer die Imagination entfaltet werden kann. In der Entwicklung dieser Themata bestand sozusagen meine Leistung als Kommunikationsdesigner. Der Rundgang kann eben nicht eine übliche Führung als Addition der einzelnen historischen Fakten sein wollen. Die Kommunikation über die Sachverhalte soll ja so gestaltet werden, daß daraus ein Sozio-Design werden kann. Vieles spricht dafür, daß das gelungen ist; denn inzwischen weigern sich immer mehr Berliner, jenes historisch einmalige Gelände im Zuge der IBA-Aktivitäten neu gestalten zu lassen. Das Sozio-Design sollte erreichen, daß die Neugestaltung des Geländes in der Sicherung der jetzigen Gestalt des Geländes besteht, die unübertrefflich die historische Imagination der Zeitgenossen zu entwickeln vermag, was weder ein Gedenkpark, noch ein geschlossener Biotop, noch ein Freizeitgelände mit Randbebauung jemals leisten könnten.

Meine thematisch strukturierten Imaginationen hätte ich zum Beispiel auf einer Bühne in einem Theater inszenieren können, oder ich hätte sie als Wissenschaftler oder Schriftsteller publizieren können; als Touristenführer hätte ich sie kommerzialisieren können - die Absicht des Kommunikationsdesigners war und ist eine andere: über das Training von Imagination und Reflexivität die Bereitschaft der Menschen zu erhöhen, das sie bestimmende soziale Beziehungsgefüge in einer für notwendig erachteten Weise zu verändern. Derartige Wirkungsabsichten bestehen für das Kommunikationsdesign wie für die angewandte Kunst, verehrter toter William Morris! So ginge es nicht? Vielleicht! Aber anders, im Atelier, im Museum, in den eigenen vier Wänden geht es erst recht nicht.

Übrigens: Besagte WDR-TV-Sendung Nachtschalter ,,Gebrauchsgegenstand Mensch" war selbst ein Beispiel für den Zusammenhang von Kommunikationsdesign und Sozio-Design. Eine Zweistundensendung ohne Proben, wo gibt's denn Derartiges sonst? Dazu noch als Live-Aufzeichnung am Sendetag, ohne Zeit für die Korrektur technischer Pannen! Und das mit lauter Laien! Also könnte man das hinter solcher Sendung stehende soziale Gefüge des WDR als Anstalt des öffentlichen Rechts so erweitern, daß zukünftig viele derartige Sendungen möglich werden.

6 Lichtdesign

Ist es ein Treppenwitz der Geschichte, daß etwa gleichzeitig der Kunsthistoriker Jantzen die diaphane Wand der gotischen Kathedrale entdeckte und Albert Speer die Vision seiner Lichtdome erarbeitete? Licht als Baumaterial, das gestaltet werden kann. Licht gestalten, dem Licht Form geben, einem Material, das nicht materiell zu sein scheint, unfaßbar, geheimnisvoll, vor allem in der Brechung der homogenen Weiße in die Farben des Spektrums. Astrales, himmlisches Material, das die Kraft hat, uns ins paradiesische Jenseits vorzuleuchten; das uns eintaucht in Reinheit, göttliche Glorie, herrscherliches Strahlen und den Glanz des Kostbarsten, der Macht und der Schönheit. Zumindest seit der Elektrifizierung der Nacht im späten 19. Jahrhundert und seit der Freilichtmalerei der Impressionisten war "Licht in der Malerei" (W. Schöne, Haupterbe Jantzens) ein Dauerthema, das besonders intensiv Ende der 50er Jahre von der Zero-Gruppe bearbeitet wurde. In den 60er Jahren mußten die Künstler sehr genau auf das achten, was die Neonkultur von Las Vegas und St. Pauli geleistet hatte und was eben auch Speer mit seinen gigantischen Flakscheinwerfern am Rande des Olympia-Stadions beziehungsweise am Rande des Reichsparteitaggeländes zu erreichen versuchte.

Volker Albus aus Düsseldorf ist jener junge Künstler, der Erfahrungen aus dem Bereich der Boutiquen und Restauranteinrichtungen beziehungsweise aus dem Bereich der Schaufensterdekoration nutzt, um Lichträume als künstlerische Environments zu schaffen. Ausgangsmaterial sind für ihn zum Beispiel Neonstelen mit rot/weiß-Streifung, die immer Barrieren signalisieren. Eine der Stelen ist schwarz/violett gestreift. Vier der rot/weißen Barriere-Neon-Stelen stehen in Reihe vor der linken Seitenwand des Demonstrationsraumes, etwa vierzig Grad von der Wand einwärts abgedreht. Zwischen der dritten und vierten Stele ein kleiner Tannenbaum. Im selben Winkel weicht von der Stelenreihe ein quadratisches Feld ab, das auf dem Fußboden aus dem geometrischen Muster der Trennlinien von Katzenaugen gebildet wird. Das aus fünf Reihen bestehende Feld nimmt die Mitte des Raumes weitgehend ein; es scheint der Stelenreihe entgegenzulaufen. An die hintere Wand ist ein Rennrad gelehnt. Es steht mit dem Hinterrad in einem intensiv grünen Lichtfeld, das die rückwärtige linke Ecke des Raumes bahnenartig von der Decke bis zum Fußboden überzieht. Vor dem Lichtfeld zwei metallene Pfeiler wie die Halterungen einer Spiegelwand in einer Bar. Davor ein Bartischchen mit zwei Hockern aus Bambus im Stil der 40er Hollywoodjahre. Auf dem Bartisch ein beweglicher Lichtschirm als Panoramabild mit südlichem Himmelsblau, durch das Engel, Wolken und Flugzeuge Hawai zustreben. Vor dem Bartisch die lila/schwarze Neonstele. Zu ihren Füßen ein Haufen von Leitlinienkatzenaugen. Zur rechten Wand hin schließt ein gerahmter Neonwinkel an die Wand an.

