In: Gefühlscollagen. Wohnen von Sinnen, Köln 1986 (Buch zur gleichnamigen Design-Ausstellung im Düsseldorfer Kunstmuseum)
Natürlich ist der Designer nicht gerne nur Künstler zweiter Klasse, also ein Künstler, auf den es nicht ankommt, und von dem niemand zu sprechen braucht. Tatsächlich aber war, ist und wird auch in Zukunft der Designer nur ein Künstler zweiter Klasse sein, wenn es weiterhin nach den Wünschen und Vorstellungen der Verehrer von sogenannter freier Kunst geht. Daß freie und angewandte Künste derart oberflächlich gegeneinander ausgespielt und die Meister beider Bereiche permanent in lachhafte Konkurrenzen um Größe und Geld gehetzt werden, entstammt in erster Linie dem Bedürfnis des Publikums, nicht mit Gesprächen über die Werke, sondern über die Künstler ihren Kaffeeklatsch zu bestreiten: Über Werke lassen sich weniger interessante Anekdoten und Zoten verbreiten als über ihre durch den Hautgoût des Anormalen ausgezeichneten Urheber. Das naive Publikum tut ja immer noch so, als verdankten sich nur Gemälde und Skulpturen, nicht aber Tapeten und Sessel künstlerischen Einfällen.
Aus der Art, wie das Publikum einerseits an Gemälde und andererseits an Sessel zu kommen vermag, schließt es, daß sich die Sessel und alle anderen bloß >gestalteten< 0bjekte außerhalb der Kunst aus einem simplen Arbeitsprozeß konsequenterweise ergäben, während die >eigentlichen< Kunstwerke das Resultat eines geheimnisvollen, nicht alltäglichen Schöpfungsaktes seien. Gestaltung ist nach dieser Auffassung simple Umgestaltung, der man keine wahrhaft schöpferische Kraft zugestehen könne. Die grassierenden Kunstideologien als Gesellschaftsfutter sind immer noch dem Bild eines göttlichen Schöpfers verpflichtet, der auf zauberhafte Weise aus dem Nichts heraus eine Bildwelt kreiert.
Unschwer läßt sich in dieser Vorstellung das Interesse des bürgerlichen Publikums erkennen, aus Dreck Gold zu machen. Mit dieser Fähigkeit sehen die Bürger den schöpferischen Künstler begabt, und sie ahmen ihn nach, wo immer sie können, indem sie mit Vorliebe als schöpferische Unternehmer ihrerseits Gold zu machen versuchen.
Die freien Künstler hören es gern, wenn sie auf diese Weise die überragende Bedeutung ihres Tuns bestätigt bekommen; in die Rolle eines omnipotenten göttlichen Kreators fügen sie sich gern, da sie wissen, daß das Odium des Geheimnisvollen und das Flair des Außeralltäglichen die entscheidende Voraussetzung dafür ist, Zauberern ihre Kunststückchen gläubig abzunehmen. In einer gottlosen und auch herrenlosen Welt sind die freien Künstler nicht mehr bloß Imitatoren der Götter und Helden, sie werden selbst zu Göttern. Kann man es da Künstlern wie Lüpertz oder Baselitz verdenken, daß sie die ihnen zugestandenen Rollen fürstlicher Herren und göttlicher Helden exzessiv ausleben?
Wie bescheiden nimmt sich dagegen die Rolle des Designers aus, der als Geistesarbeiter unter Arbeitern, als Psychoingenieur unter Ingenieuren, als Spezialist für Gestaltung unter Fachleuten für Industrieproduktion unauffällig bleiben muß. Ändert sich dieses Bild, wenn wir von einer zeitgenössischen Definition der Künstlerrolle ausgehen? Als Künstler verstehen wir alle Tätigen, die sich für die ideelle und materielle Hervorbringung ihrer Arbeitsprodukte weitestgehend auf sich selbst berufen; die weder im Team arbeiten noch bloße Beiträge zu Arbeitszusammenhängen anderer liefern und die zur Legitimation ihrer Arbeitsresultate keinerlei Verweise auf Meinungen und Werturteile Dritter in Anspruch nehmen, sondern ausschließlich sich und ihre Arbeit selbst verantworten. In diesem Sinne gibt es, Gott sei Dank, in allen Handlungsbereichen der Gesellschaft Künstler.
