Zeitung Die Welt

Biografie in Büchern: Bazon Brock, Denker, Bild: Die Welt, 22.06.2019.
Biografie in Büchern: Bazon Brock, Denker, Bild: Die Welt, 22.06.2019.

Erschienen
22.06.2019

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Seite 32 im Original

Biografie in Büchern

Bazon Brock, Denker

Der 1936 geborene Künstler Jürgen Johannes Hermann Brock hört auf den künstlerischen Vornamen Bazon. „Bazo“ (griechisch für „Schwätzer“) war der Spitzname, den ihm sein Lateinlehrer gab. Bazon Brock ist der lebende Beweis, dass Geschwätz Erkenntnis stiftet: Bis 2001 war er Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal, seine bis vor Kurzem betriebene „Denkerei“ am Berliner Oranienplatz bezeichnete er selbst als „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen“. Da steckt schon viel von jener Fluxus-Kraft drin, die Brock seit seinen „Besucherschule“-Aktionen auf der Kasseler Documenta institutionalisiert hat. Und der Leser Bazon Brock? Sagt über sich selbst: „Ich lebe, wie ich lese. Ich lebe durch Lesen. Ich lebe in der griechischen Antike durch das Lesen der Vorsokratiker und Herodots; in der römischen durch Cicero und Marc Aurel; durch Augustin in der frühchristlichen, durch Wolfram von Eschenbach in der mittelalterlichen, durch Ficino und Luther in der humanistischen Welt, durch die Werke aller Jenaer Konferenzteilnehmer von 1800 im deutschen Gedankenhimmel. Mit welchen Lektüren man das 20. Jahrhundert versteht, verrät Bazon Brock hier.

1 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

Musil verschaffte dem Modernitätspathos des 20. Jahrhunderts einen bis heute verbindlichen Ausdruck. So fragen wir angesichts der Zumutungen durch die unübersehbare Vielfalt an Wissensgebieten nach den wichtigsten, größten Gedanken der Menschheit und erstaunen dabei über die einzig zutreffende Antwort, die der Bibliothekar dem General Stumm von Bordwehr gibt, wie er, der Bibliothekar, denn angesichts der unbewältigbaren Vielzahl der Bücher Erkenntnis gewinnen könne. Die Antwort lautet damals wie heute: Indem ich kein Buch lese, aber das Ordnungsprinzip der Bibliothek beherrsche. Heute wissen wir, wir müssen kommunizieren, ohne zu verstehen. Weltorientierung basiert nicht auf Welterkenntnis, sondern auf Kenntnis der Formen und Verfahren der Kommunikation.

2 Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit

Für die Entwicklung der Rolle des Intellektuellen hat Egon Frieden aus dem Wiener Aufbruch um 1900 den Typus des genialen Dilettanten stark gemacht. Ein Rollenverständnis, das für so gut wie alle wahrhaft Schöpferischen gilt. Wer nicht durch Unterwerfung auf Fachdisziplin borniert wird, muss die Stärke haben, sich im Fremden zu behaupten: durch Listigkeit wie Odysseus, Naivität wie Parzival, Ausdauer wie Schliemann, spekulatives Vertrauen wie Einstein, Kraft zur Selbstversuchung wie Werner Forßmann. Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ erschließt Geschichte als Zukunftswissenschaft, denn alle historischen Vergangenheiten waren ja ehemalige Zukünfte. Jeder Historiker kennt in seiner Zuständigkeit wenigstens acht solch grundsätzlicher Verhältnisse von Gegenwart und Zukunftserwartung. Friedell schildert unsere Gegenwart als Frage, welche Vergangenheit wir als Zukunft unseres historischen Daseins zu erwarten haben.

3 Thomas Mann: Der Zauberberg

Der Humanist Settembrini und der Sozialist Naphta führen Streitgespräche, in denen es Thomas Mann gelingt, die zentralen denkerischen und politischen, wissenschaftlichen und theologischen Problemstellungen so darzustellen, dass der Leser wirklich sein Jahrhundert in wenigen Zeilen vollständig repräsentiert sieht. Das hat literarische Brillanz und gedankliche Prägnanz, die ihresgleichen suchen, aber den Leser durch den Geist der Erzählung derart fesseln, dass er sich selbst als Leidender zum Patienten ausbildet. In keinem anderen Roman der Weltgeschichte, soweit ich das beurteilen kann, wird die Gestalt eines Zeitalters so erfahrungsgesättigt und so analytisch präzise dem Leser geboten.

