Wie kann jemand wie Klaus Theweleit ein so ungeheures Interesse an Benn und Céline finden, an Knut Hamsun, Carl Schmitt und Heidegger, wenn es da doch nichts zu verstehen gibt? Er selbst kommt da nicht vor. Was wehrt er ab? Wehrt er ab, potentieller Selbstmörder oder Massenmörder zu sein oder sich als Kulturheroe inszenieren zu wollen? Man merkt an ihm nicht die potentielle Bestie oder den Kämpfer für die heilige Sache.
Auch Freud konnte bändeweise über Religion schreiben und gleichzeitig bereitwillig zugeben, daß er das zugehörige „ozeanische Gefühl“ nicht hinkriegt.
Aber Freud kannte seinen eigenen Haß, seine Latenz, sich als Alpha-Tier in der Gruppe der Psychoanalytiker aufzuspielen. Er wußte, daß in ihm etwas drinsteckt, das er unter Kontrolle halten mußte. Das ist mir bei Theweleit nicht klar. Ich habe in meinem Buch Re-Dekade versucht zu sehen, was aus den Leuten wurde, mit denen wir damals beispielsweise das Hamburger Studententheater gemacht haben. Peymann gab, in die Enge getrieben, zu, daß die einzige Möglichkeit, seine latente Begabung, sich als Großgeneral aufzuspielen, nur noch auf der Bühne als Regisseur verwirklicht werden konnte. Bei einer Shakespeare-Inszenierung in Wien kujonierte er dann seine Schauspielerinnen, bis sie blutend auf allen Vieren krochen, mit der Rechtfertigung, sie sollten einen Satz so sprechen, wie ihn noch nie jemand gesprochen hat. Da ist natürlich der Vorbehalt des ästhetischen Scheins gar nicht mehr möglich, denn die Bühne ist eine Realität. Das ging unserer ganzen Generation so: Man konnte kein Täter mehr werden, weder als Generaldirektor noch als General, da blieb eigentlich nur noch übrig, sich in der Kunst aufzuhalten. Oder Augstein, der eine Generation vor uns wirkte – ihm war klar, daß es für ihn den Ausweg der jungen Panzerobersten, die in die Industrie gingen und Wirtschaft als Fortsetzung des Krieges betrieben, nicht gab. Ihm diente der SPIEGEL als Möglichkeit, das zu tun, auf einer Ebene, die als erlaubt galt. Heute gibt es Leute wie Rainald Goetz, die so etwas in die Sphäre der Autodestruktion umleiten, potentielle Abstürzer auf jedem Flug von Wien nach München. Interessant sind die Fälle dort, wo man an diesen Leuten selbst merkt, daß sie zu sich über ihren Fall sprechen. Die interessanteste Auseinandersetzung eines Künstlers mit diesen Problemen stammt von Syberberg, mit Einschluß des Hitler-Films. Die spannende Frage war: Kommt der damit durch? Hält er sich die Fragestellungen durch diese Art künstlerischer Aktivität vom Halse oder kapituliert er? Mit dem Wagner-Film schien er bei der Kapitulation gelandet zu sein. Da bricht er schaudernd nieder vor der Größe dessen, was er in sich trägt, und beginnt, sich selber zu verehren – mit dem Ergebnis seiner Bücher aus den 1980er Jahren. Jetzt ist er über den Berg, glaube ich.
Woran erkennen Sie das?
Bei einer Abendveranstaltung in Dresden-Hellerau mit Tabori, Syberberg und mir sollte Tabori den Syberberg zerfleischen und als Antisemiten und Schwein entlarven, und das Gegenteil passierte: Tabori umarmte den Syberberg dauernd und sagte, der sei einer der wenigen, die überhaupt kapiert hätten, worum es geht, nur seine Schlußfolgerungen lehne er ab. Syberberg fühlte sich dort abgeholt, wo er sich mit seinem kindischen Trotz und seinem Selbstmitleid verkrochen hatte. Er selbst wollte ja so schnell wie möglich zugeben, daß er sich geirrt hat. Er konnte es aber nicht, solange ihm keiner bestätigte, daß er in seinem Irrtum eine Rechtfertigung für den Irrtum hatte.