Es ist leicht einzusehen, daß freie Kunst in besonderem Maße Chancen dafür bietet, seine Sache ausschließlich auf sich selbst zu stellen, aber prinzipiell läßt sich der künstlerische Zugriff auf das Material dieser Welt in sehr vielen Handlungsbereichen unseres Alltags entfalten - man muß ja nicht gleich mit Beuys behaupten, daß alle Zeitgenossen in allen ihren Tätigkeiten Künstler zu sein vermöchten.
Daß die künstlerische Haltung mit höheren Risiken verbunden ist als die eines Wissenschaftlers oder Verwaltungsangestellten, kann man nicht leugnen; wahrscheinlich scheuen die lieben Mitmenschen wegen dieses Risikos eher als aus mangelnder Begabung vor den ihnen immer häufiger gewährten Möglichkeiten zurück, selbstverantwortlich zu handeln, anstatt sich bloß aus vorgegebenen Sachzwängen heraus nachträglich zu rechtfertigen. Aus dieser Unterscheidung von Selbstverantwortung und Selbstrechtfertigung läßt sich das Dilemma der angewandten Künste einsehen.
Wer als Designer mit den höchsten Ansprüchen eines Lebensreformers, eines Auflklärers und Kämpfers für den sozialen Fortschritt mehr oder weniger umfassend die Objekte unserer Lebensräume zu gestalten versucht, muß sich zwangsläufig die Frage stellen, inwieweit er tatsächlich denjenigen gerecht wird, für die seine Arbeitsresultate gedacht sind. Er arbeitet in der Verantwortung für andere, auch wenn er sich einreden kann, daß seine Adressaten die Möglichkeit haben, unter einer Vielzahl von unterschiedlich gestalteten Produkten auszuwählen und bei dieser Auswahl ausschließlich eigenen Kriterien zu genügen.
Die Gartenstadt oder die Reformkleidung, das Bauhaus oder die Jugendstilmöbel mögen zwar freibleibende Angebote an Adressaten genannt werden; man wählt sie aber nicht wegen ihrer Unverbindlichkeit, sondern gerade wegen der in ihnen manifestierten Behauptungen über das, was als ein gesundes, stimulierendes, menschenwürdiges Leben hingestellt wird; und diese in seine Produktgestaltung eingegangenen Behauptungen muß der Designer auch dann gegenüber seinen Adressaten rechtfertigen, wenn er dazu nicht durch Gesetze über Produkthaftung oder andere verbindliche politische und moralische Normen gezwungen wird.
Für den Designer ist der pädagogische, aufklärerische, reformerische Impetus die Quelle seiner schöpferischen Kraft. Die Geschichte der angewandten Künste ist eine Geschichte jener Bemühungen um die reformerische Veränderung der Lebensbedingungen von Menschen, soweit diese Bedingungen durch gestaltete Objekte entscheidend geprägt werden.
Alle bedeutenden Arbeiter im Bereich der angewandten Künste von Schinkel über Morris und Steiner, Gropius bis zu Sottsass waren der Reform der Lebensbedingungen weiter Bevölkerungsschichten verpflichtet. Die geschichtlich wirksamen Zusammenschlüsse von Gestaltern zu Formationen wie »Arts and Crafts«, dem Deutschen Werkbund oder dem Bauhaus unterlagen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen, was keineswegs bedeutet, daß sie mit entsprechenden parteipolitischen oder wirtschaftspolitischen Vereinigungen gleichzusetzen sind. Daß viele der mit solchen gestalterischen Zielsetzungen Arbeitenden auch Künstler in der oben gegebenen Definition waren, ist bemerkenswert und möglicherweise zukunftsträchtig.
