Zufällig lagen auf der Biennale in Venedig 1976 die Ausstellungsräume Renato Guttusos und Jörg Immendorffs unmittelbar nebeneinander. Der Starmaler der italienischen KP demonstrierte durch seine Malereien unbeirrt kraftvoll den Anspruch des Künstlers, mit seinem Werkschaffen in soziale und politische Diskussionen einzuwirken – ein Engagement, das der damals 31-jährige Immendorff zwar teilte, aber für einigermaßen unzeitgemäß naiv hielt. „So nicht“, so geht das nicht mehr, ließ er den berühmten Kollegen Guttuso wissen.
Immendorff hatte in den Jahren 1965-75 als Schüler des Bühnenbildmalers Teo Otto, als Student in der Klasse von Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie und vor allem als Zeitgenosse der ‘68er Generation, der studentischen Aktivisten gegen den Vietnamkrieg, die Konsumorgien der westlichen Wohlstandsgesellschaften und gegen die ökologische Verwüstung vorgeführt bekommen, daß man andere Aktionsformen entwickeln müsse, um als Künstler überhaupt noch bemerkt zu werden. In vielen phantasiereichen Aktionen in der Kunstakademie, in Galerien, auf Straßen und Plätzen hatte Immendorff sein Potential erprobt. Er versuchte, den studentischen Appellen an die Künstler Ausdruck zu geben, sie sollten „aufhören zu malen“ (aber wie kann man ein Künstler sein, wenn man nicht malt, komponiert und Poeme schreibt?). Die studentischen Aktivisten forderten, daß sich die Künstler statt dessen um die Entwicklung neuer sozialer Lebensformen bemühen sollten (was Immendorff mit seinem Pappkartonzirkus Lidl – Stadt anbot). Dem Appell zur direkten Aktion anstelle langwieriger Diskussion genügte Immendorff, indem er Joseph Beuys und ähnliche Zeitgenossen (auch den Verfasser dieses Artikels) zum Boxkampf herausforderte. Immendorffs Fazit: der Anspruch des Künstlers, politischen Auseinandersetzungen kulturellen Adel zu verleihen, indem er sie in Werke hohen Kunstanspruchs verwandelte, war nicht mehr haltbar (Picassos Guernica hatte Maßstäbe gesetzt, die in veränderten Zeiten niemand mehr erfüllen konnte). Außerdem waren die studentischen Aktivisten mit ihren Kommunikationsformen, ihrer Aktionschoreografie und ihren Sprachkästen viel einfallsreicher und wirksamer, als es ein Künstler zu sein vermochte.
Guttuso aber ließ sich durch derartige Einwände nicht beirren. Im Vergleich zu Picasso riskierte er, harmlos oder lächerlich zu wirken (daß er dieses Risiko unbeirrt auf sich nahm, machte ihn sympathisch).
Trotz Immendorffs Diktum gegen Guttuso „so nicht“, gab Guttusos Arbeit Immendorff den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung eines Bildtyps, mit dem er in die Kunstgeschichte der Bundesrepublik eingegangen ist: die Serie der Café-Deutschland-Bilder. Im Kanon der tatsächlich bedeutenden Leistungen deutscher bildender Künstler seit Mitte der 60er Jahre steht diese Werkserie Immendorffs unbestritten neben zentralen Werkkomplexen seiner Freunde Baselitz, Lüpertz und Penck, sowie denen von Richter, Polke und Kiefer.
1976 schuf Guttuso sein berühmtes Gemälde Caffè Greco (Öl auf Leinwand, 282 x 333 cm, das heute dem Museum Ludwig, Köln gehört. Immendorff sah dieses Gemälde in Venedig ‘76 nur als Photo; 1977 begegnete Immendorff dem Original dann in einer Kölner Ausstellung). Das Caffè Greco, in dem schon Casanova seine Schokolade trank, in dem die deutschen Klassizisten und die englischen Romantiker, Buffalo Bill und de Chirico ihre Freunde zu einer hora frenetica, zur Begeisterungsgemeinschaft riefen, stellt Guttuso als einen virtuellen historischen Ereignisort dar, an dem sich um den Großmeister de Chirico die historischen Gäste und Gestalten aus de Chiricos Werken unter die typische Laufkundschaft der ‘70er Jahre (japanische Touristen, Pop Art Groupies, Politiker und Journalisten) mischen. Das Café-Haus als halböffentlicher Ereignisort hat neben dem Salon, dem Atelier und dem Ausstellungsraum eine wichtige Rolle in der europäischen Kulturgeschichte gespielt als Orte, in denen sich „Öffentlichkeit“ bildete, eine Sphäre des Gemeinschaftslebens, in der das Gespräch der Freunde, der Partner und der Fremden die Themen herausarbeitete, die von öffentlichem Interesse waren.