Wer nicht über sich selbst spricht, hat nichts zu sagen.
Gehen Sie in Ihrer Arbeit intimer mit sich um? Als Sie über Gottsucher, Herrenkünstler und Kunst-Rambos geschrieben haben, haben Sie da über sich selbst geschrieben?
Mein Motiv ist die Selbstfesselung, die Ästhetik des Unterlassens: gegenüber der Täter-Philosophie und der Opfer-Philosophie, die unsere Kulturgeschichte beherrscht, eine dritte Position des Tuns durch Unterlassen zu beziehen. Das ist auch die Antwort auf den Totalitarismus:
Sobald sich jemand an Rezepte und Empfehlungen hält, beginnt das Elend. Das liegt nicht an den Konzepten. Wenn sämtliche Vorschläge zur Verbesserung der Welt von Jesus Christus stammen würden, wäre der Totalitarismus genauso stark, wie er historisch gewesen ist. Die Frage ist dann: Was kann man überhaupt noch sagen? Ich habe im Vorwort zur Re-Dekade ausdrücklich geschrieben: Ich weiß nicht, wie das für mich ausgeht.
Im Anhang Ihres Buches „Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit“ listen Sie Ihre Vorträge, Schriften, Aktionen, Ausstellungen für den Zeitraum 1976 bis 1986 auf. Ich habe 296 gezählt. Besonders viel unterlassen Sie also nicht.
Ich unterlasse sozusagen fast alles. Ich habe mal den Versuch gemacht, mich als Chef in der Theaterwelt zu etablieren, ich war schon mit 23 Jahren Erster Dramaturg, und da konnte man sehen, was dabei herauskommt. Das ist mir 1966 aufgegangen. Dann habe ich als langjähriger Dekan für unseren Fachbereich den Staatengründer gespielt und habe versucht, eine Notanstalt aufzubauen, einen Staat wie Ezra Pounds Poundiania. Ich habe es auch mit Werkproduktion im alten Typus versucht. Aber auch das habe ich aufgegeben.
Die Produktion von Ruinen, Trümmern und Fragmenten ist die einzige Möglichkeit, sich noch einer Form der Vergegenständlichung zu widmen.
Systematisches Denken ist notwendig totalitär.
Aber man verzichtet darauf nur um den Preis, daß man zum Impotenzler wird oder zum Affen von jedermann.
Die einzige Möglichkeit von Wirkung ohne die fatale Gefahr der Unwiderleglichkeit ist die Kritik an der Wahrheit. Aber wenn man sich in der guten alten jüdischen Tradition verbittet, den Messias zu spielen, verliert man an Faszination.
Haben sich die „Tätertypen“, die Sie in der „Re-Dekade“ für die Kunst der achtziger Jahre ausgemacht haben, in die Neunziger herübergerettet?
Die Frage ist, ob es überhaupt noch Schwergewichtler in der Kunst gibt.
Es ist ein auffälliges Phänomen, daß sich viele von den intelligenten jungen Leuten aus der Kunst verabschieden und zwar in Konsequenz dessen, was in den sechziger und siebziger Jahren erörtert wurde: Künstler ist man nicht, weil man malt oder Skulpturen herstellt, sondern durch die Art und Weise, wie man einen Aussageanspruch begründet. Sie merken, daß verstärkt in der Wissenschaft und in der Wirtschaft Künstler auftreten, so wie vielleicht Beuys sich das mal gedacht hat.
Ein Informationstheoretiker wie Bill Gates sieht sich konsequent als heutiger Leonardo.
Zwanzig Prozent der Abiturienten geben als Berufsziel Künstler an. Die wollen doch nicht alle Microsoft-Chef werden.