In jüngster Zeit demonstrierte zum Beispiel Beuys, wie die Arbeit eines Künstlers für dessen Intention auf Gestaltung gesellschaftlicher Lebensformen genutzt werden kann: Beuys fand für seine pädagogischen, aufklärerischen und lebensreformerischen Vorstellungen gerade bei denjenigen offene Ohren, die nicht umhinkonnten anzuerkennen, daß er als Plastiker und Zeichner Hervorragendes geleistet hat. Man könnte geradezu postulieren, daß nur diejenigen bedeutende Volksaufklärer und Reformer sein können, die zugleich auch im obigen Definitionssinn beachtliche Künstler zu sein vermögen. Wo das nicht der Fall ist, sollte man Reformbestrebungen und Volksauflklärung besser Wissenschaftlern und Politikern, Unternehmern und Verwaltungsfachleuten überlassen, beziehungsweise den diese Täter stützenden sozialen Gruppierungen und Parteiungen. Die Autonomie des Künstlers begründet erst seinen moralischen und politischen Anspruch - und umgekehrt wird jeder im obigen Definitionssinn leistungsfähige Künstler allein schon dadurch moralisch-politische Ansprüche signalisieren, daß er für die Begründung seiner werkimmanenten Behauptungen und ihrer faktischen Wirkung keine Autoritäten, welcher Art auch immer, kein objektives Wissen und keine mysteriöse außerordentliche Schöpfernatur herbeizwingt.
Weder die Vorsehung noch Entwicklungsgesetze von Natur und Gesellschaft, weder göttliche Inspiration noch höhere Vernunft sind seine Zeugen. Er führt nichts als sein eigenes Beispiel ins Feld, und darin ist er gerechtfertigt.
Designer sind also nicht Künstler zweiten Ranges, wenn sie Künstler sind. Ihr Rang ergibt sich aus der Wirksamkeit ihrer Überzeugungen, soweit sie diese Überzeugungen mit entsprechenden Vorstellungen über die Gestaltung unserer Lebenswelt vertreten. Die gesellschaftliche und politische Verantwortung von Künstlern hat noch niemals darin bestehen können, daß sie sich zu entsprechenden Kräftekonstellationen in der Gesellschaft bekannten oder sich ihnen gar unterwarfen; im Gegenteil, die Geschichte der angewandten Künste belegt hinreichend, daß jeder scheitert, der darauf verzichtete, Künstler zu sein, um nur noch volksaufklärerische, pädagogische und lebensreformerische Programmatiken materiell durchzusetzen.
Gegenwärtig scheint es im aufgestellten Definitionssinne wenige Künstler zu geben, obwohl die Bedingungen für eine derartige Rolle - historisch gesehen - noch nie so günstig waren. Die angeblich bedeutenden Künstler, die wir haben, stecken entweder noch oder schon wieder tief in der Ideologie des Schöpfungszaubers. Daß Beuys eine so einmalige Erscheinung zu sein vermochte, zeigt andererseits, daß es den heutigen Künstlern im obigen Definitionssinn an Konzepten, ja an Vorstellungen pädagogischer und lebensreformerischer Art fehlt. Sie ersetzen den Mangel an solchen Vorstellungen verständlicherweise durch Selbststilisierungen. Dieser Tatsache verdanken wir immerhin ein fröhlich-buntes Bild kreativer Selbstunternehmungen, denen allerdings der Rang des Exemplarischen fehlt, weil sie noch nicht die Kraft haben, ihre Welt als eine ganze Welt auszulegen.
Die allenthalben zu bemerkende Theoriefeindlichkeit der Künstler steht einer solchen umfassenden Formulierung von Lebenswelten entgegen, wobei wir nicht verkennen sollten, daß zumindest implizit jenes weitverbreitete Geraunze vom Postmodernismus darauf hinweist, wie sehr man den Mangel an umfassenden Gestaltungstheorien empfindet.