Glasglocke oder Stahlgerüst? Wollten die vielen Zeitgeistbastler mit dem penetranten Insistieren auf dem Zeitgeist den 80er Jahren ein Gerüst einziehen oder ihre Geschäfte schützend unter einen Vorwand stellen? Waren die Zeitgeistmagazine, die sich am Markt etablierten, programmatisch gemeint, indem sie zum Zeitgeist erklärten, was sie ohnehin taten? Oder wollten sie nur aus dem Strom der Zeit das ausfiltern, was unter ihrem Markenzeichen vereinnahmt werden konnte? Die Berliner Zeitgeist-Ausstellung von 1982 versammelte Arbeiten von Künstlern, wie sie gleichzeitig zum Beispiel auch auf der „documenta“ desselben Jahres gezeigt wurden. Mit dem Zeitgeist wurden also keineswegs Arbeiten etikettiert, die erst durch diese Etikettierung wahrnehmbar wurden. Die Behauptung, den Zeitgeist zu repräsentieren oder zu formulieren, war wohl in erster Linie marktstrategisch begründet. Dagegen scheinen zumindest einige Redakteure der Zeitgeistmagazine der naiven Auffassung gewesen zu sein, das Phänomen Zeitgeist in den 80er Jahren überhaupt erstmalig erfunden zu haben – jedenfalls behauptet Markus Peichl, der Chefredakteur von Tempo, vor seiner Thematisierung des Zeitgeistes habe es ihn, den Zeitgeist, nicht gegeben. Natürlich gab es die Ausprägung des Zeitgeistes der 80er Jahre in anderen Jahrzehnten nicht, aber dem Geist der jeweiligen Zeiten spürte man seit Goethes und Hegels Definitionsversuchen in schöner Regelmäßigkeit nach.
Der Versuch, den Zeitgeist zu magazinieren, war immer erfolgreicher als der, ihn zu prägen – das versteht sich von selbst, denn ließe sich der Zeitgeist „machen“, verlöre er alle Bedeutung. Die Zeitgeistmagazine wollten wohl darauf abheben, im Trend des Zeitgeistes zu liegen, um so den Eindruck zu erwecken, ihn überhaupt erst hervorzubringen. Sie gaben sich den Anschein, die Generalmanager des Zeitgeistes zu sein und blieben doch nur dessen Opfer.
Was aber ist der Zeitgeist? Ist er eine geistige Infektion der Zeitgenossen? Womit sind sie infiziert? Was gleicht sie einander so an, daß man glauben möchte, sie stünden unter Hypnose und betrachteten ihre Welt alle durch den gleichen Raster – ihre Lebenswelten, die doch so unterschiedlich sind?
Der Geist der Zeit, ja der Zeitgeist manifestiert sich in erster Linie in den Zukunftserwartungen einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wahrscheinlich ist der Zeitgeist überhaupt nichts anderes als die Gestalt der Zukunftserwartung, die das Handeln der Menschen in der Gegenwart nicht nur beeinflußt, sondern generell steuert. Zwar unterscheiden sich die konkreten Lebensformen von Zeitgenossen ganz erheblich, aber in ihrer Einschätzung der Zukunft werden die Menschen einander doch sehr ähnlich; denn was die einen als Zukunft herbeisehnen, fürchten die anderen.
Die Furcht vor der Zukunft und die Hoffnung auf die Zukunft treten nämlich immer verschwistert auf als Zeitgeist, den alle repräsentieren, weil positive und negative Einschätzungen der erwarteten Zukunft sich wechselseitig hervorbringen.
Ein Leben ohne Erwartung einer Zukunft ist unerträglich.
Daß die Menschheit möglicherweise keine Zukunft mehr hat, wurde in den 80er Jahren von so vielen Menschen für denkbar gehalten wie nie zuvor.
Die Erwartung des Endes der Zeiten prägte zwar schon manche historische Epoche, aber das Ende der Geschichte wurde dabei stets als Ankunft am Ziel einer vorherbestimmten Entwicklung aufgefaßt. Das Ende als Apokalypse war nur die notwendige Voraussetzung der versprochenen Erlösung. Wer sich heute noch auf ein derartiges Versprechen verläßt, weiß, daß er damit etwas völlig Willkürliches behauptet. Die Kraft zu solcher Behauptung ist bewundernswert, ihr Pathos erhebend. Wer sich Willkür aber unterwirft, trägt nur dazu bei, daß das zukunftslose Ende umso schneller eintritt. Aber wer sich illusionslos der Wahrscheinlichkeit des definitiven Endes stellt, ist auch nicht viel besser dran. Ob man nun kontrafaktisch hofft oder die Lage realistisch einschätzt, läuft in der Konsequenz auf dasselbe hinaus; flüchten oder standhalten sind keine Alternativen mehr. Die Hoffnung, wir würden es am Ende doch noch packen, bleibt so spekulativ wie die Auffassung, es sei doch nichts mehr zu machen.