4 Thomas Mann: Doktor Faustus

Kein Kulturtheoretiker hat die innere Logik von Fundamentalismus und Totalitarismus derart gemeingültig zur Anschauung gebracht wie Thomas Mann in seinem Künstlerroman. Er fiel nicht auf die selbstgefällige Unterscheidung zwischen humanistischen Schöpfergeistern und Bildnern der Menschheit in Freiheit und Gleichheit einerseits und den bösartig totalitären Menschendressierern andererseits herein. Vielmehr entdeckt er, dass die Logiken des Werkschaffens von Künstlern weitestgehend mit den Logiken des Werkschaffens von Industriellen, von Erziehungs- und Bildungsagenturen, von Machthabern und Religionsstiftern übereinstimmen. Thomas Mann hat während des Ersten Weltkriegs diese Erfahrung an sich selbst machen müssen und wusste deshalb besser als alle Kunstsoziologen und Machtpsychologen, warum gerade Künstler zu Vorreitern der diktatorischen Weltgewissheiten werden konnten. Wer die Logik der zielgerichteten Rebarbarisierung als entscheidendes Projekt der Moderne im „Doktor Faustus“ kennengelernt hätte, ersparte sich heute die lächerlich banale Nolde-Diskussion.

5 Gottfried Benn: Lebensweg eines Intellektualisten

Mit der Wiederentdeckung Hölderlins zu Beginn des Ersten Weltkriegs erhielt Benn eine Vorgabe für das Leistungsniveau, dem sich Lyriker zu verpflichten hätten, wenn sie mehr als Gelegenheitsdichter in der Lokalpresse sein wollten: „Ach, aus den Archipelagen,/ da im Orangengeruch/ selbst die Trümmer sich tragen/ ohne Tränen und Fluch,/ strömt in des Nordens Düster,/ Nebel und Nilheim,/ Runen und Lurengeflüster mittelmeerisch ein Reim ...“ Benn ist der Beispielgeber für produktive Verwandlung der Zufallsfunde aus Journalen und Wissenschaften, aus Weinhausgesprächen und Patientenlamentos. Er begründet das Notizbuch als Besitzurkunde der Werkbaumeister. In seinem „Lebensweg eines Intellektualisten“ bietet er die bühnenreife Umsetzung der „Doktor Faustus“-Version des von ihm lebenslang bewunderten Thomas Mann. Seine Maxime: Verwirkliche auf Biegen und Brechen dein Werk und nicht deine Persönlichkeit, denn am Ende zählen nur die Zeiten überlebenden Statuen, nicht die Menschen selbst in ihrer Existenz. Das ist Erzwingung des Absoluten gegen alle humanistischen Tröstungen der spurenlos Gebliebenen.

6 John Fuegi: Brecht & Co.

Das siamesische Ungeheuer des Dr. Benn war in den Zwanziger- bis Fünfzigerjahren Bert Brecht (beide starben 1956 fast zeitgleich). Es gibt heute nur einen Zugang zu Brecht in der ihm angemessenen Form der Vermittlung, denn unvermittelte Unmittelbarkeit besteht für einen geistesgegenwärtigen Zeitgenossen nicht mehr. Wer heute angemessen über Brecht nachdenken will, ist auf die genialste Brecht-Biografie verwiesen, auf John Fuegis „Brecht & Co.“. Fuegi kann mit Dr. Faustischer Energie den shakespearereifen Strategemen Brechts gerecht werden: „Aber das Gesündeste ist doch einfach: lavieren“, am besten fährt man, wenn man sich nicht zwischen zwei Möglichkeiten entscheidet, sondern wenn man beide ergreift: „Ein Mann mit einer Theorie ist verloren. Er muß mehrere haben, vier, viele! Er muß sie sich in die Taschen stopfen wie Zeitungen, immer die neuesten, es lebt sich gut zwischen ihnen, man haust angenehm zwischen den Theorien.“ Niemand hat das Genie Brechts als Beispielgeber für die Position der Modernität so werkerfahren und zugleich so verwandelnd erfasst wie Fuegi. Daran sollten vor allem Feministen sich schulen, wie Fuegi den großen Co-Autorinnen Brechts, Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin und Ruth Berlau, alle Ehren erweist und gerade dadurch Brechts eigenen Auffassungen gerecht wird. Genial, genial, genial, mehr geht nicht.