Ein Environment von großer Kraft. Das Licht verwandelt tatsächlich über die Hawai-Kasino-Stimmung hinaus. Es entmaterialisiert den Körper und läßt die Seele kalt aufleuchten. Man hat plötzlich die Gewißheit, daß auch in der Neonplastikwelt Andacht geübt werden kann und meditative Konzentration möglich ist. Albus gestaltet tatsächlich einen ersten Tempelgang der Kinder von Neon und Plastik.

7 Design-Metaphysiker - Humordesigner

Stammvater all dieser ist natürlich Karl Valentin. Aber vielleicht kennen Sie ihn gar nicht, waren nie in seinem "Musäum", sahen noch nicht den Winterzahnstocher mit Pelzbesatz. Hat eigentlich Alfred Jarry irgendwelche Objekte hinterlassen - wenigstens als theoretische Objekte der Pataphysik, also der Wissenschaft von den einmaligen Ereignissen? Immerhin haben wir heute einige Design-Metaphysiker unter uns, die sogar Zuspruch und kommerziellen Erfolg verzeichnen, seit ihre Objekte nicht mehr nur publiziert, sondern auch tatsächlich aufgelegt werden. Zum Beispiel von der Galerie Harlekin in Wiesbaden, die bisher eigentlich nur Jux vertrieb, die aber durch die Anverwandlung von Fluxuskunst sich in den Rang eines Raritätenkabinetts der Design-Metaphysik zu erheben verspricht.

Soeben stellt die Edition Elefantenpress/Berlin den amerikanischen Großmeister Philip Garner mit dem Katalog seiner Sammlung "schöner leben" vor. Darin versammelt er eine Reihe genialer Überschätzungen von Designideen, die er aufbläst und deren Platzen uns Erkenntnisse erschließt, auf die wir im Designstudium vergeblich warten, weil wir dort angehalten werden, nicht zu überschätzen, sondern objektiv zu werten.

Da ist zum Beispiel Garners Rundumtisch, sensationell, sechs Tische in einem, ein Kubus, dessen Flächen allesamt mit Beinen ausgerüstet sind und mit Tischoberfläche signalisierender Gestaltung; zugleich sechs unterschiedliche Höhen, sechs verschiedene Designs. Durch einfaches Kippen des Würfels macht man einen Eßtisch zu einem Couchtisch oder Teetisch etc. Ein schönes Beispiel für falsch verstandenes Revival, für eine Überschätzung der Re-Edition und des Recycling der skandinavischen 50er Jahre. Zugleich stellt Garners Rundumtisch sämtliche Manien und fixen Ideen der Designer mit einem Knall bloß: die Polyfunktionalität, die Variabilität, die Rationalität, die Raumökonomie der Musterboxen.

Das geniale Vereinfachen in Gestaltungsprozessen ist uns bisher nie so aufgegangen wie in Garners Modell für den Herrn mit dem Aktenköfferchen bei großer Hitze: der korrekte Anzug wird einfach in Brusthöhe elegant abgeschnitten!

Im April 1983 stellten Ugo La Pietra, Aldo Grasso und Bettetini ihr Konzept des telematischen Hauses vor, ein Design, das endlich allen jenen Gewohnheiten Rechnung trägt, die sich längst in jedem Haus durch die Television eingebürgert haben. Zum Beispiel das gemeinsame Alleinsein essend vor dem TV-Gerät. Was früher eine Domäne der Wiener Kaffeehausliteraten auf höchstem philosophischen Anspruchsniveau war: "Zum Alleinsein braucht man unbedingt Gesellschaft", ist inzwischen eine Plattitüde für alle, die nicht zu dumm sind, allein aus dem Fenster sehen zu können. Ugo La Pietra führt diese Verwandlung des Heims in ein Institut der Öffentlichkeit vor, wie es das Kaffeehaus einmal gewesen ist. Gemütliche Schwanke, feixende Rezensionen und bissige Satire werden da allerdings nicht mehr geschrieben. Am Fließband des Todes herrscht ferngesteuerte Selbstüberwachung. Jetzt endlich ist das allessehende Auge Gottes auch eine Realität für Atheisten. La Pietra und seine Freunde entwarfen Verhaltensmuster für Menschen, die vor diesem alles sehenden Auge plötzlich verstehen, daß sie selbst der große Bruder sind.

