Kommentarbedürftiger Gehlen
Sein berühmtes oder doch wohl eher berüchtigtes Kapitel über die Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst beginnt Arnold Gehlen mit einem Verweis auf eine Romanfigur, die „gewissenhaft die Unsinnsfloskeln nachplappert, mit denen ihr Mann seine Suada so unvergleichlich zierte: taktile Valeurs, Rhythmus, signifikante Formen, Repoussoirs, kalligraphische Kontur – Eustace erkannte alle die stereotypen Phrasen der zeitgenössischen Kritik wieder“. Gehlen schlachtet diese Kennzeichnung von Romanfiguren weidlich aus. Seitenlang versammelt er ähnliche Suaden von Kritikern der modernen Kunst, um den zitierten Unsinnsfloskeln und stereotypen Phrasen Beweiskraft für seine Behauptung abzunötigen: „Wenn also mit dem Gegenstande notwendig zugleich der Begriff, das Wiedererkennbare und Benennbare aus dem Bilde vertrieben wird, dann siedelt er sich neben ihm an und erscheint dort als Begleittext; man sieht, weshalb mit der steigenden Verbreitung der abstrakten Kunst die Kommentarfrage allmählich einen prinzipiellen Charakter bekommt. Im allgemeinen sind alle Richtungen der modernen Malerei kommentarbedürftig, die Abstraktion am meisten, der Surrealismus am wenigsten, weil dessen verdichtete Symbolik recht unmittelbar in affektive Schichten des Unterbewußtseins hineinwirkt.“ (1)
Wie wären die Phrasen „taktile Valeurs, Rhythmus“ etc. zu gewichten, wenn sie nicht stereotyp verwendet würden? Entsteht gegen diese Begriffe nur ein Widerwillen, wenn sie gerade en vogue sind? Werden sie nur zu Phrasen im Sprachgebrauch derer, die diese Begriffe verwenden, ohne sie zu kennen – und umgekehrt, ist der Gebrauch dieser Begriffe bei denen gerechtfertigt, die sie kennen? Wenn ja, weswegen sollte man sich dann nicht auf den angemessenen Gebrauch dieser Begriffe einlassen?
Ob angemessener oder phrasenhafter, gar stereotyp phrasenhafter Gebrauch der Begriffe – sie sind allesamt Unsinnsfloskeln, meint Gehlen behaupten zu können, weil sie den modernen Bildern gegenüber ganz äußerlich blieben. Im Klartext (den Gehlen vor dem Hintergrund der Kampagne gegen die entartete Kunst nur ironisch umschreibt): die gegenstandslose Kunst provoziere solchen Unsinn, ja, sie ließe die Begriffe zu Unsinnsfloskeln werden, weil sie das Wiedererkennbare und Benennbare aus den Bildern vertrieben habe; von den wiedererkennbaren Sujets und den benennbaren Ausdrucksformen hänge aber die Begriffsbildung ab (in Gehlens Schreibweise wären die angemessenen Bildbegriffe sogar als mit dem Wiedererkennbaren identisch zu verstehen). Dieser folgenreiche Argumentationsansatz von Gehlen ist, so weit wir ihn hier zitiert haben, in zwei Hinsichten zu kritisieren: Wieso soll eine „kalligraphische Kontur“ in einem Bilde nicht benennbar und also auch begrifflich faßbar sein?
