Eines frappierte alle Besucher im Wörlitzer Gartenreich: die Sicherheit, mit der es dem Fürsten Franz gelang, die vorherrschenden Tendenzen des 18. Jahrhunderts programmatisch so zu verdichten, daß ein Weltbildbau entstand.
Skeptiker mögen meinen, Franz sei gar nicht von einem vorgefaßten Plan ausgegangen (bestenfalls von einer Vision), sondern habe pragmatisch ein Konzeptpuzzle betrieben, indem er sukzessive zusammenfügte, was ihm jeweils gerade durch eigene Reiseanschauungen, durch Berichte der Freunde und die zeitgenössischen Künste zufiel. Und in der Tat ist ja bis heute nicht geklärt, ob Franz mehr oder weniger intuitiv seine Wahl für einzelne Topoi des Gartenreichs traf oder von vornherein einer ausgearbeiteten Konzeption folgte.
Gegen die Annahme, Wörlitz sei „nur“ eine Collage, gar eine eklektizistische aus der Vorstellungswelt seines Jahrhunderts, spricht die Tatsache, daß Franz nicht ein museales Memorial und auch nicht in erster Linie eine pädagogische Provinz realisiert hat, sondern zeitgenössische Formen einer ländlichen Lebensgemeinschaft entwickelte, die mustergültig sein sollten und insofern ein Modell werden konnten.
Viel enger als in den englischen Vorbildern wurden in Wörlitz aristokratisches Memorial der Geschichte und bürgerliche Seelenlandschaft mit den sozialen Fortschrittsvorstellungen der praktischen Philosophen Frankreichs verknüpft mit dem Ziel, so die Lebensanstrengungen einer menschlichen Gemeinschaft zukunftsorientiert zu optimieren.
Bei aller gebotenen Zurückhaltung läßt sich doch gerade mit Blick auf die Feststellungen seiner Zeitgenossen sagen, daß es Franz nicht um aristokratische Lebensformen ging. Geschichte und mythisch-literarische Vorstellungswelt beschworen nicht ein bilderbuchhaftes Arkadien mit den Mitteln der Gartenbaukunst, sondern begründeten die Aussicht, zeitgemäß und zukunftsoffen das Gartenreich als weltliche Heimat einer Produktions- und Lebensgemeinschaft zu bestellen.
Natürlich hatten solche Vorstellungen ihre Vorläufer, die in der Literatur des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt bei Rousseau in der Absicht verlebendigt wurden, endlich wieder diese Sehnsucht nach einem befriedeten Dasein zu erfüllen, und zwar für das Volk und nicht nur für einen seiner Stände. Die Ikonographie der zahlreichen Rousseau-Memoriale belegt das. Den Epitaph Rousseaus umsäumen auf einer Insel Pappeln, französisch peupliers, deren lautliche Nähe zu le peuple aus den Pappeln das Volk werden läßt; das Volk seiner Leser, das Volk derer, die seinen Vorstellungen zu folgen versprechen. In diesen Pappeln sahen sich auch Franz und die Bewohner seines Gartenreichs repräsentiert, wie auf einer Insel im Zeitenstrom oder vielmehr im Gedächtnisstrom der Geschichte.
Aber anders als in der griechischen Mythologie tragen die Wörlitzer Nachen nicht unter Charons Ruder die Menschen unwiderruflich über den Strom des Vergessens ins Reich der Toten; in Wörlitz und anderen englischen Gärten wandelt sich der Styx, die fließende Grenze zur Totenwelt, in einen Fluß der Erinnerung, die den Passagier befähigt, aus der Geschichte ins Reich der Lebenden zurückzukehren.
Die Wörlitzer Gondelfahrten durch die geschichtliche und mythologische Erinnerung stimulierten zwar den Bezug auf Charons Nachen, also die Unumkehrbarkeit der Geschichte, aber nur, um desto freudiger zu betonen, daß diese Geschichte ja nicht vergangen war, sondern, als gegenwärtige Passagen in beide Richtungen ermöglicht, im Medium des Gedächtnisses, dem so viele Topoi, Wahrnehmungs- und Gestaltungseinheiten des Gartenreichs gewidmet sind. Die Kraft des Gedächtnisses der Lebenden, nicht das Gedächtnis der Toten wurde angesprochen, weshalb ein anderer großer Teil der Topoi den Werken gilt, die menschliche Geisteskraft damals zu schaffen fähig war. Wahrnehmung und Gedächtnis bilden die Kräfte des Geistes. Daß Wahrnehmung und Gedächtnis erfolgreich angeregt werden, manifestiert sich in den Schöpfungen des Geistes als Kultivierung der Natur (die agrikulturelle Basis des Gartenreichs) und als Zivilisierung der Menschen und ihrer Lebensformen in diesem Gartenreich.