8 Das gewöhnlich schöne Design

Im Unterschied zum Banal-Design kennzeichnet das "gewöhnlich schöne Design" alle jene Kaufhausprodukte, von denen der Durchschnittskäufer annimmt, sie seien mit allerhöchstem künstlerischen Anspruch gestaltet, ja, sie verdankten sich einer nur selten so hochragenden künstlerischen Gestaltungsabsicht. Der Designtheoretiker Selle stellte eine Kollektion solcher Objekte des gewöhnlichen schönen Designs im Mai 1983 im IDZ, Berlin, vor. Meinte er etwas anderes als das, was uns vor 15 Jahren Susan Sontag unter dem anspruchsvollen Markenzeichen "Camp" präsentierte? Also Kitsch für Intellektuelle und Snobs? Kitsch zum ungetrübten Stimulans der eigenen Kitschunanfälligkeit? Reflexiver Kitsch? Gibt es das überhaupt, kann es das geben? Selle meinte natürlich gerade nicht den reflexiven Kitsch, sondern die Anmut und stille Würde des natürlichen Geschmacks, also eines Undings (nicht der Dummheit, denn die gibt es ja wirklich). Was die Käufer jener Objekte meinen, wird uns durch eine Gruppe Pforzheimer Modemacherinnen gezeigt. Sie schneidern sich aus bestem Material und mit größter Fähigkeit Kostüme ihrer Sehnsüchte. Sie kostümieren sich als Großkatzen, weil sie glauben, daß leistungsfähiges Design sich immer direkt auf die Gefühle und Verhaltensweisen übertragen muß. Emanzipation über Design: nicht mehr Kätzchen der Männer, sondern Raubkatzen nach unbeeinflußbar eigenem Willen. Aber welcher Wille könnte das sein? Nun, das herauszufinden, soll eben jene Kostümierung ermöglichen. Also der Käufer nicht mehr als Manipulationsobjekt des Designers, sondern als sein eigenes Objekt? Immerhin ein Fortschritt, sofern dieser Vorgang verstanden, also doch reflexiv aufgeschlossen wird.

Selle übersieht, daß die Auswahl des gewöhnlich für schön gehaltenen Designs auch nur durch einen Erziehungsprozeß zustande gekommen ist: Der Erziehung zum Wörtlichnehmen von Märchen, Philosophien, Kunstwerken - eben zum Kitsch. Es ist keineswegs unmittelbare Urteilskraft des naiven, unverblendeten, vorurteilslosen Alltagsmenschen mit statistisch repräsentativem Profil. Weil das so ist, so sollte man lieber gleich mit Anspruch auf Wirkung sein eigenes Urteil, die eigenen Überzeugungen ins Spiel bringen. Sonst danken die Designer und angewandten Künstler genauso ab, wie nach Meinung von Morris bereits die freien Künstler abgedankt haben. Wenn schon Design, dann auch schon eine Wirkungsabsicht. Oder, wenn schon sozial bedeutungslos, dann lieber als freier Künstler in Einsamkeit und Eigenliebe. Reicht es selbst dafür bei uns nicht mehr, sollten wir uns als unser eigenes Publikum durchschlagen; denn - so wird Bazon Brock nicht müde zu erklären - seit 50 Jahren hat ohnehin die Rezeption die Führungsrolle in der Kulturentwicklung übernommen. Eine aussichtsreiche Karriere - und das, obwohl Morris natürlich völlig recht hatte.

Bibliographie
R. Krause, G. Krawinkel, Hrsg.: "Provokationen. Design aus Italien - ein Mythos geht neue Wege", Deutscher Werkbund Niedersachsen und Bremen e.V., Hannover, 1982
Gsöllpointner, Hareiter, Ortner, Hrsg.: "Design ist unsichtbar". Locker Verlag Wien, 1981
Robert Jensen, Patricia Conway: "Ornamentalism", Allen Lane/Penguin Books, London, 1982
Bazon Brock: "Im Gehen Preußen verstehen - ein Kulturlehrpfad der historischen Imagination" Internationales Design Zentrum Berlin, 1981

„Zeig Dein liebstes Gut – zeig Dein Liebstes gut.“ Bürger kuratieren Ausstellungen., Bild: Bazon Brock mit Mitarbeitern des Internationalen Designzentrums Berlin; Kongress »Lebensformen der 20er Jahre« des IDZ, Berlin 1977 © Ludwig Binder.
„Zeig Dein liebstes Gut – zeig Dein Liebstes gut.“ Bürger kuratieren Ausstellungen., Bild: Bazon Brock mit Mitarbeitern des Internationalen Designzentrums Berlin; Kongress »Lebensformen der 20er Jahre« des IDZ, Berlin 1977 © Ludwig Binder.

siehe auch:

  • Tafelrunde

    Design ist Kult

    Tafelrunde · Termin: 03.11.1984, 10:00 Uhr · Veranstaltungsort: Krefeld, Deutschland · Veranstalter: Keramikgesellschaft im Klärwerk bmH · Veranstaltungsort: Klärwerk, Krefeld