1972 haben die Mitarbeiter des Internationalen Designzentrums Berlin durch die Ausstellung Mode – das inszenierte Leben ein Thema in die Welt gesetzt, das seither in beängstigender Weise inflationär vermarktet wurde. „Inszenierte Lebensformen“ hieß das Thema, das seit den 80er Jahren vornehmlich mit dem Ausdruck Life-Style gekennzeichnet wird.
1753 hielt der Naturwissenschaftler Graf Buffon in Paris seine Antrittsrede vor der Französischen Akademie mit dem zur Redensart gewordenen Titel „Der Stil macht den Mann“. Seither verlagerte sich die Stildiskussion von der Architektur, Kunst und Literatur hin zur Kennzeichnung des sozialen und privaten Verhaltens im Alltagsleben. Nicht nur Häuser, Möbel, Kleider, Werkzeuge, Theater- und Musikstücke wurden nach ihrem Stil unterschieden; vielmehr ging es um die Art und Weise, wie Menschen in ihren Lebenszusammenhängen mit den stilvollen oder eben stillosen Dingen umgingen. Die Frage lautete seither: Wie beeinflußt die Gestaltung der Dinge das Verhalten der Menschen, die mit ihnen leben und hantieren?
Für dieses Wechselverhältnis von Gestaltung und Verhalten ist seit den 1960er Jahren der Begriff Sozio-Design geläufig.
Der Begriff der „Inszenierung“ stammt aus dem Kriegs- und Bühnentheater. Psychotherapeuten, Pädagogen und Soziologen bezogen aus diesen Vorgaben etwa ihre Definitionen von „Rolle“ und „Rollenspiel“. Sehr einflußreich war die Publikation „Wir alle spielen Theater“, die der amerikanische Soziologie-Professor Goffman Mitte der 60er Jahre verfaßte.
Zur gleichen Zeit bot ich in Frankfurt, Hamburg, Berlin und anderswo Aktionsprogramme als „Selbstexperiment für Zeitgenossen“ an. Man lernte dort, seine vielen Rollen, die man im Alltag zu spielen hatte (Ehemann, Familienvater, Berufstätiger, Vereinsmitglied etc.) selber als Theater des eigenen Lebens zu inszenieren, also Regisseur des eigenen Lebens zu werden. Es ging nicht nur darum, sich jeweils „in Szene zu setzen“, sondern seine Lebensumgebungen als „Bühnen“ für die Realisierung des eigenen Lebens als Biographie mit weitem Vorgriff auf die Zukunft zu entwerfen.
Die Unterscheidung von Lebensformen ergab sich aus der schlichten Beobachtung, daß Bürger, Bauern, fahrendes Volk, Handwerker, Kaufleute, Adelige oder Klosterbrüder ihr Leben sehr unterschiedlich führten oder führen sollten. Für die Verpflichtung auf standesgemäße Lebensformen steht etwa die Anleitung zur Erziehung von „Hofleuten“, die der italienische Renaissanceautor Baldassare Castiglione 1528 (Il libro del cortegiano) mit nachhaltiger Wirkung veröffentlichte.
Der französische Dramatiker Molière ergötzte sein Publikum mit Bühnenstücken, in denen sich etwa soziale Aufsteiger bei der Übernahme entsprechender Lebensformen abstrampelten. Deutsche und englische Künstler und Philosophen wie Hogarth, Lichtenberg und D. N. Chodowiecki publizierten im Zeitalter der Aufklärung bebilderte Anleitungen für den Entwurf von Lebensformen, die nicht mehr bloß durch Standes- und Klassenzugehörigkeit, sondern durch Erziehung und Bildung geprägt werden sollten.
Und dann kam Baron Knigge mit seinen vielen Nachfahren bis hin zur Urenkelin, der Bonner Protokollchefin Frau von Pappritz, die nicht müde wurden, ihren jeweiligen Zeitgenossen gutes, stilvolles Benehmen nahezubringen. Unvergessen sind die zahllosen Kolumnen von Aenne Burda und Sibyl Gräfin Schönfeldt, die in Burda-Moden oder der ZEIT für den raschen sozialen Wandel seit den 60er Jahren (Pille, Strumpfhose, wilde Ehe, befreite Sexualität etc.) anschauliche Muster zeitgemäßer Lebensformen unter die Leser brachten. Schließlich setzte sich in den 80er Jahren in den Medien der englische Ausdruck Life-Style für „Lebensform“ durch und seither verstand jeder darunter, was er wollte.