Die produktive Verknüpfung von Wahrnehmung und Gedächtnis in kultureller und zivilisatorischer Schöpfung wird durch Lernen ermöglicht. Deswegen zeigen viele Topoi des Wörlitzer Gartenreichs, wie man erfolgreich lernt, sich kulturell und zivilisatorisch zu entwickeln. Daß die Wörlitzer Anlage in diesem Sinne ein Lern-Environment darstellt, belegt im einzelnen zum Beispiel die unmittelbare Nähe von technologisch avanciertem Brückenbau und der mühseligen Überwindung eines Gewässers durch eine Furt. Mit Blick auf das Lernen als entscheidende geistige Leistung, Wahrnehmung und Gedächtnis produktiv zu verknüpfen, ist Wörlitz auch eine pädagogische Provinz im goetheschen Sinn, da Franz nicht nur Lehranstalten aufbaute, sondern in der praktischen Alltagsarbeit die Möglichkeit zu lernen vorrangig betonte.
Zu den spezifischen Leistungen von Anlagen wie der von Wörlitz gehört es, die Arbeit des Gedächtnisses wahrnehmbar und die Wahrnehmung selber erinnerbar werden zu lassen. Von dieser Aufgabe werden die Vergegenständlichungsformen der Topoi bestimmt. Auf den archäologischen Feldern, deren man sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts unter Winckelmanns Vorgaben systematisch annahm, elaborierte man die Vergegenständlichungsform der Ruine, die für die englischen Gärten den Zusammenhang von Wahrnehmung und Gedächtnis so auffällig formuliert. Das Gedächtnis hat, das entspricht jedermanns Erfahrung, gleichsam ruinösen Charakter. Die Landschaften der Erinnerung sind bruchstückhaft, fragmentiert. Erst im Horizont aktueller Wahrnehmung schließen sich diese Trümmer des Gedächtnisses zusammen zu Vorstellungen dessen, was in keiner Erinnerung aufbewahrt ist, sondern nur neu geschaffen werden kann.
Deswegen sind künstliche Ruinen leistungsfähiger als natürliche, und deswegen sind die englischen Gärten nicht bloß disneylandhafte Simulationen des spätkaiserlichen Forum Romanum oder des hadrianischen Tivoli, der gotischen Klosterwelt und der Südseeparadiese. Sie sind Schöpfungen der Vorstellungskraft und nicht Rekonstruktionen am ruinierten historischen Ort oder mutwillige Simulationen im utopischen Ereignisort Museum oder in Pleasure-Domes.
Deswegen ist die Frage, ob Franz nur pragmatisch additiv das Gartenreich zusammenstückelte oder ein einheitliches Konzept realisierte, zweitrangig. Was uns frappiert, ist die Kraft der Vorstellung, die sich im Gartenreich manifestierte; und offensichtlich frappiert uns das, weil wir in unserem Jahrhundert die Manifestationen solcher Vorstellungskraft schmerzlich vermissen. Am Streit um die Berliner Gedenkstätte für den Holocaust wird dieser Mangel ebenso sichtbar wie in der Ratlosigkeit vor der Anforderung, für die Expo 2000 irgendein sinnfälliges Konzept zu erarbeiten. Die Misere der Städteplanung (auch dafür bietet Berlin ein sprechendes Beispiel) ist genauso durch derartigen Mangel an Vorstellungskraft ausgezeichnet wie die permanent geforderte Reform der Hochschulen. Was spräche gegen den Versuch, am Beispiel von Wörlitz sich zu orientieren, um unserer Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen? Offensichtlich meint man, man könne ein Modell des 18. Jahrhunderts nicht auf die Gegenwart übertragen. Stimmt das?
Sind wir nicht wie alle Menschen, zumindest seit historischen Zeiten, mit den gleichen Fähigkeiten zur Vermittlung von Wahrnehmung und Gedächtnis begabt? Leben nicht auch wir abhängig von der Möglichkeit zu lernen? Sind nicht auch wir gezwungen, die Kultivierung der Natur mit unserer Selbstkultivierung, also mit unserer Zivilisierung, in eine Balance zu bringen? Und trägt nicht auch uns die Vorstellung, die Welt zur Heimat befriedeten Daseins zu machen?