Das ungefähr dürfte den Zeitgeist der 80er Jahre kennzeichnen. Warum tun wir dann überhaupt noch etwas über die Notwendigkeit hinaus, unsere Zeit bis zum Ende so unterhaltsam wie möglich zu verbringen? Kann das überhaupt in Erwartung eines solchen Endes gelingen? Es spricht einiges dafür, daß wir weiter strampeln, um uns aus den Klauen des Zeitgeistes zu befreien und aus der Zeitgenossenschaft auszusteigen.
Das jedenfalls dürfte das Ziel aller Postmodernen, Postpostmodernen und Posthistoristen, der Trödelsammler und Nostalgiker ewiger Schönheit und Wahrheit sein.
Zerschlagt den Zeitgeist, dekonstruiert den Untergang und die Apokalypse. Aber ist das nicht bloß wieder der „Versuch einer Beendigung“ nach der Logik, man könne der Angst vor dem Tode nur durch den Selbstmord entgehen? Wer den Mut und die Kraft hat, sich selber zu töten, besitzt eigentlich die Stärke, die man braucht, um gegen den Zeitgeist anzutreten, das heißt, sich aus der Gewalt seiner eigenen Zukunftserwartungen in Furcht und Zittern wie schicksalsergebenem Hoffen und Harren zu befreien. Aber kann man das Selbstmördern, gar der sich selbst liquidierenden Menschheit klarmachen?
Die Vermarkter des Zeitgeistes gaben dazu die Empfehlung: „Viel Spaß“. Das ist so ziemlich das Hinterhältigste, was man heute jemandem wünschen kann. Angeblich rechtfertigt das Spaßhaben jeden Unsinn und jeden Stumpfsinn: was man arbeitet, ist völlig egal, Hauptsache, man hat Spaß dabei; Freizeit soll Spaß bringen, desgleichen der Sex, der Museumsbesuch, die Theateraufführung. Neben dem Wertmaßstab „Geld“ wird offenbar vorbehaltlos der Ereignismaßstab „Spaßhaben“ allgemein akzeptiert. Die Kinder klagen den Lehrern gegenüber ihr Quantum Spaß am Unterricht ein, und den Didaktikern rutscht das Herz in die Hose, wenn sie nicht wenigstens den Spaßwert einer Rudi-Carrell-Show im Unterricht anstreben.
Reha-Zentren mobilisieren die Lebensgeister Halbgelähmter, indem sie ihnen einreden, die teuflischen Übungen seien das reine Vergnügen.
Fehlt nur noch, daß man den Soldaten, die das Ins-Jenseits-Befördern professionell trainieren, viel Spaß im Umgang mit den Kampfmaschinen wünscht und den Dahinscheidenden viel Spaß im Jenseits in Aussicht stellt.
Ein hoher Grad der Annäherung an diese Empfehlung scheint bei TV-Shows erreicht zu werden, in denen sich die Zuschauer vor Spaß über fettleibige, verkrüppelte, dumme oder häßliche Zeitgenossen pausenlos in die Fresse schlagen.
Bei Lichte betrachtet steht aber hinter all diesen Bekenntnissen und Verpflichtungen zum Spaß der Mangel an Humor, an Witz und pointierendem Geist. Wem zu einem Ereignis nichts einfällt, rechtfertigt seine sinnlose Teilnahme an ihm mit der Selbstsuggestion, daß es immerhin Spaß gebracht habe. Also Spaß ist, wo sonst nichts ist, wo man sich beim besten Willen weder mit Satire noch mit Schadenfreude über die Zumutungen des Lebens hinwegsetzen kann.
Wer sollte sich schon des Ozonlochs mit einem Witz erwehren können? Wem wäre noch zuzumuten, gerade wenn er etwas heller ist, seine Zukunftsängste satirisch fortzublasen? Wer heute mit Humor und Grimassenschneiden die bösen Geister zu bannen versuchte, wäre in jedem Fall übler dran als die Stumpfnasen, die sich in die Spaßigkeiten der Unterhaltungsnarkotiker flüchten.
Wo es den hellen Köpfen den Humor verschlägt, zeigen die Spaßgeber und die Spaßnehmer den Ernst der Gemütslagen an. Beweis: Friedhelm Farthmanns Humoresken und Satiren auf die Quotenfrauen in der SPD wurden gerade von denen als zynische Leugnung des sozialen Ernstfalls voller Empörung zurückgewiesen, die das Hauptkontingent der Spaßnehmer bilden – egal ob auf Parteitagen, in Parlamenten oder in Rollschuhmusicals.
Wer den Spaß hat, braucht für die Angst nicht zu sorgen. Sie sitzt ihm schon im Nacken.
Jemandem viel Spaß zu wünschen, heißt also nichts anderes, als zu wollen, daß ihn der Teufel hole.
Deshalb kommt die Empfehlung, viel Spaß zu haben, einem versuchten Totschlag gleich. Aber da fängt der Spaß ja erst so richtig an.