Wieso sollte ein „rhythmisches Gefüge“ nicht „wiedererkennbar“ sein? Denn Kontur und Rhythmus lassen sich an den formalen Mitteln einer Malerei unabhängig davon wiedererkennen und benennen, ob mit diesen formalen Mitteln Gegenstände der Bildaußenwelt dargestellt werden oder nicht. Formanalysen, wie sie etwa Wölfflin an gegenständlicher Kunst im Sinne Gehlens angestellt hat, wurden ebenso radikal abgewiesen, wie Gehlen sie gegenüber ungegenständlichen Werken als Unsinnsfloskel abweist. Die Unterscheidung von gegenständlicher und ungegenständlicher Malerei ist untauglich, sinnvollen Begriffsgebrauch von unsinnigem abzuheben; sie ist erst recht untauglich, begriffliche und nichtbegriffliche Kommentierung oder Interpretation zu begründen. Deshalb ist in einer zweiten Hinsicht Gehlens Ansatz grundsätzlich zu kritisieren: Wenn nur das Wiedererkennbare und Benennbare im Bilde eine angemessene Begriffsbildung erlaubt, dann ist die (nach Gehlens Meinung gegenständliche, also die nichtabstrakte) Kunst der vermeintlichen Tradition genauso kommentarbedürftig; denn es ist immer wieder unmißverständlich nachgewiesen worden, daß ein Betrachter zum Beispiel in Tizians Bacchanal für das Studiolo der Fürsten von Ferrara nur einen Bruchteil dessen wiedererkennen und benennen kann, was wiederzuerkennen und zu benennen möglich wäre, sobald der Betrachter durch entsprechende Kommentare in die vom Este-Fürsten vorgegebenen und von Tizian dargestellten Sujets sowie die kulturellen Kontexte der Tizian-Zeit eingeführt worden wäre. Sind diese Kommentare von Kunsthistorikern zu Tizians Bacchanal nicht auch bloß „Begleittexte“, da sie ja aus dem Gemälde selber nicht entnommen werden können?
Gehlens Diktum von der Kommentarbedürftigkeit der modernen Malerei muß, Gehlens Begründung nach, also auch für die vormodernen Werke gelten. Jedes Bild wäre in gleichem Sinne kommentarbedürftig. Anhand des Gehlenschen Diktums lassen sich nichtgegenständliche, abstrakte, moderne Werke von denen der Tradition nicht unterscheiden, gar gegen sie ausspielen – das aber hatte Gehlen mit seiner Behauptung zu erreichen beabsichtigt.
Pan of Sky
„Ikonologie ist eine Interpretationsmethode, die aus der Synthese, nicht aus der Analyse hervorgeht. Wie die korrekte Feststellung von Motiven die Voraussetzung ihrer korrekten ikonographischen Analyse ist, so ist die korrekte Analyse von Bildern, Anekdoten und Allegorien die Voraussetzung für ihre korrekte ikonologische Interpretation – es sei denn, wir haben es mit Kunstwerken zu tun, in denen der ganze Bereich des sekundären oder konventionalen Sujets ausgeschaltet und ein unmittelbarer Übergang von Motiven zum Gehalt bewirkt ist, wie es bei der europäischen Landschaftsmalerei, bei Stilleben- und Genremalerei der Fall ist, gar nicht zu reden von nichtgegenständlicher Kunst.“ (2)
Also: Auch der Stammvater der systematischen Ikonologie setzt in einer Hinsicht nichtgegenständliche Kunst von anderer Kunst ab. Allerdings soll nichtgegenständliche Kunst die ikonologische Interpretation in gleicher Weise außer Kraft setzen wie Landschaftsmalerei, Stilleben- und Genremalerei, von denen man weiß Gott nicht behaupten kann, daß sie ohne natürliche Sujets auskämen.
Inzwischen ist hinreichend gezeigt worden, in welchem Umfang Landschaftsmalerei (etwa die von Caspar David Friedrich) oder Stilleben- und Genremalerei des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden sekundäre oder konventionelle Sujets bearbeitet haben. (3) Daraus ließe sich der Schluß ableiten, daß auch nichtgegenständliche Kunst ikonologisch erschließbar ist. Panofsky hat sich mit seiner Ausgrenzung der genannten Gattungen gründlich geirrt. Damit ist die von ihm konzipierte Ikonologie aber keineswegs gescheitert – sie reicht nur viel weiter, als Panofsky das anzunehmen wagte.
Panofsky spricht im angeführten Text von einem „unmittelbaren Übergang“ der benannten Gattungen von ihrem Primärmotiv zu ihrem Gehalt. Auch Gehlen hatte ja gemeint (siehe oben), die verdichtete Symbolik des Surrealismus wirke „recht unmittelbar in die affektiven Schichten des Unterbewußtseins hinein“. Beim Surrealismus, obwohl modern, gelang es Gehlen, noch einiges Gegenständliche auszumachen, das zum Symbol werde, wenn es mit seinem Gehalt (der affektiven Einwirkung) zusammenschösse. Gehlen bleibt die Erklärung schuldig, warum eine unmittelbare Einwirkung nur von der Symbolik des Surrealismus, nicht aber von dessen Bildern ausgehe. Entweder wirken nämlich die Bilder unmittelbar wie behauptet, dann brauchen sie nicht als Symbole vermittelt zu werden, oder sie sind symbolisch, dann aber wirken sie nicht „unmittelbar“ ein.
