Buch Theoreme

Er lebte, liebte, lehrte und starb. Was hat er sich dabei gedacht?

Bazon Brock: Theoreme. Er lebte, liebte, lehrte und starb. Was hat er sich dabei gedacht?, Bild: Köln: Walther König, 2017.
Bazon Brock: Theoreme. Er lebte, liebte, lehrte und starb. Was hat er sich dabei gedacht?, Bild: Köln: Walther König, 2017.

BAZON BROCK: THEOREME. Er lebte, liebte, lehrte und starb. Was hat er sich dabei gedacht? Hrsg. von Marina Sawall. Mitarbeit: Bianca Girbinger, Linn Schiemann, Andrea Seyfarth. Mit einer Einleitung von Bazon Brock und einer Einführung von Marina Sawall. Köln 2017. 2. Aufl. 2020.

https://www.buchhandlung-walther-koenig.de/koenig2/index.php?mode=details&showcase=3&art=1551463

Bazon Brock, Jahrgang 1936, ab 9. März 1945 Flüchtling aus Hinterpommern und Kriegskind in den Hauptkampflinien Zoppot, Neufahrwasser, Gotenhafen und Hela; belehrt durch die Feigheit ordenssgeschmückter Offiziersgockel und den Mut von Frauen und Müttern; modernitätstauglich geworden in Lagern, die nachweislich kein Kind unter 4 Jahren überlebt hat; ab 1949 endlich in der Obhut tüchtiger Gymnasiallehrer in Itzehoe/Holstein; ergriffen mit Dichterkollegen im Seminar über das 2. Buch „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach; intellektualisiert durch kabarettistische Vernunft zwischen Carlo Schmid und Carl Schmitt und Ludwig Erhard und Heinz Erhardt; poetisiert von Claus Brehmer und Daniel Spoerri in der Dramaturgie des Staatstheaters Darmstadt; begriffslyrisch gestimmt durch Heidegger und Adorno; publizierte im Herbst 1957 sein erstes Buch „Kotflügel Kotflügel“; realisierte eine zentrale Rolle aus Goethes „Wilhelm Meister“, indem er Erster Dramaturg unter Gnekow im Stadttheater Luzern wurde (im Pagendienst für Therese Giehse und Käthe Gold); schließlich ab Oktober 1965 Lehrer für nichtnormative Ästhetik neben den Kollegen Max Bill und Max Bense an der Hamburger Hochschule für bildende Künste ...

Der Rest ist Legende, wie der vorliegende Band beweist.Heute ist Bazon Brock Denker im Dienst des Instituts für theoretische Kunst und versteht sich als Universalpoet in der Berliner Denkerei. Das bezeichnet seit Friedrich Schlegel die Tätigkeit und Haltung eines Menschen, der sich nicht an Berufsrollen wie denen der Künstler und Wissenschaftler, von Unternehmern und Journalisten, von Parlamentariern oder Sozialtherapeuten orientiert. Universalität kennzeichnet ebenso wenig allumfassende Fähigkeiten und Kenntnisse, wie Urbanität die Gesamtheit der Eigenheiten einer Stadt beschreibt. Urbanität wie Universalität charakterisieren das Verhalten und die Orientierung von Individuen in jeder ihrer Handlungen. Der gleiche Mensch ist Professor und Mitglied eines Tennisclubs, Ehemann und Markenartikler, Reisender und Sitzriese. Das Gerede von multipler Persönlichkeit, als sei man je nach Rolle ein anderer, entstammt der eingebildeten Manipulationsmacht von Bossen, die sich verpflichtet fühlen, im Beruf hart und rücksichtslos zu sein, aber privat den liebevollen Vater, Hundenarren und Gärtner abzugeben. Gegen diese Selbsteinschätzung, das Berufs-Ich habe nichts mit der allgemeinen humanitären Gesinnung zu tun, traten die Universalisten wie Schlegel auf, die erfahren hatten, wie sich die Tugendpflicht der französischen Revolutionäre von 1789 ohne weiteres mit tödlichem Tugendterror vereinbaren ließ.