Ein deutscher Garten
1981 versuchte ich, in wochenlangen nachmittäglichen Begehungen zusammen mit Uli Giersch und François Burkhardt (dem damaligen Leiter des Internationalen Design-Zentrums Berlin), das Areal zwischen Landwehrkanal, Anhalter Bahnhof, Prinz-Albrecht-Palais und der Stresemannstraße als Vorstellungswelt zu erschließen. Für dieses Areal, ein wahrhaft englischer oder zum ersten Mal ein wahrhaft deutscher Garten, gab es keinen Fürsten Franz als Planer und Realisator – bestenfalls läßt sich Hitler als dämonischer Demiurg identifizieren, der geschichtliche Kräfte für ein Zerstörungswerk mobilisierte. Geplant hat er es jedenfalls nicht, dazu fehlte ihm und seinen Paladinen die Vorstellungskraft.
Diesen deutschen Garten, wie er bis Mitte der achtziger Jahre bestand, schuf erst die wahrnehmende Betrachtung und das Gedächtnis derer, die ihn betraten. Im öffentlichen Bewußtsein existierte das Areal als ein verwüstetes Niemandsland, an dem auch die Nachkriegsdeutschen die Logik der Zerstörung als Logik des Aufbauens demonstrierten. Herr Düttmann ließ noch lange nach dem Krieg kräftig Ruinen abräumen, um einen städtebaulichen Gestaltungsplan von wahrhaft Speerscher Anmaßung mit deutscher Radikalität in diesem deutschen Garten zu verwirklichen: eine Stadtautobahn. Hatte jedoch Speer noch Architekturen unter dem Gesichtspunkt errichten wollen, welche grandiosen Ruinen sie nach Jahrhunderten hinterlassen würden, so verwüsteten seine Nachfolger nochmals die Wüste: jene Wüste, in deren Sand das Zentrum Preußens gesetzt worden war. Abräumen als Aufräumen meint für die Deutschen wohl damals wie heute, den Blick in eine drohende Zukunft gegenstandslos werden zu lassen; wo keine Ruinen stehen, braucht man an die Zukunft nicht mehr zu denken.
Erst unter Rückbezug auf die englischen Gärten erschloß sich die Wüstenei zum désert des Allemands, zum deutschen Garten. Und erst mit Blick auf das Forum Romanum, das anschaulich gewordene Gedächtnis der römischen Antike, wurde das Areal zur Vorstellung eines Forum Germanum. Aber wie die Römer sich aus der Geschichte zu legitimieren versuchten, indem sie sich zu Abkömmlingen des trojanischen Königs Äneas stilisierten, und wie die deutschen Kaiser sich als Repräsentanten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation installierten, führt auch der deutsche Garten die historische Imagination wieder direkt nach Troja zurück, und wir werden in diesem Gelände zu Trojanern. Im Völkerkundemuseum Stresemannstraße Ecke Niederkirchnerstraße hatte Schliemann seinen Schatz des Priamos deponiert, um dafür auf Betreiben Professor Kochs wenigstens die Ehrenbürgerschaft von Berlin zu erhalten; Ehrendoktorhut oder eine Professur wollte man dem Wilderer der Altertumswissenschaften, dem Phantasten der historischen Imagination, denn doch nicht zugestehen. Aber die goldgeile Einholung des Schatzes erwies sich als Trojanisches Pferd für Preußen-Deutschland: denn Schliemann hatte mit seiner Methode, den homerischen Mythos wörtlich zu nehmen, genau jenes Verfahren als äußerst leistungsfähig erwiesen, dessen radikaler Anwendung Deutschland das Ende von ‘45 verdankt. In den Trümmern des Völkerkundemuseums verschwand Schliemanns Schatz wieder im Dunkel der geschichtlichen Unterwelt.
Die Trojaner waren nicht erst mit Schliemann nach Berlin gekommen. Im Zentrum des deutschen Gartens liegt der Askanische Platz. Den Namen erhielt er von den Askaniern, die mit Albrecht dem Bären an Havel und Spree zu kolonisieren begannen. Mit ihrem Namen wollten sie auf die anspruchsvolle, geschichtsträchtige Herkunft ihres Geschlechtes aus Troja verweisen, denn Askanius ist der latinisierte Name eines Sohnes von Äneas. Der Askanische Platz war also immer schon trojanisches Gelände.