Das haben sie nur selber noch gar nicht gemerkt, weil sie zu wenig Beuys gehört und zu wenig Einstein gelesen haben. Schließlich ist ja auch Stephen Hawkins nichts anderes als ein Künstler.
Ist der Bohème-Künstler ausgestorben?
Bohème-Künstler spielt heute jeder, der sich am Nachmittag umzieht und in die Disco geht oder eine Rallye durch die Düsseldorfer Altstadt macht und hier mal hascht und da mal einen Trip einschmeißt. Bohème ist heute etwas für den Feierabend.
Vertreibt die Verlagerung der künstlerischen Haltung in die Alltagskommunikation auch die Propheten aus der Kunst?
Brock: Es gibt in der Kunst vier klassische Haltungen. Nehmen wir Baudelaire bis hin zu Rainald Goetz, also alle Haschischraucher, Syphilitiker, selbstinduzierten Wahnsinnigen, die selbstzerstörerischen Tendenzen nachgehen. Die demonstrierten: Folge mir nicht nach, denn was ich tue, ist Zerstörung.
Die Logik der Zerstörung als Logik der Produktion haben die Künstler ja überhaupt erst entdeckt, dann die Militärs. Dieser Typus des Aufklärers, der zeigte, wohin es führt, wenn man Radikalisierung nicht als Problematisierung unter Kontrolle hält, wurde dann als Märtyrer verehrt.
Zweitens gab und gibt es den großen Baumeister/Konstrukteur. Er bewies, daß aus seinem Leben etwas herauskommt, was der Alltagsmensch sich ja auch wünscht. Er schuf das Werk. Schon im 16. Jahrhundert hat Vasari die Künstlergenerationen seit Mitte des 13. Jahrhunderts beschrieben, wie sie die Tage miteinander verbanden, ein Werk auf ein nächstes bezogen: die Erzwingung eines Weges der Entwicklung.
Die Künstler begannen, ihr Werk als das Konstruieren einer Biographie zu sehen. Künstler zu sein, war Synonym für das Führen eines gewollten Lebens. Diese Biographisierungstendenz ist noch sehr stark spürbar, wenn auch hauptsächlich in den pittoresken Aspekten. Sie war eine prophetische Kraft: Du mußt dein Dasein ändern, mach was aus deiner Existenz, plane dein Leben.
Drittens gab und gibt es die Entwickler der Natur des Menschen. Sie dienten als Beispiele dafür, wie man seine eigene neurophysiologische Körperlichkeit in höchster Vollendung entfaltet und Lebendigkeit realisiert: Affektleben, Triebleben, Intellektualität, soul and body building. Daraus wurde dann die große Selbstverwirklichung:
Verwirklichung ohne Werk. Sie stand Ende der 70er Jahre überall in den Zeitungen, und man bekam darin Grundkurse angeboten in jedem Batik-Studio. Es kam nicht auf die Werke an, sondern auf die Exzessivität, auf die ekstatische Ausbeutung der eigenen Lebensbasis. Daraus hat sich der Massenaufbruch zur Kunst entwickelt.
In den achtziger Jahren wurde viertens eine Haltung typisch, die auch viele Vorläufer in den sechziger Jahren und der früheren Geschichte hatte:
Künstler als soziale Strategen, als akzeptable Form des Sozialarbeiters. Dieser Geltungsanspruch zahlte sich weder in der Biographisierung noch in der Zerstörung noch in der Vitalisierung aus, sondern in der Sinnstiftung. Die Religionen stifteten keinen Sinn mehr, Partyreligionen wie Bhagwan waren für Eschersheim oder Frankfurt nicht zu gebrauchen, also übertrug man die Sinnhaftigkeit des Tuns auf das Soziale. Kunst als soziale Strategie hieß, den Alltag mit einer durchgängigen Sinnhaftigkeit zu versehen.
Und was wird daraus in den Neunzigern?