Immendorff hatte mit seinen Künstlerfreunden, mit Akademielehrern, Sammlern, Galeristen, Kuratoren, Kunstjournalisten, in der Düsseldorfer Kneipe Ratinger Hof jahrelang zusammengesessen. Durch Guttusos Caffè Greco wurde ihm schlagartig die historische und aktuelle Rolle dieses Raumtypus klar, und er entwickelte seinen konzeptuellen Raum des Café Deutschland als Ereignisbühne, auf der sich alle Gestalten des Zeitdiskurses, alle Kulissen authentischen Geschehens, alle Zeichen der Zeit versammeln ließen. Auf dieser Bühne ließ sich durchspielen, was in der politischen und sozialen Realität kaum möglich war: z.B. eine Auseinandersetzung zwischen den damals noch durch den Eisernen Vorhang und die Berliner Mauer getrennten Ost- und Westwelten, bei denen der Blick zugleich von beiden Seiten des Geschehens reflektiert werden konnte.
„Hallo Guttoso“, signalisierte Immendorff, „so also geht es doch!“
1976 hatte sich Immendorff in Ostberlin mit A. R. Penck getroffen – natürlich in Kneipen –, um mit diesem wichtigsten Repräsentanten der Avantgardekünstler, die nicht aus Ostdeutschland emigriert waren, ein gemeinsames Arbeitsprojekt zu starten; damals wurden solche Kooperationen (nach der politisch brisanten Ausweisung des Dichters Biermann aus Ostdeutschland) systematisch verhindert. Mit dem konzeptuellen Raum Café Deutschland schuf Immendorff den Ereignisort für das gemeinsame Projekt, die Mauer zu durchdringen.
Der Ereignisort wurde als Bühne des großen Zeittheaters, in Anspielung auf das europäische teatro mundi: als Weltbühne mit einem festen Repertoire von Bildzeichen definiert. Diese von Immendorff entwickelte Ikonographie ist heute im Bewußtsein sehr vieler kunstinteressierter Deutscher fest verankert. Ihre einzelnen bildsprachlichen Topoi umfassen
- den/die Adler als nationale heraldische Zeichen;
- die Eisscholle als Vergegenwärtigung des Lebens im sehr kalten Krieg und der seit 1815 immer wieder scheiternden Hoffnung der Deutschen, die C.D. Friedrich schon 1810 malte;
- die Naht als Zeichen der Wunden am sozialen Körper der Deutschen;
- die Systemklemme (eine Art Schraubstock) als Repräsentation politischer Gewalt;
- den Futurologen mit seinen Propagandatrommelschlägeln und als Pencksches Instrumentarium, die Erinnerung an die Zukunft wachzuhalten;
- das Brandenburger Tor in Gestaltanalogie zu einem Schlagzeugensemble;
- die Raumbeleuchtung als kosmische Sonne;
- den Heuler als Repräsentanten des politischen Mitläufers u.v.a.m.
Die Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit aller dieser ikonographischen Topoi wird an zwei Polen festgemacht: die zwei Seelen in der Brust der Deutschen, die zwei Seiten ein und derselben Medaille, die zwei Hälften des gebrochenen Herzens, die ein Symbol ausmachen: Symbole sind Bruchstücke eines Zeichens, das zerbrochen wurde, damit sich Fremde als Freunde erkennen, sobald die vielen Bruchstücke in ihren Händen nahtlos wieder zu einer Einheit zusammengefügt werden können.
In seinem Gedicht zu Immendorffs Brandenburger Tor hat A.R. Penck die beiden Pole benannt und in ihrer Unvereinbarkeit gekennzeichnet, d.h. zugleich, daß wir die Realität des Politischen und Sozialen, des Leidens (als Empathie) und des schöpferischen Produzierens (als Pathos) doch nicht symbolisieren können:
„man kann nicht gleichzeitig durch Stärke siegen und durch Leid erlöst werden.“
Immer wieder haben Deutsche als Künstler und Feldherren, als Unternehmer und Lehrer, als Führer und Geführte versucht, diese Unmöglichkeit dennoch zu erzwingen. Dafür gab Richard Wagner theatralische Anleitungen mit seiner Forderung nach der Erlösung der Erlöser. Heute neigen viele alternativ denkende Zeitgenossen eher einem anderen Programm zu: man muß sich zum Opfer machen, um Stärke zu beweisen, die Kraft der Ohnmacht ist unüberwindbar.