Inzwischen ist nicht nur den Life-Style-Yuppies klargeworden, daß man mit dem Kauf von Life-Style-Produkten eben nicht ohne weiteres auch Lebensformen erwirbt. Deshalb schießen gegenwärtig Veranstaltungen zu „Stil/Inszenierung/Lebensform“ wie giftige Pilze aus dem kontaminierten Boden. Die Oper in Frankfurt inszenierte zum Thema „Inszenierung“ im April ‘00 ein „Frankfurter Ereignis“; der Typo-Kongreß Font-Shop lockte zum Thema „Stil“ 1.600 zahlende Gestalter nach Berlin; die hochrangige Düsseldorfer Ausstellung Ich ist etwas Anderes zeigt gegenwärtig künstlerische Positionen zum Thema „Identität und Lebensform“ und die Berliner „Kunstwerke“ zogen am bisher heißesten langen Wochenende des Jahres 600 Zeitgeister in den Bann des Themas: „Lebensentwürfe nach dem Muster des Optionshandels – schaffe dir möglichst zahlreiche Optionen, ohne je gezwungen zu sein, sie zu realisieren“ – das sind nur wenige Beispiele für zahllose andere aktuelle Bemühungen, den breitgetretenen Life-Style-Quark in neue Formen zu backen.
Dabei scheint es wichtig zu sein, Stilfragen nicht mehr in dem Sinne als „Geschmacksfragen“ zu behandeln, daß sie jeder nach eigenem Gusto auffassen könne. Alles ist zwar Geschmackssache, aber nur, wenn man einen Geschmack hat. Und einen Geschmack zu haben heißt, viele Geschmäcker unterscheiden zu können – also möglichst viele Kriterien der Unterscheidung von gestalteten Dingen, Verhaltensweisen, Sprach- und Lebensformen zu kennen und gebrauchen zu können. In Geschmacksfragen geht es also um Unterscheidungskriterien, die nur soweit leistungsfähig sind, wie sie von anderen deutlich abzugrenzen sind. Mit Bezug auf Stil, Lebensformen, Inszenierung dienen solche Bündel von Unterscheidungskriterien zur Ein- und Ausgrenzung: Wer gehört dazu, wer nicht? Was ist in, was ist out? Wer kennzeichnet sich durch die Akzeptanz von Unterscheidungen etwa als Mode, die alle modisch Orientierten nutzen – und wer kennzeichnet sich durch die Ablehnung der von anderen genutzten Geschmacksurteile, um dadurch auffällig zu werden? Kann man Kriterien der Unterscheidung beliebig erfinden oder sind sie erst brauchbar, wenn sie von anderen geteilt werden?
In vielen Bereichen, z.B. bei der monochromen Malerei, muß man sich erst durch Experten die Kriterien vorführen lassen, nach denen die drei Weißflächen eines weißen Bildfeldes in weißem Passepartout auf weißer Wand voneinander unterschieden werden können. Denn erst durch diese Unterscheidung kann man dem weißmonochromen Bild Bedeutung zumessen. Oder man geht zu Eskimos und Hochgebirgsbewohnern, die darüber hinaus noch viele andere Kriterien der Unterscheidung weißer Oberflächen, z.B. als Schnee, in Gebrauch haben.
Wie wichtig das Geschmacksurteil für Menschen ist, belegt unsere Gattungskennzeichnung homo sapiens sapiens als ein Lebewesen, das noch feinste Differenzierungen von Sinneseindrücken „schmeckend“ treffen kann und das darüber hinaus auch noch „weiß“, daß es diese Differenzierungsfähigkeit wesentlich als Menschen auszeichnet.
Stile sind also gebündelte Unterscheidungsmerkmale. Einen persönlichen Geschmack oder einen Stil zu haben, setzt aber voraus, die anderen zu kennen, sonst kann man sich von ihnen nicht unterscheiden.