Die Selbstentfaltung bietet im Bereich der Wissenschaften, im Kaufmännischen, in der Unterhaltungsbranche sehr viel größere Chancen. Allein die Ereignishaftigkeit ist dort schon höher, der Wechsel der Situationen und Erlebnisqualitäten.
Die Kunst vermittelt in den 90er Jahren nicht mehr die intensivsten Erlebnisse. Jeder Durchschnittsmensch übertrifft an Exaltiertheit jeden Bohémien. Da ist nichts mehr zu holen. Die großen Destrukteure werden lächerlich, denn angesichts der wirklichen Destruktion im Krieg ist das Meskalinschlucken eine private Albernheit. In der biographischen Planung des Werkes werden Künstler noch beispielhaft bleiben, aber sie werden sich zu fragen haben, ob ein Werk genügt und das sklavische Arbeiten für die Zukunft, wenn es keiner wahrnimmt, weil es zu viele gibt.
Wenn jeder Künstler ist, im banalen Sinn, ist es keiner mehr. Bleibt also die Kunst als soziale Strategie, und da liegt die Hauptchance: das Auffinden und Formulieren von Problemen und die veränderte Einstellung zu der rundum nur noch aus Problemen bestehenden Welt. Überall wird immanent die Nähe zum künstlerischen Arbeiten immer größer, der PC hat sich in den Haushalt eingebracht, die Arbeit mit Bildgenerierungen, Paintbox und so weiter, ist heute 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung vertraut. Sie haben ein Spektrum der Möglichkeiten, das früher Künstler gar nicht hatten. Inzwischen befindet sich jeder normale Naturwissenschaftler auf dem Bildreflexionsniveau, das durchgängig die Spitzen der Kunstelite ausgemacht hat. Dann wird das wissenschaftliche wie das alltagskommunizierende Leben tatsächlich Kunst sein.
Dann wären alle Künstler.
Also latente Barbaren.
Ich bin nicht durchgekommen mit dem Argument, Kunst als Paradebeispiel für das Leben unter Problematisierungsdruck zu sehen, nicht als Übertritt vom Falschen zum Richtigen, sondern als Befähigung zum Aushalten von Problemstellungen. Ich bin nicht durchgekommen mit der Forderung nach Kunst diesseits des Ernstfalls. Wie dringlich das aber ist, werden die Leute am Jugoslawien-Krieg vielleicht gemerkt haben.
Sie haben sich als „Beweger“ verstanden, jetzt predigen Sie „Unterlassungsstrategien“. Welche Techniken benutzen Sie, um Ihre eigene Wirkungslosigkeit zu garantieren?
Das Daherreden ist meine Form, mich dagegen zu verwahren, mich unter irgendwelche Einsichten zwingen zu müssen.
Bazon heißt ja nichts anderes als der Schwätzer, und Max Thiessen hat mir in Kiel beigebracht, daß bazonai einen Protest gegen den Philosophentiefsinn darstellt:
Schwatzen als die einzige Form, in der es noch zulässig ist, tiefe Probleme anzuschneiden. Ich lehne es ab, in irgendeiner anderen Form über das Wichtige zu reden. Denn dann würde ich eine Empfehlung ausgeben, nach der sich die zu richten haben, die das für wahr halten, was ich sage. Ich kritisiere ja gerade die Wahrheit.
Philosophie ist außerhalb der Kritik der Wahrheit völlig sinnlos. Das kann man gleich den Theologen überlassen. Wer nicht schwatzen, sondern die Wahrheit sagen will, steckt schon mitten im Totalitarismus.
Kann ein Selbstfesselungskünstler noch ein „Beweger“ sein?