Diesen Widerspruch immerhin hat Panofsky umgangen, indem er nur den unmittelbaren Übergang vom Sujet zum Gehalt bewirkt sieht, nicht aber behauptet, daß der Gehalt unmittelbar auf den Betrachter wirke. Erst recht behauptet er nicht, daß die unmittelbare Einwirkung des Bildes auf den Betrachter der Gehalt des Bildwerkes sei.
Im Original seiner Schrift benutzt Panofsky statt Gehalt den Begriff intrinsische Bedeutung. „Sie wird erfaßt, indem man die zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk. Selbstredend manifestieren sich diese Prinzipien sowohl durch Kompositionsmethoden wie durch ikonographische Bedeutung. Im 14. und 15. Jahrhundert beispielsweise wurde der traditionelle Typus der Geburt Christi ... durch einen neuen ersetzt, der die Jungfrau in Anbetung vor dem Kind kniend zeigt. Unter dem Blickwinkel der Komposition bedeutet dieser Wandel cum grano salis die Einführung eines Dreieck- anstelle eines Rechteck-Schemas; unter ikonographischem Blickwinkel bedeutet er die Einführung eines neuen Themas ..., doch zugleich enthüllt er eine neue ... emotionale Einstellung. Wir beschäftigen uns mit dem Kunstwerk als einem Symptom von etwas anderem ... und wir interpretieren seine kompositionellen und ikonographischen Züge als spezifischere Zeugnisse für dieses andere. Die Entdeckung und die Interpretation dieser ‘symbolischen’ Werte, die dem Künstler häufig unbekannt sind und die sogar entschieden von dem abweichen können, was er bewußt auszudrücken suchte, ist das, was wir Ikonologie nennen können“ (4).
Die intrinsische Bedeutung oder der Gehalt des Werkes liegt also in dem, was dieses Werk über sich selber hinaus repräsentiert; der Gehalt besteht darin, daß wir an ihm die zeittypischen Wechselverhältnisse zwischen Menschen in ihren Lebensräumen zu thematisieren vermögen, in denen das Werk entstanden ist und auf die es selber eingewirkt hat. Soweit dieses Beziehungsgeflecht zwischen Menschen auf Verbindlichkeit in deren Zusammenleben ausgerichtet ist, identifizieren wir es als deren Kultur. Die intrinsische Bedeutung kennzeichnet das Werk als Bestandteil einer Kultur, von der sich selbst das größte künstlerische Genie der Abweichung nicht suspendieren kann. Dieses kulturelle Gefüge hat die Ikonologie (Panofsky zufolge) zu synthetisieren durch methodische Interpretation und Kommentar. Einer ikonologischen Synthese der intrinsischen Bedeutung von Kunstwerken gehen die analytische Beschreibung seiner primären oder natürlichen Sujets, seiner Konfiguration von Linien und Farben, seines Materials, seiner Entstehungszeit und die Identifizierung seines Autors voraus. Diese ikonographische Analyse „mag die Welt der künstlerischen Motive heißen, die Welt der reinen Formen, die als Träger primärer und natürlicher Bedeutungen erkannt werden ... Indem wir künstlerische Motive und Kombination (Kompositionen) künstlerischer Motive mit Themen und Konzepten verknüpfen“, leisten wir die Erschließung der sekundären oder konventionalen Sujets eines Bildwerks. Beispiel: Auf einem Gemälde identifizieren wir als primäres oder natürliches Sujet eine Gruppe von Personen, die an einem Tisch sitzen. Wir können den formalen Aufbau des Bildes, die Form- und Farbkonstellationen beschreiben. Das sekundäre oder konventionale Sujet wird erschlossen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß die Gruppe von Personen, die in einer bestimmten Anordnung und mit bestimmten Posen um eine Speisetafel sitzt, das letzte Abendmahl Christi darstellt. Die intrinsische Bedeutung erschließt sich durch die synthetische Rekonstruktion der Möglichkeiten, die einem Maler als Mitglied seiner Kultur überhaupt geboten waren, das Abendmahl zu thematisieren. Das wird nur durch den Vergleich aller Abendmahlsdarstellungen jener Epoche und Kultur möglich sein. Dieser Vergleich ergibt post festum, daß auch das größte künstlerische Abweichungsgenie „noch ein Kind seiner Zeit“ war und sein mußte. Auch die Genies einer Epoche haben nur eine relativ begrenzte Zahl von Möglichkeiten, primär/natürliche oder sekundär/konventionale Sujets zu thematisieren.