Bazon Brock ist immer Bazon Brock – ob er, wie Ende der 1950er Jahre, das mönchische Exercitium einer großen „Hamburger Linienziehung“ initiiert oder im Berlin der 60er Jahre auf dem Parkplatz des Hotels Kempinski zur „Gymnastik gegen das Habenwollen“ anleitet oder den „pompejanischen Blick“ in die Schaufenster unserer Kaufhäuser trainiert, als wären wir schon Vergangene, ob er „Besucher- oder Bürgerschulen“ etabliert oder in seinen Vorlesungen an der Hamburger Hochschule Eis- und Popcornverkäufer auftreten lässt, um so wenigstens das Rezeptionsniveau eines normalen Kinobesuchs im Hörsaal zu erreichen, ob er die Wohnung eines Zeitgenossen Stück für Stück auf die Bühne transportieren lässt, um den Normalbürger zum geschichtlichen Helden von shakespeareschem Format werden zu lassen, ob er als Regisseur, Autor, Ästhetiklehrer oder Sozialtherapeut für die Loslösung von unnötigem Lebensgerümpel in der Frankfurter Sophienstraße wirkt, ob er seine Zuhörer honoriert in gleicher Höhe, wie er als Redner honoriert wurde, damit Zuhören endlich als dem Reden gleichgewichtige Arbeit anerkannt wird – Bazon Brock ist immer Bazon Brock, verantwortungsbereit, vorstellungsdynamisch, wirkmächtig durch Wissenschaft und Zärtlichkeit. 56 der ehemals bei ihm Studierenden und Examinierten wurden ihrerseits Professoren; die Phalanx derer, die er begeistert, reicht vom Kunstbunkerherren Christian Boros bis zur Gastrosophin Andrea Kühbacher. Heinrich Klotz, der Gründervater des Karlsruher ZKM, nannte ihn eine „Symbolfigur des 20. Jahrhunderts“ und Peter Sloterdijk würdigte ihn 2006 als ein „Großzügigkeitsphänomen, wie es das 20. Jahrhundert selten gesehen hat“. Heiner Mühlmann beschrieb die künstlerisch-wissenschaftliche Arbeit von Bazon Brock als Etablierung einer neuen Kunstgattung, die
 er als apophatisches Sprechen bezeichnet, also das Sprechen über das Unaussprechliche, das Denken des Undenkbaren und die Vorstellung des Unvorstellbaren, aber als konkrete Vorstellung, bestimmten Gedanken und als präzise Aussage vor Werken im Museum.
Mit mehr als dreitausend öffentlichen Auftritten, in zahlreichen Büchern, Filmen, Theaterstücken, Ausstellungen und Besucherschulen positionierte sich Bazon Brock als Beispielgeber im Beispiellosen, das heißt, als jemand, der seine Untersuchungen als Selbstversuche, ja als Versuchungen angeht. Maxime: Kein Faschist ist nur, wer von sich weiß, dass er jederzeit einer hätte werden können, also sich selbst in jedes Urteil einbezieht, das er über andere fällt.

Erschienen
30.10.2016

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Sawall, Marina

Verlag
Walther König

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
978-3-96098-001-8

Umfang
552 S. mit mehr als 150 teils farb., teils ganz- bzw. doppelseit. Abb., Bibliographie, Index

Einband
Hardcover mit Schutzumschlag

Seite 6 im Original

Einleitung

Bazon Brock

Allgemein gilt: Erkenntnisse sind danach zu bewerten, wie treffsicher sich mit ihnen Zukunft voraussagen lässt. Die Voraussagen Bazon Brocks in den zurückliegenden sechzig Jahren haben sich in ganz erstaunlichem Umfang bestätigt.

So bewahrheitete sich in den 1960er Jahren seine Behauptung, Ja-Sagen sei die effektivste Form des Widerstands (Affirmationsstrategie, zum Beispiel Kampagne gegen den § 218 durch Selbstanzeigen von tausenden Frauen oder Widerstand durch „Dienst nach Vorschrift“ wie beim Streik der beamteten deutschen Fluglotsen).

Für die documenta 5 1972 postulierte Brock die „Neuen Bilderkriege“ als Konsequenz neuer Bildgebungsverfahren (definitiv bestätigt durch Werbung in US-Wahlschlachten und auf Schlachtfeldern seit dem Golfkrieg 1991).

Zum 60. Geburtstag von Joseph Beuys fixierte Brock das Theorem „Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, unter dem Druck des nichts als Neuen die Konventionen und Traditionen mit völlig neuen Augen zu sehen“. Die Kunst-Avantgarden des 20. Jahrhunderts erwiesen sich als die produktivsten der Menschheitsgeschichte, denn sie holten in unsere Museen als lebendige Gegenwart, was man zuvor als bloß geschichtlich der Vergangenheit zugeordnet hatte: die plötzlich wieder faszinierenden Artefakte der sogenannten primitiven Kulturen aller Kontinente und die staunenswert modern anmutenden Leistungen der lange vergangenen Hochkulturen.
Anfang der 1980er Jahre sagte Brock die Wiederkehr der Gottsucherbanden voraus, die als heute überall beschworene fundamentalistische Terroristen dem Motto folgen: „Wir wollen Gott und damit basta!“

Für die documenta 8 1987 entwickelte Brock das Theorem vom „Verbotenen Ernstfall“, das die heute brisanteste Frage bezeichnet, wie Mitglieder einer Gesellschaft zur Einhaltung von Regeln veranlasst werden können, wenn sie bei Verstoß weder die physische noch die psychische oder soziale Sanktionierung zu erwarten haben. (In der Afghanistan-Intervention wagte der Westen wegen des Verbots des Ernstfalls in Demokratien keinen erklärten Krieg; an jeder Bombe klebte das Zettelchen „Sorry, wir bauen hinterher alles schöner wieder auf“.)
Seit langem empfiehlt Brock seinen Kollegen, die allgemeine Selbstverwirklichungslust zugunsten der Selbstfesselung einzuschränken, denn wenn alle fröhlich die Sau rauslassen oder „alte Sehgewohnheiten radikal auflösen“ wollen, gibt es keine Konventionen mehr, gegen die irgendjemand rebellieren könnte.