7 Nicolaus Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde

Was die Großkünstler vor aller Fachwissenschaft und vor allem genauer und interessanter über Modernität zu sagen hatten, wird von Nicolaus Sombart auf der Ebene der Herrschaftsideologien des wilhelminischen Reiches nach der Vorlage Wagners als normativ, handlungsverpflichtend geschildert. Sombarts Sensibilität wurde von am Geschehen Beteiligten entwickelt, z. B. von Carl Schmitt, dem Dauergast im Sombart'schen Vaterhaus in Berlin. Sombart liefert die beste Psychologie der Macht durch die Parallelisierung englischer und preußisch-deutscher Entwicklungstendenzen. Begründet ist diese aus der Tatsache, dass Disraeli mit Queen Victoria das Konkurrenzmodell zu Bayreuth begründete. Der große Zauberer Disraeli hat 1876 zur Eröffnung von Bayreuth den großen Opernmeister übertroffen, indem er sein Stück nicht auf irgendeiner Bühne, sondern auf dem indischen Kontinent realisierte. Das Stück hieß „Die Kaiserin von Indien“, in der Hauptrolle Queen Victoria. Von da an ist die deutsch-englische Konkurrenz ein Kampf ums Ganze. Die wilhelminischen Preußen wollten unbedingt die Engländer in ihrem eigenen Bereich, nämlich dem irdischen Imperium, und nicht mehr nur im Reich der schönen Gedanken und der gottvollen Musik überbieten. So kamen Wilhelm und seine Entourage, die sich zwanzig Jahre lang mehrmals wöchentlich Wagner-Opern eintrichterten, auf die Idee, eine ultimative Wagner-Inszenierung in Angriff zu nehmen: Sie inszenierten den Ersten Weltkrieg. Der Kaiser führte den Krieg wie ein Regisseur eine Wagner-Oper oder vielmehr Wagner als Operette. Sombart liefert den Schlüssel zum Venusberg der deutschen Machtfantasien und zur Angst davor. Wer wissen will, was Deutsch im ultimativen Anspruch bedeutete, muss sich von Sombart füttern lassen, bis der gesunde Brechreiz eintritt.

8 Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage

Wer heute einen Intellektuellen, Philosophen, Literaten (und die entsprechenden *Ininnen) sucht, für dessen Arbeit die zentralen Aspekte von Modernität wirksam sind, stößt zweifellos in erster Linie auf Peter Sloterdijk. Er betont einerseits noch die Werkontologie (hinterlassungsfähiges Gebilde in Vollendung), arbeitet aber andererseits mit einem imaginierten Zettelkasten, also mit Ruinen und Fragmenten einstiger Sakralität und individueller Offenbarungsweisheit als Funden des Alltags. Er ist der Repräsentant der Verpflichtung auf Erkenntnis durch absolute Zeitgenossenschaft. Faustisch in der Werkobsession; brechtisch im mobilen Denken, das Theorien so bewegt wie Reformhäusler die mobilen Wände ihrer Wohnungen; er hat Benn'sche Qualitäten in der Entwicklung von Begriffslyrik, die es sehr häufig mit der Heideggers aufnehmen kann; und er arbeitet deswegen so staunenswert produktiv, weil er das Musil'sche PUG, das Prinzip des unzureichenden Grundes, beherrscht wie kein Zweiter. Wer über die gegenwärtige Situation aufgeklärt werden möchte, erreicht das mit dem Lesen der Sloterdijk'schen Notizen mit fast nietzscheanischer Verve in jedem Fall schneller und besser als beim Studium von Werken in Vollendungsabsicht. Ich lese täglich darin mit der Frage: Hätte ich mir das nicht auch selbst sagen können? Aber genau in dieser üblichen Form der Selbsttäuschung liegt der Beweis für die Kraft seines gedanklichen Arbeitens: Man glaubt, gelebt zu haben, was man da liest, obwohl es sich in Wirklichkeit andersherum entwickelt hat, Man lebt die Romane, statt sie zu schreiben.