Nun das Entscheidende: Wenn man den Implikationen von Panofskys Ikonologie folgt, dann läßt sich in keinem Werk – ob gegenständlich oder nichtgegenständlich – die Ebene der Bestimmung sekundär/konventionaler Sujets umgehen. Die Erforschung der Stilleben- und Genremalerei hat das bereits gegen Panofskys Annahme für diese Gattungen bewiesen. Ich möchte vermuten, daß der Beweis für die nichtgegenständliche/abstrakte/absolute Kunst unseres Jahrhunderts bald auch erbracht werden wird.
Die Kuh im schwarzen Quadrat
Der Beweisgang dürfte etwa in folgender Weise angetreten werden: Gesetzt, wir betrachteten ikonographisch und ikonologisch das Schwarze Quadrat von Malewitsch (dessen unterschiedliche Fassungen keine prinzipiellen Abweichungen des Vorgehens erzwingen). Die Identifizierung des primären/natürlichen Sujets wäre eindeutig. Wir erkennen ein schwarzes „Quadrat“ auf weißem Grund; wir identifizieren das Material, das Format. Wir wissen etwa, in welchem Zeitraum es entstanden sein muß, bevor es in der „letzten futuristischen Ausstellung 0,10“ 1915 in Petersburg gezeigt wurde. Wir können seine Hängung in der Ausstellung anhand von Dokumentationsphotos genau angeben (hoch oben in einer Raumecke). Kein Betrachter des Werkes oder der Reproduktion des Werkes kann umhin, die Frage zu stellen, warum dieses Bild von Malewitsch hergestellt worden ist, weil wir gezwungen sind, aus den Funktionsweisen unserer natürlichen, naiven Wahrnehmung anzunehmen, daß nichts ohne Grund geschieht und daß die Äußerung eines Menschen niemals so willkürlich sein kann, daß zwischen ihm und seiner Äußerung kein Zusammenhang bestünde. (Die Tiefenpsychologie vermochte sogar zu zeigen, daß selbst un- und unterbewußte Handlungen eine Logik besitzen, ebenso wie alle Bemühungen, mutwillig Chaos zu erzeugen.) Wir sind auch gezwungen anzunehmen, daß bestimmte Motive oder auf Impulse verkürzte Antriebe vorhanden sein müssen, wo jemand behauptet, mit seiner Handlung allen konkret benennbaren oder wiedererkennbaren Absichten gerade widersprechen zu wollen; sogar die Negation können wir aufgrund der natürlichen Funktionsweisen unseres Weltbildapparates immer nur als eine bestimmte Negation auffassen. Selbst wenn wir annehmen, Malewitsch habe nichts als ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund malen wollen (mehr oder weniger geometrisch exakt), so müssen wir Gründe vermuten, warum er eben dies tat und zwar nicht von Anfang an, sondern zu einer bestimmten Zeit und auf den bestimmten Zweck hin. Wenn wir dieser Frage nachgehen, erschließen wir notwendigerweise das sekundäre oder konventionale Sujet des Bildes, wie das nun hinreichend von verschiedenen Autoren getan wurde (5): wir müssen es als „Quadrat“ begrifflich fassen. Unabhängig davon, ob Malewitsch das akzeptierte oder nicht, sind seinem Bild schon zur Zeit seiner Entstehung eine Reihe von Begriffen zugeordnet, die sich im Lauf unserer Kulturgeschichte seit der Antike als konventionale Bedeutung des Quadrats herausgebildet haben, sei es in der Geometrie, in der christlichen Theologie, in der Philosophie oder in der Architektur. Diese konventionellen Bedeutungen bleiben auch präsent, wenn Malewitsch in den unterschiedlichsten Äußerungen zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens glaubte bekunden zu können, diese konventionellen Bedeutungen, diese sekundären Sujets seines Bildes gerade nicht gemeint zu haben, sondern Bedeutungen, die nur in der faktischen Existenz des Bildes selber liegen. Wenn dessen Form und dessen Material nur sich selber als sekundäres Sujet oder konventionale Bedeutung zu meinen vermöchten, so hätte der Maler immerhin etwas Bestimmtes gemeint und die konventionale Bedeutung läge in der Selbstbezüglichkeit des Bildes. Würde dies ontologisch verstanden, dann lieferte die Entfaltung des Begriffs die konventionale Bedeutung. Würde der Begriff selbst nur als Name einer Anzahl von Sätzen verstanden, so böten diese Sätze das sekundäre Sujet des Bildes und damit seine konventionale Bedeutung.