Um die Authentizität zu erhalten, wie wir 1981 der Vorstellungskraft der Deutschen mit einem Lehrpfad Im Gehen Preußen verstehen der historischen Imagination nachhelfen wollten, zitiere ich aus meiner Zusammenfassung des Projekts:
Für geschichtliche Prozesse gilt, daß Ruinieren nicht nur als ein Zerstören, sondern gerade als Aufbauen in Erscheinung tritt. Der sogenannte Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ist dafür beredtes und inzwischen allgemein verständliches Zeugnis.
Immer noch und immer wieder werden in unserem neuen Troja Versuche gestartet, diesen deutschen Garten als ein Monument unseres Geschichtsverständnisses „aufzubauen“. Aber mit der Geschichte kann man nicht konkurrieren. Auch die genialsten Künstler und Baumeister sind nicht in der Lage, eine derart sprechende Metapher für den geschichtlichen Wandel zu erfinden, wie sie seit der Nachkriegszeit in unserem Troja der historischen Imagination bereits als Erdverwertung besteht. Dort wurden und werden die Trümmer des Gewesenen angehäuft, sortiert und umgewidmet. Eine der grandiosesten Umwidmungen dieser Erdverwertung hat dazu geführt, daß heute jeder Berlinbesucher, der per Flugzeug anreist, auf den Trümmern des Reichssicherheitshauptamtes und der Geheimen Staatspolizei, also auf den Ruinen und Fragmenten des Prinz-Albrecht-Palais und der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums landet. Man wollte aus verständlichen Gründen die Erinnerung an die nationalsozialistische Umwidmung eines preußischen Erbes möglichst radikal beseitigen. Als Unterfutter des Tegeler Flugplatzes haben die Trümmer nun für die historische Imagination eine größere Bedeutung als an ihrem ursprünglichen Ort.
Wohlgemerkt: Der historischen Imagination und dem trojanischen Blick erschließen sich dann eben nicht nur in unserem Gelände die Grundrisse der Kerkerzellen von Gestapo-Opfern. Die untersten Zellen lagen in ehemals von Bildhauern und anderen Künstlern genutzten Ateliers der Kunstgewerbeschule. Auch Hitler verstand sich in erster Linie als Künstler, der an lebendem Menschenmaterial seinen politischen Formungswillen zu verwirklichen versuchte. Daß in Gestapoverhören Menschen physisch und psychisch umgestaltet wurden, muß die historische Imagination ins Verhältnis zum künstlerischen Gestalten von Menschenbildern setzen, wie es auch in der Kunstgewerbeschule gelehrt und gelernt wurde.
In demselben Gebäudekomplex war die in ihrer Zeit leistungsfähigste Kartei installiert, mit deren Hilfe man die dort ebenfalls untergebrachte größte Kostümsammlung der Welt kulturgeschichtlich und sozialgeschichtlich bearbeitet hatte. Nach den Arbeitsprinzipien dieser Kartei legte die in das Gebäude einziehende Geheime Staatspolizei ihr eigenes Informationssystem an, dem sie nicht zuletzt ihre durchschlagenden Erfolge verdankte.
Wie anders als in historischer Imagination läßt sich ein zynischer Treppenwitz der Geschichte erkennen und aushalten, der darin zu sehen ist, daß ausgerechnet in diesem deutschen Garten über Jahrzehnte ein nicht unerheblicher Teil des Geländes für das Fahren ohne Führerschein genutzt wurde. Aber es besteht kein Zweifel, daß der Führer und seine Unterführer zumindest seit 1938 über vom deutschen Volke ausgestellte Führerscheine verfügten. Der Weg in die Katastrophe war nicht das Resultat unfähiger Lenker des historischen Prozesses. Sie hatten ihre Fahrziele und die von ihnen diktierten Verkehrsregeln in verbindlicher Form allen Deutschen zur Kenntnis gegeben. Und die Straßen, auf denen es ans bittere Ende ging, waren durch die deutsche Geschichte vorgezeichnet – so wie die ursprüngliche Lennésche Gartenanlage und die Reste der provisorischen Russengräber noch heute die Fahrwege für das Fahren ohne Führerschein vorzeichnen.