Wir hatten damals, 1957, versucht, das amerikanische Wort animator zu übersetzen. Damals gab es den Begriff Animation im touristischen Sinne noch nicht. Demzufolge war der Beweger jemand, der sich selbst in Gang setzt, und dabei ist es auch geblieben. Damit sind dann auch so schwierige Aspekte verbunden wie Selbstmitleid, der generelle deutsche Zug, Selbstüberhebung, Selbsttranszendierung. Als dann Figuren wie HA Schult anfingen, sich Beweger zu nennen, habe ich die Hände davon gelassen. Das Wichtige war für mich, nicht etwas zu verstehen, sondern etwas zu tun, was man seinerseits wieder verstehen mußte. Das Selbertun ist keine Garantie dafür, etwas besser zu verstehen als Leute, die von außen kommen. Die Künstler gaben sich damit zufrieden, etwas zu „tun“. Sie verzichteten lauthals auf die Konfrontation mit ihrem eigenen Werk als Zumutung an das Nichtverstehbare, Irreversible, nicht Kommunizierbare. Die Beweger-Vorstellung lief darauf hinaus, sich zum Gegenstand der eigenen Betrachtung machen zu können.
Seine eigenen Handlungen als lehrreiches Beispiel ausstellen, ist doch nicht weniger messianisch. Etwas anderes hat Jesus auch nicht gemacht.
Das kann man so sagen, aber er hat immer gesagt: Mein Vater. Er hat sich immer darauf bezogen, daß er Gesandter war. Das fällt für uns weg. Beispielhaft ohne Legitimation durch die Prophetie und die göttliche Offenbarung.
Dann eben ein selbsternannter Messias.
Sobald ich mich darauf berufe, daß ich etwas sage, nicht als Medium einer fremden Macht oder geoffenbarten Wissens, kann ich die Verantwortung an niemanden mehr delegieren. Das ist die entscheidende Form der Aufklärung, nicht die Welt zu erklären oder ein Weltbild zu ersetzen oder eine Falschheit durch eine vermeintliche Wahrheit, sondern Verantwortung zu übernehmen. Das Mirakel besteht gerade darin, daß unsere normalen Selbst- und Weltbezüge, also Kommunikation, alles das von sich aus produzieren, was wir pathetisch für Offenbarung oder Mysterien halten. Die hundsnormale Alltagsoperation produziert das. Das Mirakel ist, daß der Sprache der Anschluß aller in sich geschlossenen Monaden, aller autopoetischen Systeme oder aller Hirne an die Kommunikation gelingt. Aber nicht durch Verstehen im Sinne des simplen Abgleichs von Inhalten, sondern bestenfalls als Verständigung. Und
in dem Maße, in dem Bewußtsein vergegenständlicht wird in Sprache, entstehen alle Probleme, die es für Menschen auf der Welt gibt. Das Bewußtsein ist ja das, was die neurophysiologische Maschine produziert. Aber die Art, wie dieses Bewußtsein an die Kommunikation angeschlossen wird, verändert sich permanent durch die Erfindung von Medien.
Sie haben sich als „Generalisten“ definiert. Ist nicht auch dieser Anspruch, für alles zuständig zu sein, totalitär?
Generalist sein heißt bestenfalls, alles zu lieben, aber nicht, über alles Bescheid zu wissen. Dadurch, daß Sie Individuum sind, sind Sie generalisiert. Spezialist sein heißt, etwas so zu machen, wie andere es auch tun. Jemand, der generalistisch arbeitet, ist jemand, der von der Position des Einzelnen gegenüber irgendwelchen Phänomenen operiert. Wenn einer das relativ offen macht, kommt dabei heraus, daß ihm die ganze Welt in extremer Weise problematisch, also interessant erscheint. Weil er überall damit konfrontiert wird, daß seine eigene Hirnkapazität nur seine ist und die anderen Hirne ihm nichts nützen.
Wie anstrengend ist Selbstfesselung für Sie? Wie groß ist Ihre Versuchung, Wahrheiten zu produzieren?