Die intrinsische Bedeutung des schwarzen Quadrats von Malewitsch ergäbe sich aus der Untersuchung der Frage, wie denn bildende Künstler seiner Zeit im Kontext ihrer Kultur und deren Erweiterung durch kubistische, futuristische oder andere Einflüsse in der Lage waren, auf ontologische Begriffe oder Begriffe als Namen von Sätzen zu reagieren, oder mit ihnen in irgendeiner Weise umzugehen. Von der Ontologie einmal abgesehen, haben Malewitsch und eine Vielzahl anderer Künstler, die sich mit ihren Auffassungen von bis dahin als gültig angenommenen absetzen wollten, zahllose Satzfolgen produziert oder vorhandene kombiniert und in Analogie zu ihren künstlerischen Handlungen gesetzt. Diese Sätze lassen sich deutlich unterscheiden von denen späterer Künstler, die auf den ersten Blick, aber eben nur auf den ersten Blick, relativ ähnliche Resultate ihrer Handlungen produzierten wie Malewitsch. Wenn man die Arbeitsresultate verschiedenster Autoren zusammenfaßt, ergibt sich folgendes: Das schwarze Quadrat von Malewitsch ist tatsächlich ein Gemälde, das nicht durch Angabe seiner Konstruktionsprinzipien beliebig an jedem Ort reproduziert werden kann (eine solche Möglichkeit strebten denn auch später einige Künstler der konkreten Kunst an). Seine konventionale Bedeutung erhält es nicht als Ikone im Sinne der russisch-orthodoxen Kirche. Es ist eine dem geometrischen Begriff analoge Figuration, die als Allegorie einer konventionalen Bedeutung zu fassen ist. Diese in Begriffen repräsentierte Bedeutung umfaßt eine Reihe von Sätzen, die Malewitsch zwischen seiner Arbeit an der Oper Sieg über die Sonne und der Niederschrift seines Bauhausbuches von 1927 immer wieder zu rekonstruieren versucht hat. (6) Die intrinsische Bedeutung besteht darin, die herkömmliche antropomorphe Allegorisierung durch geometrieanaloge ersetzt zu haben. Diese Leistung läßt sich u.a. aus dem Vergleich der Arbeiten der Futuristen und der Kubisten würdigen. Sie hatten zu ihren Sätzen über die Funktionsweisen unseres Wahrnehmungsapparates, über die Modernität des Großstadtlebens im Zeitalter der Luftfahrt, des Automobils, des mechanisierten Krieges etc. Bildwerke analog gesetzt, die mehr oder weniger Ikonen ihrer wortsprachlichen Aussagen gleichkamen. Ihre Bildanalogien zu den Begriffen „Geschwindigkeit“, „Dynamik“, „Simultanität“ etc. bestehen noch aus ikonischen Zeichen (widerspiegelnde, abbildende Darstellung).