Derartige historische Imaginationen mögen manchmal überzogen wirken, fast ein wenig zu pointiert; in der Tat, die Wirkung der Imagination besteht gerade darin, die bloßen historischen Fakten auf den Punkt zu bringen, von dem aus sich der Umgang mit diesen Fakten als erhellend erweist. In aller Deutlichkeit demonstriert die wirklich leistungsfähige Karikatur dieses Verfahren.
Um die Jahrhundertwende veröffentlichte Karl Arnold im Simplicissimus eine achtteilige Bilderfolge Der Archäologe mit der Wünschelrute. Sie zeigt, wie ein Gelehrter frei nach Fontane die Wüste des märkischen Sandes durchwühlt, um auch aus ihr wie aus dem ägyptischen Wüstensand Nofreteten zu bergen und mit ihnen die Berliner Museen zu füllen. Erst die historische Imagination vermag irgendeinem überkommenen Objekt jene Bedeutungen zuzuordnen, die dieses Objekt zum sinnträchtigen Kulturgut erheben; und sinnträchtig ist, wie gesagt, der archäologische Blick gerade darin, die Gegenwart bereits wie eine Vergangenheit sehen zu können.
Th. Th. Heine schilderte ebenfalls im Simplicissimus von 1900 das Gelände unseres deutschen Gartens als einen „märkischen Sumpf“. Vom alten Schöneberger Hafen aus läßt Heine unseren Blick in Richtung auf den Anhalter Bahnhof gegen das Zentrum Berlins schweifen. Das Gelände ist unter Wasser gesetzt, aus dem nur noch die Kuppeln von Anhalter Bahnhof, Dom und Schloß sowie der Turm des „Roten Rathauses“ hervorragen. Im Bildvordergrund tummeln sich Frösche, die sich die Bilduntertitelung zuzusprechen scheinen: Wunderbar, was eine weise Regierung vermag! Vor 200 Jahren befand sich an dieser Stelle die märkische Sandwüste! Unsere historische Imagination erschließt diese Karikatur über das denkwürdige Faktum, daß in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges die SS die Tunnelwände der U-Bahnschächte in Höhe des Hafenbeckens sprengte, um durch diese Flutung die Russen am weiteren Vormarsch Richtung Prinz-Albrecht-Gelände/Reichssicherheitshauptamt zu hindern.
Heines Imagination ist weit mehr als eine bloße spekulative Vision. Sie kritisiert jegliches kulturschöpferische Fortschrittspathos (schon gar das regierungsamtliche) als eine Verschleierung der traurigen Tatsache, daß der Fortschritt zumeist in der Verwandlung von Wüsten in Sümpfe besteht.
Auf dieser Ebene sollten wir mit dem historischen Faktum umzugehen lernen, daß in unserem deutschen Garten zum Beispiel auf der Stresemannstraße nur während 95 Jahren, nämlich zwischen 1866 und 1961, keine Mauer verlief, wie wir sie heute als ein angeblich einmaliges Skandalon vor Augen geführt bekommen. Auch die alte Mauer entlang der Stresemannstraße erfüllte Zwecke wie die heutige Mauer: Sie sollte Menschen daran hindern, vor dem Zugriff militärischer und wirtschaftspolitischer Mächte zu fliehen. Auch damals war diese Mauer ein „Schandfleck“, wie aus alten Polizeiprotokollen hervorgeht. Der innerstädtische Weg entlang der Mauer, heute Todesstreifen genannt, hieß damals Potsdamer Kommunikation – welch sinnvolle Erhellung des stolzen Preußenerbes. Mauern vermitteln nun einmal zwischen Diesseits und Jenseits, und die historische Imagination ermöglicht uns die Kommunikation mit den Toten. Die Verunstaltungen der Mauer, über die jene Polizeiberichte lamentieren, dürften den heutigen entsprechen, auch wenn heute die diesseitigen Wände der Mauer als große Kommunikation für Sprayer und Spötter dienen.
Als 1866 die Mauer fiel, hatte Preußen gerade bei Königgrätz die Österreicher vernichtend geschlagen; also erhielt die neue mauerfreie Straße den Namen jenes vermeintlichen Triumphes. Als Preußen-Deutschland zum Ersten Weltkrieg mit Österreich einen bedingungslosen Bund der Nibelungentreue einging, wurde aus der Königgrätzer die Budapester Straße; die historische Imagination stellt uns jene Metropole des k.u.k.-Reiches als durch eine Wassermauer getrennte Einheit von Buda und Pest so vor Augen, wie das eine Berlin an der ehemaligen Budapester Straße heute in Ost und West geteilt wird.
