Magazin Bauwelt 47/1982

Erschienen
10.12.1982

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
Nr. 47/1982

Das Sterbehaus

Wie jeder zitternde Zeitgenosse verfalle auch ich von Zeit zu Zeit dem Wunsche, meinem irdischen Dasein in einem selbst aufgeschütteten Haufen Ziegelsteinen verbindlichen Halt zu geben. Als Intellektueller ist man sich für derartig haltlose Wünsche Rechenschaft schuldig. Mein Verhältnis zur Architektur der zeitgenössischen Mitlebenden ist seit 1963, seit der Veröffentlichung von »Bitte um glückliche Bomben auf die deutsche Pissoirlandschaft«, äußerst gespannt; und da soll ich mich in die Hände von Leuten begeben, die als Architekten bis heute nicht bereit sind, die Schuld für das Desaster auf sich zu nehmen, das sie in völliger Verkennung ihrer künstlerischen Fähigkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg bei uns angerichtet haben?
Übrigens: Der Herausgeber der Bauwelt gehörte vor zwanzig Jahren zu denjenigen, die sich besonders verstockt gegen jene Kritik erwiesen, die schon damals begründeter war als alles, was sich für die grassierenden Architektenträume ins Feld führen ließ. Aber schließlich bröckelt ja selbst der Beton, in dem unsere Architekten sich als steinerne Gäste zu verewigen gedachten.
Zwei Möglichkeiten allenfalls scheinen mir vertretbar, die eigenen Vorstellungen und gedanklichen Konstruktionen des Traumhauses nicht zu platten Handlungsanleitungen für die Exekutive des Bauens verkommen zu lassen; denn darin hat man ja wohl das entscheidende Versagen der Architekturmoderne zu sehen, daß sie nämlich so unerbittlich und hundertprozentig ihre angeblich künstlerischen Konzepte in realisierte Bauten überführte. Eine für den Nutzer leistungsfähige Architektur hat uns jederzeit der Tatsache zu vergewissern, daß Anschauung und Begriff, Zeichen und Bezeichnetes, Konzept und Vergegenständlichung niemals als Verhältnis von Plan und Ausführung verstanden werden dürfen. Alles Menschenwerk ist nur im Hinblick auf die Differenz von Anschauung und Begriff rechtfertigbar; sie wurde seit der Antike im Architekturcharakter der Ruine ausgedrückt. Also sollte mein Traumhaus, damit es den Charakter eines Traumes bewahren kann, eine Ruine sein.
Mein lebensgeschichtlicher Hintergrund zwingt mir zwei entscheidende Elemente dieser ruinösen Architektur eines richtig verstandenen Traumes auf; einerseits die Baracke als Behelfsbau auf Widerruf, ständige Eingriffe und Veränderungen herausfordernd; andererseits den antiken Tempel als Beispiel für die ohnmächtigen, aber dennoch unabweisbaren Versuche, dem Chaos des Lebens geschlossene Gedankensysteme entgegenzusetzen; also den Zufälligkeiten und Beliebigkeiten der Historie dadurch zu entgehen, daß man sie unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was im Wechsel der Zeiten konstant blieb. Die Natur ist diese Konstante nicht mehr, wie ja wohl gegenwärtig jedermann zu Bewußtsein kommt; aber Stil, erzwungene Einheitlichkeit, zumindest den Versuch der Systematisierung kann man als eine solche Konstante im Wechsel der Historie gelten lassen.
Also wäre mein Traumhaus eine Baracke mit Säulen, natürlich der dorischen Ordnung. Sollten meine künstlerische Begabung und meine philosophische Befähigung zur Systematisierung nicht ausreichen, um diese Ruine als Baracke mit Säulen in irgendeiner Form dingfest zu machen, dann will ich mich mit dem Traum bescheiden, den ich von meinem Hause hege.
Ich würde mich dann allenfalls, und das ist die zweite Möglichkeit für mein Traumhaus, einer historischen Rekonstruktion meiner Probleme unterwerfen: Meiner Probleme, soweit ich sie als die Probleme anderer, historisch Früherer zu erkennen glaube. Beispielsweise als die Probleme von Domitian oder Hadrian, also sagen wir Domitian. Mein Traumhaus entstünde in einem strengen Exerzitium der historischen Differenz, der prinzipiellen Uneinholbarkeit der Geschichte; ein Exerzitium, zu dem der durchschnittspostmoderne Architekt nicht fähig ist, soweit er die Polyvalenz historischer Architektursprachen behauptet und über sie frei verfügen zu können glaubt.
Mein Traumhaus bestünde dann in der Rekonstruktion einer jener domitianischen Villen auf dem Palatin, die Domitian als Vergegenständlichungen des 3. und 4. pompeianischen Stils verstand. Was vor allem der 3. pompeianische Stil an den Innenwänden der Villen als bloße bildliche Vorstellung der Phantasie ihrer Bewohner anheim stellte, ließ Domitian mit einer heute ganz gut verstehbaren Radikalität als Bauten in römischen Ziegeln und griechischem Marmor aufrichten und verwandelte so die Bewohner dieser Bauten in Mitglieder jenes Geisterreiches, das seit Hadrian den Namen Tivoli (zeitgenössisch Disneyland) trägt.
Dieses Traumhaus wäre eine Verwandlungsmaschine aus unbewegten, aber den Bewohner unablässig bewegenden Versatzstücken der historischen Imagination; eine Ewigkeitsmaschine, die es mir ermöglichen könnte, die Omnipotenzphantasien der Kindheit nun auszuleben: Auch Steine und Marmor seien nur Geist.
Wenn es auch zu dieser Unterwerfung unter die eigenen Träume nicht kommt (und ich weiß nicht, ob ich das wünschen oder fürchten sollte), dann bliebe mir eine Perspektive, deren Verbindlichkeit allerdings kaum von mir abhängen dürfte. Ich wünsche mir, in mein Traumhaus erst in den Tagen des Sterbens einzuziehen und mich bis dahin nicht mehr mit der Frage zu beschäftigen, ob ich mein Traumhaus bauen sollte. In jenen Tagen des erwartbaren Todes wünsche ich, aus meiner Mitgliedschaft beim ADAC zum ersten Mal Nutzen zu ziehen; also mit den unbewegten Bewegern des Flugrettungsdienstes nach Pisa gebracht zu werden; in der Kathedrale, im Mittelschiff, auf der Höhe des vierten Jochs, mit Blickrichtung auf die Apsis sterben zu dürfen. Das Haus steht, aber der Traum bleibt, das ist eine für mich akzeptable Auffassung von Architektur.

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