Solche Formulierungen hatte Immendorff bei den Maoisten kennengelernt. Soweit die deutsche Sehnsucht nach dem Unmöglichen, zugleich durch Stärke zu siegen und durch Leid erlöst zu werden, heute auch außerhalb Deutschlands fasziniert, weitet sich das Café Deutschland tatsächlich zur Weltbühne, auf der Tutzis und Hutus, Nord- und Südkorea, Ost- und Westtimor, die Völker Jugoslawiens und viele andere so agieren wie die Deutschen, die durch die Erfahrung des Scheiterns hoffentlich ihre Lektion im Café Deutschland ein für allemal gelernt haben werden.
Zu Café Deutschland II (Öl auf Leinwand, 290 x 290 cm, 1978, Sammlung Grothe, Duisburg):
Im Bildvordergrund geschwungene Mauersegmente mit einem Tor, durch das eine Prozession von Adlern auf einen treuen Deutschen zumarschiert. Er sitzt im Schatten einer deutschen Herrenzimmerlampe, deren Schirm, ballonartig aufgeblasen, die deutschen Nationalfarben trägt. Aber das deutsche Herrenzimmerlicht verdunkelt die Szene, das Licht gefriert zu Schneeflocken, und das Zeichen gemütvoller Heimeligkeit markiert Deutschland als „Wintermärchen“. Hinter der mit Flaschenscherben und Stacheldraht gespickten Mauer gibt das Gemälde aus der Vogelperspektive den Blick auf das Café Deutschland frei. Im Mittelpunkt des Cafés sitzen sich A.R. Penck und Immendorff an einem Tisch gegenüber, auf dem eine zum Pfahl vereiste Kerze flackernd brennt, und über den ein Gewinde von Stacheldraht verläuft. Penck hält in der linken Hand den Malerpinsel; die rechte streckt er Immendorff zur römischen Handreichung entgegen. Rechts im Café-Raum ein Schwarm deutscher Adler in grimmig aggressiver Attitüde respektive in der schweigsamen Aufmerksamkeit einer Volksmasse, die sich durch das Medium Zeitung verbirgt und zugleich die Zeitung als Sichtblende eines Spions nutzt.
An anderen Tischen im Raum vier weitere hinter durchbrochenen Zeitungen sitzende Spione sowie ein versonnen deklamierender Besucher.
1978, als Penck und Immendorff ihr Kooperationsprojekt begannen, fühlten sie sich in den Cafés jenseits der Berliner Mauer von mißtrauischen Staatsrepräsentanten beäugt. Zwischen den gemütvollen Westdeutschen im vaterländischen Herrenglanz und den Ostdeutschen passierten Staatsfunktionäre von West nach Ost. Sie kamen sehr gut miteinander aus, spendierten sich Kredite und Stillhalteabkommen und konnten sich aufeinander verlassen, gerade weil sie sich auf beiden Seiten als die gleichen Prätendenten auf hoheitvolle Macht erkannten.
Das Gemälde Painter as canvas (Öl auf Leinwand, 300 x 400 cm, 1991, Sammlung Grothe, Duisburg) ist als Bild im Bilde aufgebaut. Der Betrachter schaut in ein Atelier, in dessen Boden eine Vertiefung eingelassen ist. In ihr sitzen fünf Gestalten, die man als die Immendorff-Kollegen Baselitz (brotschmierend), Beuys (zigaretterauchend), Lüpertz (supperührend) sowie Max Ernst und schließlich Immendorff selbst identifizieren kann. Der Dadamax tätowiert Immendorff mit ziemlicher Gewalt die Kennung „Deutscher Scheißer“ ins Gesicht. In die Bodenvertiefung kippt ein adlergestaltiger Heros der Deutschen den Müll der Geschichte, in dessen Materialien Bilder der deutschen Geschichte geprägt sind (deutlicher Hinweis auf Robert Blum und sein Schicksal als Führer der 48er Revolution): Immendorff hält in seiner rechten Hand ein straff gespanntes Seil (den roten Henkersstrick des Schicksals), dessen anderes Ende einen Monolith, ein blaues Weltenei im Gralsformat über dem Haupte von Beuys umschlingt. In der romantischen Bläue des Steins werden Szenen paradiesischen Lebens in freier Natur sichtbar.