Seit 1986 postuliert Bazon Brock mit dem Programm „Gott und Müll“ eine allgemeine Ewigkeitspflicht, denn strahlender Atommüll kann nur durch einen rigiden Kultdienst in „Kathedralen des strahlenden Mülls“ unter Kontrolle gehalten werden. Dadurch garantieren moderne Gesellschaften die Anerkennung von Ewigkeit. 40 000 Jahre lang solchen „Abfall“ zu lagern, setzt ein weit anspruchsvolleres Verständnis von Ewigkeit voraus, als bisher alle Religionen mit ihren bestenfalls 5000 Jahren Gottesdienst demonstriert haben.

In den 90er Jahren stellte Brock der Multikulti-Euphorie die Notwendigkeit der „Zivilisierung der Kulturen“ entgegen und schlug vor, Musealisierung als Zivilisations-/Pazifizierungsstrategie zu entwickeln (das Museum Hagia Sophia in Istanbul wurde 2016 mit Billigung des türkischen Parlaments wieder zum Kulturkampfobjekt zwischen Muslimen und orthodoxen Christen).

Zur Jahrtausendwende beschrieb Brock die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts in einer dem heutigen Problemdruck angemesseneren Weise: Es ging und geht nicht um die Abgrenzung der europäischen Rationalität oder Faktizität vom wilden Denken des Irrationalen oder der Willkür des Kontrafaktischen. Es gibt keine Entgegensetzung von westlichem Denken in Kosten-Nutzen-Kalkülen zum allerweltlichen Triumph des Glaubens und der Liebe über alle Rechnungsgrößen. Aufgeklärt ist vielmehr nur, wer jederzeit mit dem handlungsbestimmenden Kontrafaktischen wie Geisterglauben oder Rassenzugehörigkeit rechnet; aufgeklärt ist, wer vernünftig mit der Macht der Unvernunft umgeht.

2006 absolvierte Brock in 11 führenden Museen „Lustmärsche durchs Theoriegelände“ als Einübung in Geistesgegenwart und Zeitgenossenschaft. Die Wanderbewegungen als Gedankenentwicklung führten von der bildenden Kunst zur bildenden Wissenschaft und ihrem Denken in Bildern, das inzwischen das Durchschnittsniveau der Bildnerei von Künstlern übertrifft.

Seit den Bankenskandalen – seit überall Versagern hohe Anerkennungs- und Abfindungsboni gezahlt werden und europäische Parlamente zur Rettung vor Dieben selber zu Hehlern wurden, die asoziales Verhalten, aggressive Auslöschungskonkurrenz und gnadenlose Aushebelung des Rechtsstaats als Rettungsmaßnahmen ausgaben, beschäftigt sich Brock mit Logiken der Selbstzerstörung von Individuen, Unternehmen und Systemen. Er entdeckte in den Sehnsüchten nach der Apokalypse christlicher Provenienz das allgemeine Prinzip der Begründung von Optimismus durch Rechnen mit dem Schlimmsten, denn wer Gefahren zu kalkulieren versteht, hat die besten Voraussetzungen, sie zu bestehen. Gegenwärtig beschreibt Brock den Kapitalismus als bloße Ideologie, wie es der Sozialismus im ehemaligen Ostblock gewesen ist. Ebensowenig wie irgendwo auf der Welt je der Sozialismus als Programm verbindlich gewesen sei, so wenig waren wir je kapitalistisch. Was heißt schon Marktwirtschaft, wenn ganze Industrien Subventionen erpressen, wenn Pleiten zur Bereicherung der Pleitiers genutzt werden und wenn kriminelles Verhalten augenzwinkernd als „Überdehnung“ des allgemeinen Rechtsverständnisses beschmunzelt wird. Ein drastisches, aber zutreffendes Bild: Die Steuerzahler wurden zu Zwangsprostituierten im Staat als Bordell, in dem die reichen und mächtigen Herren bei der Puffmutter geschwundene Potenz beklagen und zur Wiederherstellung von Überlegenheitsgefühlen entsprechende Aufbauarbeit der Prostituierten bestellen. Und das Ganze möglichst von Festivalmusik untermalt.