Allegorien hingegen werden durch indexikalische Zeichen formiert; das Zeichen wird als Verweis (Index) auf ein Bezeichnetes verwendet, welches nur als Begriff oder Vorstellung gegeben ist. Wo man Rauch sieht, muß es unserer natürlichen Annahme zufolge auch ein Feuer geben; wo ein schwarzes Quadrat zu sehen ist, muß es auch eine konventionale Bedeutung, also eine Reihe von Aussagen geben, die diese Figuration in unterschiedlichsten Kontexten (der Geometrie, der Theologie (7), der Architektur) von anderen Figurationen unterscheiden. Kontexte sind im Sinne Panofskys Themen und Konzepte. Malewitsch hat die Themen und Konzepte seines schwarzen Quadrats ausdrücklich als Satzfolgen anzugeben versucht. Auch wenn er das nur impliziert im Hervorbringen anderer Werke getan hätte, müßte der Betrachter sie rekonstruieren, bevor er den Gehalt des Werkes Das schwarze Quadrat zu erschließen vermag.
Ein Quadrat ist keine abstraktere Figuration als die ikonische Darstellung einer Kuh. Die Repräsentation eines Quadrats ist nicht weniger gegenständlich als die Photographie, die Zeichnung oder die Skulptur einer Kuh – wer ein Quadrat herstellt, kann sich dafür ebenso einer gegenständlichen Vorlage bedienen wie der Zeichner einer Kuh. Nur die konventionalen Bedeutungen von Kuh und Quadrat sind unterschiedlich.
Die Probleme, mit diesen sekundären Sujets, mit den konventionalen Bedeutungen umzugehen, sind die gleichen, ob man nun eine Kuh oder ein schwarzes Quadrat zu zeichnen, zu malen, zu skulpturieren, zu beschreiben versuchte. Auch die Resultate solcher Handlungen sind gleich, nämlich Zeichengefüge irgendwelcher Art. Ihr Gehalt indessen wird unterschiedlich sein, je nachdem, wie sie in der ikonologischen Untersuchung der Kultur einer Epoche als Kunstwerke oder wissenschaftliche Illustration oder Handelsgüter oder Einrichtungsgegenstände oder Lehrmittel in Gebrauch waren, respektive gewertet wurden.
Solche Werte werden – nicht nur Panofsky zufolge – in den Kulturen symbolisch repräsentiert. Der symbolische Zeichengebrauch basiert auf einer anderen Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem als der ikonische und der indexikalische.
Im ikonischen Zeichengebrauch wird die Analogie zum Bezeichneten als Modell ausgebildet (Haupttypus Abbildung); im indexikalischen Zeichengebrauch wird die Analogie zum Bezeichneten als Verweisungszusammenhang entwickelt (Haupttypus lexikalische Indexierung); im Symbol ist die Analogie zwischen Zeichen und Bezeichnetem als generalisierende Abstraktion hergestellt (Haupttypus Kontextuierung). Ob man diese Unterscheidung nun im informationstheoretischen Sinne oder im ikonologischen oder im linguistischen oder sonst irgendeinem Sinne zur Geltung bringt: eines ist allen leistungsfähigen Ansätzen gemeinsam, daß jede bestimmte Zeichenfiguration, jedes Gemälde, jeder Text stets auf allen unterschiedenen Ebenen bestimmt werden muß.
Theorieunfälle
Die Verkehrszeichen (die zu Recht in allen Sprachen eben nicht Verkehrssymbole heißen) können – im Sinne der hier vorgegebenen Unterscheidung – sowohl als ikonische Zeichen (Fußgängerin mit Kind als weiß ausgesparte Figur auf blauem Grund), wie als indexikalische Zeichen (Einbahnstraßenschild in Gestalt eines Pfeils), wie auch als symbolische Zeichen (roter Balken in weißem Kreis) vorgegeben sein. Jedes Gemälde – das schwarze Quadrat von Malewitsch ebenso wie die Kühe auf der Weide von Rubens – kann nicht nur, sondern muß im Sinne der Panofskyschen Unterscheidung sowohl im Hinblick auf die primäre wie die sekundäre, wie die intrinsische Bedeutung angesehen werden. Jedes Zeichengefüge wird immer zugleich sowohl im Hinblick auf die Identität von Zeichen und Bezeichnetem, wie [auf] deren Nichtidentität als auch [auf] ihre Identität in der Nichtidentität gelesen werden müssen.