Von der Decke des Ateliers hängt, die Fallgrube vom rückwärtigen Raum abtrennend, eine an den Seiten noch eingerollte Leinwand, auf der Immendorff eine der vielen Versionen seines Generaltopos Café Deutschland gemalt hat: in auffällig gelben, lichtvollen Konturen wird Volk bei der Speisung der Kunstgläubigen geschildert.
An der rechten Seite des noch sichtbaren Atelierraumes agiert – wie gesagt – der adlergestaltige deutsche Nationalcharakter, assistiert von Wotans Raben zwischen Kadavermanna; im seitlich linken Atelierraum posiert ein Paar, das wohl gleich am eigenen Leibe jenen Exhibitionismus manifestieren wird, dem der Maler mit seinen Bildergießungen frönt: eine Leiberfahrung des Künstlers als Folie, in die sich Geschichte einschreibt.
Das Gemälde Rühmen – Söhne der Sonne (Öl auf Leinwand, 280 x 280 cm, 1990, Sammlung Grothe, Duisburg) zeigt in einem stark fluchtenden Raum ohne Wandbegrenzung vier Künstler, die an einem quadratischen Holztisch auf kissenbewehrten Holzhockern sitzen:
- Joseph Beuys traktiert mit der Schere ein gepünkteltes Papier; er blickt über seine linke Schulter auf ein Huhn, das kopflos aus dem Raum stelzt;
- mit stark exotischen Zügen und nacktem Oberkörper, dem Betrachter en face zugewendet, der Maler Francis Picabia, der in seiner rechten Hand ein Blatt mit einem Frauentorso anzündet;
- im Bildvordergrund schaut Marcel Duchamp über seine rechte Schulter dem Betrachter entgegen, vor sich ein Blatt, auf dem er offensichtlich gerade gelangweilt herumfuhrwerkt;
- Beuys gegenüber wohlgescheitelt und -gekleidet die gepflegte Erscheinung de Chiricos, der mit beiden Händen eines seiner Bildwerke aus den 10er Jahren emporhält: metaphysische Kekse in Nachbarschaft antiker Marmorsäulen. Einer der Kekse hat sich schon aus dem Bilde gestohlen. Auf seiner Oberfläche erscheint eine zarte Affensilhouette, Sinnbild philosophischer Weisheit – also ein Leibnizkeks?
Auf dem grünen Holztisch, um den die Künstler versammelt sind, stehen eine Vase mit herrlichen Frühsommerblumen und zwei Fruchtschalen, ferner liegen dort auf einem Stück bemalten Papiers Tomaten und keimende Kartoffeln. Duchamp, Beuys und Picabia werfen deutliche Schatten auf den Boden, der allerdings stark transparent wirkt. Durch den Boden hindurch vermutet man eine Lichtquelle – ein himmlisches Leuchten? So will es erscheinen, als säßen die vier toten Kunstheroen in himmlischen Sphären, wo sie wie spielende Kinder endlos fortsetzen, was ihnen im Leben harte Arbeit war. Sie repräsentieren Künstlertypen, Weltanschauungen, Arbeitshaltungen, die sich im 20. Jahrhundert wechselseitig auszuschließen schienen: der bürgerliche Herr Künstler, der schamanische Guru, der Künstlerdenker und Wissenschaftskünstler und der sinnliche Bohème, das Malschwein, der Exhibitionist. Sie wurden zu Söhnen der Sonne; wir rühmen sie als Gestirne unseres Himmels der Ideen.