Als die großdeutschen Waffenbrüder am Ende des Ersten Weltkrieges gemeinsam untergingen, wurde aus der Budapester die Stresemannstraße. Nachdem das Saarland Heim ins Reich votierte, sollte der den Nazis verhaßte Stresemann dem Vergessen überlassen werden: Die ihm gewidmete Straße wurde zum Teil in Saarland- und zum Teil in Hermann-Göring-Straße umbenannt.
Der preußische Ministerpräsident Hermann Göring sorgte an hervorragender Stelle dafür, daß das Saarland schon bald nicht mehr zum Reich gehörte. Das Dritte Reich wurde zum Betriebsunfall der deutschen Geschichte erklärt, und man entschloß sich, noch einmal einen neuen Ausgangspunkt in der Weimarer Republik zu wählen: Stresemann wurde wieder Namenspatron für den diesseitigen Teil der Grenze zum Jenseits der Mauer.
Wer die historische Imagination in diesem großartigsten aller deutschen Gärten erst einmal auf die Fahne der hier etwa 250jährigen Stadtgeschichte setzt, wird auf Schritt und Tritt fündig. Ich benötigte 1981 während der Preußen-Ausstellung tagtäglich vier Stunden, um den Mitläufern auf dem historischen Lehrpfad auch nur einige Dutzend Konstellationen dieses einmaligen Weltmodells zu eröffnen. Historische Karrieren von Gebäuden, Straßen, Arealen, wie ich sie eben skizzierte, lassen sich für jeden Punkt des Geländes erzählen; die Beständigkeit des Wechsels ist zugleich beruhigend und erregend. Nicht der Schlaf der Vernunft gebiert hier jene Ungeheuerlichkeiten, von denen wir die Historiker gern erzählen hören; die historische Imagination konfrontiert uns mit der Ungeheuerlichkeit der Vernunft, wo sie sich selbst als eine letzte Größe und Macht ins Werk zu setzen versucht.
Freilich überlistet sich diese ungeheuerliche Vernunft häufig selbst, und dann dürfen wir auch in diesem Gelände schallend, also befreiend lachen; zum Beispiel dann, wenn uns schlagartig klar wird, daß Axel Cäsar Springer sein Missionshaus des Westens so errichtete, daß er (wenigstens idealiter) in der Apsis der alten Jerusalemkirche residierte: Ihm, der von hier aus seine Wallfahrten nach Jerusalem antrat, erwuchs aus dem Grundriß der zerbombten Jerusalemkirche eine Vision des neuen Deutschland wie dem mittelalterlichen Menschen in seiner Kirche die Vision des Paradieses. Das Vierte Reich würde nach Springers Auffassung ein Himmelreich sein müssen.
Die sich selbst überlistende Vernunft überließ den Abtransport der bürgerlichen Scheiße durch das unterirdische Kanalisationssystem dem antiken Halbgott Herkules; die nach ihm benannten Kloakenpumpen beweisen, wozu man klassische Bildung brauchte: der Hauptmann von Köpenick wurde Gymnasialprofessor.
Ja, inzwischen dürfen wir auch schallend lachen angesichts jener ernsthaften Nachkriegsbemühungen des Senats, in dem Trümmerfeld dieses deutschen Gartens gleich wieder einen (allerdings atombombensicheren) Bunker zu bauen; denn schließlich war man ja bereit, aus der Geschichte zu lernen, also anzuerkennen, daß in unserem deutschen Garten nur die Bunker den Krieg unbeschadet überstanden hatten. Der Atombunker steht voll funktionstüchtig ausgerüstet schräg gegenüber der Portalruine des Anhalter Bahnhofs, aus dem nur noch die geisterhaften Gestalten der historischen Imagination herausströmen, um sich für endgültige Zeiten unter Beton begraben zu lassen.
Vorstellungskraft
Ist es nicht auffällig, daß mit dem englischen Garten und dem Forum Germanum in der eben skizzierten Vorstellung die bemühten und aufwendigen Versuche nicht konkurrieren können, nach dem Zweiten Weltkrieg in Weltausstellungen, Bundesgartenschauen, in Funparks und touristischen Erlebnislandschaften das kollektive Gedächtnis wahrnehmbar werden zu lassen und die Wahrnehmung zu erinnern? Das kann nicht an den eingesetzten Attraktionen liegen, Wahrnehmung zu stimulieren; denn diese Attraktionen waren und sind zu ihrer Zeit schlechthin unüberbietbar, und das sollen sie auch sein. Es fehlt ihnen nicht am gesamtkunstwerklichen Charakter, aber an Künstlern oder zumindest identifizierbaren Urhebern einer Vision respektive einer umfassenden Vorstellung.