9 Peter Weibel: Das offene Werk

Als Begründer der „theoretischen Kunst“, eines neuen Gattungsbegriffs für die Künste im 20. Jahrhundert, versuche ich immer wieder, mich auf diejenigen Kollegen zu konzentrieren, die nach meinem Urteil in dem neuen Arbeitsfeld am weitesten gekommen sind. Im deutschsprachigen Raum ist das sicherlich Peter Weibel, der den Logiken der theoretischen Kunst mehr als jeder andere gefolgt ist. Die Mutter der Bewegung heißt Universalpoesie nach Friedrich Schlegel um 1800, der Vater Marcel Duchamp mit seiner Pittsburgher Rede von 1957, in der er den Anteil der Betrachter, Beobachter, Zuhörer und Zuschauer an der Entstehung des Kunstwerks nachhaltig bestimmte. Mitmach-Ideologeme, Partizipationsforderungen und -angebote, Teilhabemöglichkeiten, aktionistische Entgrenzungen und ähnliche Programmatiken der 1960er-Jahre hat Weibel beispielhaft durchexerziert und in einer neuen Weise, nämlich technologisch evident werden lassen. Aber auch er konzentrierte sich schließlich auf die konzeptionelle Reduktion, auf die Gedankenarbeit, für die die Arbeiten der Künstler Anlass bieten. Man arbeitet nicht für die Kunst an der Wand, sondern für die Kunst im Kopf, mit dem man allerdings alle Wände durchdringen kann. Das herkömmlich so genannte Werk wird zum Erkenntnismittel, zum Werkzeug, zum cognitive tool. Alles Evidenzerleben führt zum Zweifel und zur Kritik an der Beweiskraft des Evidenten, des den eigenen Augen Sichtbaren. Damit gleichen sich wissenschaftliche, künstlerische und spirituelle Arbeitsmethoden an: Wissenschaft ist nur als Kritik an hypothetisch behaupteten Wahrheiten möglich, Kunst nur als Anleitung zur Bewältigung von Täuschung und Tarnung, Glaube nur als Zweifel. Weibel ist jedenfalls für theoretische Kunst im deutschsprachigen Raum erstrangig.

10 Die Bibel

Alle Kriterien von absoluter Modernität in der Selbst- und Fremdeinschätzung erfüllt in höchstem Maße die Edition „Die Bibel, Vollständige Ausgabe nach den Grundtexten, übersetzt und herausgegeben von Profs. V. Hamp, M. Stenzel, J. Kürzinger“. Die reichhaltigen Kommentierungen eröffnen vor allem dem täglichen Nutzer die Freuden der Philologie, das heißt die Erfahrung der Differenz von Kommunikation und Verstehen. Selten haben Autoren präziser die Einheit von Glauben und Wissen in der operativen Erschließung historischer Geltungsansprüche fruchtbar werden lassen. Mythen sind urheberlos gewordene Erzählungen, wie Wahrheiten, die urheberlos gewordenen Aussagen von Wissenschaftlern sind. Es geht um die Annahme, dass Mythen wahrheitsfähig sind, und um die Erkenntnis, wie weitgehend vor allem die positiven Wissenschaften durch Selbstmythologisierung mit dem Resultat der Wissenschaftsgläubigkeit alles übertreffen, vor allem als Nährboden für den Kapitalismus als Religion, was historisch je mit der Macht einer Ideologie durchgesetzt wurde. Gegenüber dieser Praktik des Kapitalismus als Religion sind die drei Offenbarungsreligionen geradezu gedankenklare Verpflichtungen auf Aufklärung. Und in der Tat ist der moderne westliche Staat ja als Verwirklichung der christlichen Theologie zu verstehen, deren alles überragende gedankliche Leistung gerade darin besteht, im Leben und als Leben der Nichtgläubigen wirksam zu werden. Universale Geltungsansprüche lassen sich nicht in partieller religiöser Praxis verwirklichen, sondern im Aufbau einer staatlichen Einheit oder eines imperialen Daches über alle religiös kulturellen Differenzen hinaus. Ich lese diese Bibel-Edition als beste Erschließung der säkularen Welt, in der sich alles Verlangen nach Sakralität als säkulare Tatsache erfüllt.