Das Gemälde Ansprache (Öl auf Leinwand, 270 x 180 cm, 1991, Sammlung Grothe, Bonn):
eröffnet den Blick in einen nicht weiter definierten Raum, in dem drei reale und zwei virtuelle Personen agieren. Im Bildvordergrund ein grüner Holztisch mit Notenblatt, auf dem Notenblatt Tomaten und eine amorphe Erdscholle, in deren Oberfläche erntende Bauern auf Kornfeldern sichtbar werden. Eine weitere amorphe Erdscholle liegt neben dem Tisch auf dem Dielenboden des Raumes. Diese Realitätsfladen bilden in der Ikonographie Immendorffs ein Äquivalent zu den Eisschollen des Kalten Krieges. Im Bildmittelgrund sitzt vor dem Tisch in inspirierter Versunkenheit der Maler Baselitz Violine spielend, auf seiner rechten Schulter ein weiterer Realitätsfladen. Über der Lehne des Sessels ist im nachtblauen Licht die Gestalt Joseph Beuys’ vor einem Restauranttisch mit Gedeck und brennender Kerze zu sehen. Im rechten Bildhintergrund, von der Sessellehne überschnitten, spricht der Immendorff-Galerist Michael Werner zwei Bildentwürfe an, die ihm sein Hauskünstler gerade zeigt. Auf der linken Seite des Bildhintergrundes derselbe Hauskünstler mit diabolischen Zügen; aus seinem linken stark ausgeleuchteten, aber geschlossenen Auge quillt in Tränenform ein vierter Realitätsfladen, in dessen korngelbem Gefüge weitere Szenen des mühevollen Arbeitslebens erkennbar sind. Dem Körper des verdunkelten Künstlers ist die transparente Silhouette der äffischen Weisheit aufgeblendet.
Das Gemälde Der Bildhauer im Maler ist sein bester Feind (Nr. 3) bietet Einsicht in Immendorffs Atelier. Im Vordergrund wird der Betrachterblick mit einer Skulptur konfrontiert. Zu identifizieren sind vier hockende, kauernde Gestalten – eine im Seitenprofil, zwei in Rückenansicht, eine en face. Aus der dichtgedrängten Gruppe ragt ein weiblicher Akt auf – upside down. Deutlich wird die Gruppe als Bildhauerwerk in Holz wiedergegeben, denn die abgeschlagenen Splitter sind um die Gruppe auf dem Boden der Werkstatt zu sehen. Im rechten Bildhintergrund ein kraftvoll devastierter Tisch mit Malerutensilien. Den Horizont des Ateliers bildet eine Reihe von Stelen, auf denen skulpturale Logos des Immendorff’schen Bilderkosmos stehen. Die Stelenreihe überblendet eine Inschrift mit dem Titel des Gemäldes in zartem Wangenrosa, dessen Abglanz das gesamte Atelier durchstrahlt, wodurch sich die Grau-in-Grau-Farbigkeit des Bildes gespenstisch belebt.
Die im Gemälde dargestellte Skulptur hat Immendorff tatsächlich in Holz ausgeführt (Ohne Titel, 1986). Sie hat die Anmutung eines Osterinseltotems als Denkmal für jenen Künstlerbund, den seit Jahrzehnten die Künstler Penck, Immendorff, Baselitz und Lüpertz um ihren Handelsvertreter Michael Werner bilden. Der Galerist hockt buchstäblich auf einem Vertragskodex, von dem einzelne Worte zu lesen sind: „Rechnung/Richtung/Richtige und wer wen up and down bewegt“. Der Merkur Werner umfaßt mit ausgebreitetem Arm einerseits den Genius der Widerspiegelungskünste, den Protomenschen, und wehrt andererseits Lüpertz, der einige seiner Werke auslobt, ab. Penck hat sich versteinert nach außen gedreht, dem Anflug göttlicher und sozialer Kälte ausgesetzt. Baselitz meditiert in souveräner Innerlichkeit über sein Zentralmotiv des Upside-down (den kopfstehenden Akt); Immendorff, vom Sternentattoo der Himmelsbläue überzogen, werkelt beflissen.
Bemalte Skulptur und malerische Darstellung der Skulptur verweisen auf grundlegende Konflikte im Denken bildender Künstler: Allansichtigkeit gegen Frontalsicht; Farbe als Eigenschaft von Körper versus Körperlichkeit der Farbe; Plastizität gegen Flächigkeit, imaginierte Tiefensicht gegen reale Materialpräsenz; Widerständigkeit der Objekte gegen beliebige Manipulierbarkeit der Vorstellung und schließlich die Herausforderung in der ständigen Entscheidung, durch Hinzufügen oder durch Wegnehmen zu gestalten. Diese Konflikte sind nicht zu lösen, sondern darzustellen. Bezogen auf die Ikonographie der Skulptur heißt das: Künstlers Kampfbund bilden verwandte Seelen, gerade weil sie sich sonst als wilde Konkurrenz wechselseitig erledigen würden.