Die ist ziemlich groß. Denn das Belastende an der Selbstfesselung ist die Ohnmachtserfahrung. Ich kann mein Verhältnis zur Welt nicht umgehen, sonst bin ich tot. Ich muß mich auf die Welt ausrichten, und wenn ich das tue, ohne je ein Echo, einen Fingerzeig, eine Reaktion, eine Kontrollmöglichkeit zu haben, gerate ich natürlich in Gefahr, mich zu verrennen und im Irrenhaus zu landen. Die Schwierigkeit besteht darin, mit relativ wenig Echolotung arbeiten zu müssen. Es wird ja nicht diskutiert. So gab es zur Re-Dekade nur eine einzige Rezension, von der man sagen kann, daß der Rezensent das Buch auch gelesen hat. Da wird man dann doch etwas pampig und sagt sich: Wenn sie meine Aussagen in dieser Form nicht akzeptieren wollen, dann muß ich offenbar doch als Zirkusdirektor auftreten, um wenigstens durch die Polarisierung ein Echo zu bekommen. Dabei bin ich überhaupt nicht auf Aggression ausgerichtet. Aber während andere eine auratische, charismatische Ausstrahlung haben, wirkt bei mir das sogenannte Adlerprofil. Wie die Hühner zusammenschrecken, wenn sie am Himmel eine bestimmte Silhouette sehen, gibt es das auch in der menschlichen Kommunikation. Selbst wenn ich mich ganz freundlich gebe, wie es meine Natur ist, stehe ich am Ende auch dann allein, wenn ich es gar nicht bin. Ein bißchen Zustimmung muß man ab und zu schon mal haben. Die gibt es aber nicht.
Erhöht das die Versuchung, ein Gott zu werden?
Nach Theweleit ist das die beste Disposition, nun doch noch zum Maschinengewehr zu greifen oder den eigenen Staat zu gründen. Obwohl ich das Argument nicht ganz verstehe – Gottfried Benn hat nun weiß Gott alle Aufmerksamkeit gehabt, die ein Mensch haben konnte. Und so sehr Herr Pound klagte, daß die englischen Kollegen ihn nicht mehr als Herdenführer akzeptierten und er das Gefühl hatte, Eliot würde sich nicht ein zweites Mal von ihm in seinem Waste Land herumschmieren lassen, wurde ihm Aufmerksamkeit zuteil, und das gilt für Hamsun erst recht. Und Herr Céline wurde weltweit gelesen, selbst von Trotzki. Es ist nicht nur Selbstmitleid und Verbrechen aus verlorener Ehre und Rache für entgangene Mutterliebe. Das reicht einfach nicht. Ich meine, es ist die Kapitulation vor der Wahrheit. Daß die Welt nicht zu verändern ist. Daß Menschen gewalttätig und machtgeil sind und daß deswegen auch Herr Benn und Herr Heidegger mal Macht ausüben wollten.
Und Bazon Brock?
Bei mir wird das sicherlich auch nicht anders sein, daß ich doch in der Gefahr bin, eines Tages vor der Wahrheit zu kapitulieren.
Realität ist offenbar das, was uns der Journalismus jeden Tag vorführt. Dann werde ich eben auch Journalist. Die ästhetische Macht, die Einflußmacht, die Wirkmacht ist auf den Journalismus übergegangen.
Wollen Sie denn die Macht?
Das ist die Frage: Wenn das Verlangen nach Anerkennung, nach Geltung oder nach der Kriminalität unsere ganze Wahrheit ist, ohne die Menschen sozial nicht existieren können, wird man auch selbst gezwungen sein, auf so etwas hie und da zurückzufallen.
Was wäre für Sie ein Beweis dieser Annahme?
Der Beweis liegt darin, daß der Wahn die gleiche Macht über die Menschen hat wie die Wahrheit.
Trotzdem wollen Sie die Wahrheit kritisieren.
Das muß man. Sonst ist man zum Verbrecher geboren, zum prophetischen Kämpfer, zum Machtmenschen, der sich durchsetzt und alles niedermäht, was sich ihm in den Weg stellt.
Wahrheit als Sonderform des Wahns.
Ja.