Sobald derartige Schöpfer sichtbar werden, wie in den Land-Art-Projekten Walter de Marias oder Richard Longs, wird mit erheblich geringeren Mitteln, ohne gezielte Steigerung der Attraktivität, spürbar, was wir bei Franz von Anhalt-Dessau und den großen Zivilisatoren des 18. Jahrhunderts, ja eben noch bei den großen Zerstörern des 20., erfahren zu können glauben.
Ian Hamilton Finlay hat sich deshalb für seinen Park Little Sparta in der Nähe Edinburghs von vornherein dafür entschieden, den englischen Garten als Modell zu akzeptieren. Geht es also entscheidend um die Vorstellungskraft eines Künstlers?
Nun haben ja seit dem denkwürdigen Versuch der polnischen Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg, Künstler ein Denkmal für Auschwitz errichten zu lassen, Henry Moore oder Adorno darzustellen versucht, warum derartige Projekte scheitern müssen. Auch die bedeutendsten Künstler könnten mit Sinfonien und literarischen Meisterwerken, mit Skulpturen oder Architekturen der Aufgabe nicht gewachsen sein, dieses historische Ereignis Auschwitz zu verstehen, wenn es gerade darauf ankäme, dem Unfaßbaren, Unvorstellbaren in Auschwitz zu begegnen.
Auch Besucher heutiger Holocaust-Museen oder archäologischer Felder ehemaliger Konzentrationslager formulieren ihren wichtigsten Eindruck mit Hinweis auf die Unfaßbarkeit und Unvorstellbarkeit des Geschehens von Auschwitz. Es ist durchaus ehrenvoll, sich so zu äußern, denn diese Äußerung ist ja nicht abwertend, sondern als nachdrückliches Bekenntnis gemeint. Aber die Schlußfolgerung kann nicht lauten, daß die systematische Vernichtung von ethnischen Minderheiten, von Glaubensgemeinschaften, unvorstellbar sei – sie hat ja stattgefunden –, sondern gerade als Konsequenz der Durchsetzung abstrakter Ideen nach dem Schliemann-Verfahren zu verstehen ist.
Nicht die Unfaßlichkeit und Unvorstellbarkeit des Geschehens gilt es ehrenhaft zu bekunden, sondern gerade die Vorstellbarkeit und das Verstehen. Fürchtet man, die grausamen Ereignisse abzuwerten zu etwas, was das wahnhaft hypertrophierte menschliche Denken hervorzubringen vermag? Fürchtet man, die Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit der systematischen Ausrottung von Juden in der Aussicht zu verlieren, daß dergleichen wieder geschehen könnte, gerade weil es eine – wenn auch extremste – Konsequenz menschlicher Allmachtsphantasien bezeichnet? Fürchtet man, daß eine derartige Vorstellung zukünftiger Geschichte die historischen Ereignisse relativiert?
Solange wir uns auf eine derartige Vorstellung nicht einlassen wollen, bleiben alle Versuche vergeblich, Auschwitz erinnerbar werden zu lassen und in die wahrnehmende Betrachtung der gegebenen Welt aufzunehmen. Die behauptete Unvorstellbarkeit verhindert, daß solche Monumente sprechen wie der Warnungsaltar im Wörlitzer Park oder die trivialen, unverzichtbaren Warntafeln: „Den Toten zur Erinnerung – den Lebenden zur Mahnung“. Die vielen Projekte zum Ausgang des 20. Jahrhunderts (und des 2. Jahrtausends), Gedächtnistheater zu installieren, können nur dann auch nur annähernd gelingen, wenn sie den Anspruch auf die Vorstellbarkeit des angeblich Unvorstellbaren befördern und zur anschauenden Betrachtung bringen. Was wir eigentlich erinnern, sind nämlich unsere Vorstellungen von den historischen Ereignissen und nicht sie selbst. Das zu verstehen, ist die Aufgabe; wir lernen es nirgends so förderlich wie im Gartenreich des Franz von Anhalt-Dessau.