Genau das verabsäumen Autoren wie Gehlen, die auf den angeblich abstrakten und nichtgegenständlichen Gemälden entweder primäre Sujets nicht wiedererkennen zu können glaubten und deshalb fälschlich annahmen, daß es diese Ebene für die „abstrakte, nicht gegenständliche“ Kunst gar nicht gebe; oder aber behaupteten, die sekundären Sujets nur als dem Bild äußerliche Begleittexte zu sehen und sie deswegen als unsinnige Phrasen diskreditieren zu können. Entweder sind Ikonographie und Ikonologie respektive informationstheoretische, reflexionsphilosophische, systemtheoretische oder distinktions- und differenzlogische Methoden der Analyse und Synthese leistungsfähig oder nicht. Wenn sie sich als halbwegs brauchbar erweisen wollen, müssen sie sich auf jede Vergegenständlichung kommunikativer Beziehungen zwischen Menschen anwenden lassen.
Gehlen verhält sich als Theoretiker wie jemand, der sich zum Beispiel als Verkehrsteilnehmer weigern würde, andere als ikonische Verkehrszeichen zu beachten. Zu welchem Desaster eine derartige Haltung im Verkehr führen muß, ist leicht vorstellbar. Die Desaster, die Ästhetiker, Philosophen, Kunstwissenschaftler herbeiführen, werden leider noch nicht im Verkehrsfunk gemeldet. Wahrscheinlich aber hatte es Gehlen und haben es viele seinesgleichen auf derartige Crashs abgesehen, weil diese die allgemein interessantesten „Zeitbilder“ abgeben.
Es wird Zeit, daß wir uns aus den spektakulären Konfrontationen von moderner Kunst und traditionaler, von abstrakten Expressionisten und figurativen Expressionisten, von Tachismus und Rokoko, von Informel und Impressionismus, von Farbfeldmalerei und der der venezianischen Großmeister, von Postmoderne und Postkutschenmoderne verabschieden.
Wenn wir es für sinnvoll halten, mit Panofsky Ikonographie und Ikonologie zu betreiben, dann hat auch die sogenannte abstrakte Kunst eine Ikonographie. Wenn wir in diesem Zusammenhang etwa von Allegorien sprechen, dann sind auch die Werke der Suprematisten Allegorien rekonstruierbarer Begriffe; denn in der Sache macht es keinen Unterschied, ob diese Begriffe „Gleichgewichtsbalance“, „Zweidimensionalität“, „Gesetz der Gestaltwahrnehmung“ heißen und in geometrieanalogen Zeichenfiguren repräsentiert werden oder ob sie „Gerechtigkeit“, „Freiheit“, „Industria“ genannt und in anthropomorphen Gestalten zum Thema erhoben werden.
(1) A. Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt 1960, Seite 162 ff.
(2) E. Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, dt. Köln 1975, Seite 42 f.
(3) H. Börsch-Supan, K. W. Jähnig: Caspar David Friedrich, München 1973; und ausführliche Diskussionen zu Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung, Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, dt. Köln 1985.
(4) E. Panofsky: a.a.O., Seite 40 f.
(5) C. Braeger: „Die Nullikone, oder kann etwas auch nichts darstellen“, in: Exemplarische Gestaltung 8, Hochschule für Gestaltung, Zürich 1987; F. P. Ingold: „Kunst-Kunst... zehn Paragraphen zu Kasimir Malewitsch“, in: Wiener Slawinistischer Almanach, Band 16, 1985; B. Brock: „The Reality of the Universalia, Malevich and the black square“, in: Kunst & Museums-Journal 1, Amsterdam 1989; J. Simmen: „Das Quadrat von Malewitsch. Schweben und Sonnen-Finsternis“, in: B. Wyss (Hrsg.): Bildfälle. Die Moderne im Zwielicht, Zürich 1990; M. Brüderlin: Die Einheit in der Differenz: die Bedeutung des Ornaments für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts, Diss. Wuppertal 1995; D. Bogner et al.: „Das gequälte Quadrat“, in: Kunstforum International 105/1990, Seite 80 ff.
(6) Kazimir Malevich 1878-1935, Ausstellungskatalog Stedelijk Museum Amsterdam 1989.
(7) A. Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt 1960, Seite 162 ff.