Heutzutage betont man nicht mehr sozialen Status, Berufstätigkeit, mentale Prägung oder Kultur- und Religionszugehörigkeit als erstrangig für die Ausbildung von geschmacklich-stilistischem Unterscheidungsvermögen. Zumindest die jüngere Generation legt sich durch „Stilisierung“ nicht mehr auf soziale Kennung (Identitätsmarkierung) verbindlich fest; sie scheint vor allem mit den Kriterien der Ein- und Ausgrenzung zu spielen, um gerade der Festlegung zu entgehen. Stil wird zur Distanzgeste gegen Vereinnahmung wie gegen Ausschließung. Die Jungen wollen sich Optionen offen halten. In ihrer Stilisierung drückt sich offenbar mehr eine Indifferenz gegen als ein Bekenntnis zu Programmen und Parolen aus, weil diese allesamt unter dem Druck der ökologischen, humanitären, sozialstaatlichen, politischen Korrektheit (PC) allgemein geteilt werden müssen.
So wollen z.B. alle Parteigänger zur „Mitte“ gehören, deklarieren selbstverständlich ihre totale Leistungsbereitschaft und die Ergebenheit, Globalisierung als geschichtlich oder von Börsengöttern verhängtes Schicksal hinzunehmen.
Beim Jungen zielt Stilisierung deshalb heute darauf ab, mit diesen taktischen Lügen, Mediensimulationen und existenziellen Bodenlosigkeiten souverän, nämlich ironisch umzugehen, damit man nicht andauernd zu Bekenntnissen erpreßbar ist. Vor allem der „Stil der Stillosigkeit“, und das ist der heute vorherrschende Stil, kultiviert den Bekenntnisekel vor der politischen oder wirtschaftlichen Ausbeutung von Identitätskrampferei, Gruppenenthusiasmus oder Individualisierungstrara.
Die erneute Diskussion von „Lebensformen“ steht unter dem von allen Fachleuten ausgemachten Gebot zur Individualisierung – mit allen Folgen, die sich daraus notwendig für Gruppenzusammenhalt von der Familie bis zur Nation zu ergeben scheinen.
Individualisierung ist aber nicht Ausdruck von Egoismus und Wohlstandsverwahrlosung. Spätestens seit Tschernobyl kann jeder wissen, was Individualisierung meint. Die Strahlungsexperten nannten den vor den Fernsehern versammelten Bürgern regionsspezifische Becquerel-Werte. Sie fügten aber jeder ihrer Feststellungen über die Belastung von Sandkästen, Atemluft oder Nahrungsmitteln umgehend die Aussage hinzu, was die Bürger aus diesen Angaben schlußfolgerten und wie sie sich verhielten, sei ihnen selbst überlassen. Diese Delegation der Verantwortung für Tun oder Lassen bildet den Kern der Verpflichtung auf Individualisierung. Lebensformen auszubilden heißt heute deshalb, den eigenen Biographieentwurf zu begründen, weit über die Darstellungen und Begründungen hinaus, zu denen wir bei Ablieferung eines „Lebenslaufs“ an Arbeitgeber etc. angehalten sind. Der Zeitgenosse übernimmt oder entwickelt also Lebensformen, indem er die Erzählung zu seinem Leben und dessen prospektiven Entwurf in einen künstlerischen, mythologischen, religiösen oder historischen Zusammenhang überführt. Zudem macht er deutlich, daß er für seine Optionen resp. deren Realisierung selber die Verantwortung übernimmt und sie nicht mehr an die Eltern, den Zeitgeist, die wirtschaftliche Entwicklung delegiert. Lebensformen lassen also erkennen, worauf man sich eigenverantwortlich verpflichtet, welche Ziele man hat und in welchen Kontexten das eigene Leben seine Bedeutung erhalten soll.
Unter „Inszenierung“ versteht man deshalb nicht mehr eine bloß interessante oder auffällige Präsentation im privaten, öffentlichen oder halböffentlichen Raum (für letzteren typisch: Kinos, Theater, Museen, Messen, Hotels und Feriencamps). Inszeniert werden vielmehr Gelegenheiten, bei denen man seine Lebensformen und seine Art, etwas durch Unterscheiden bedeutsam werden zu lassen, zur Sprache bringen kann (Firmen nennen so etwas „Ereignisinszenierung zur Darstellung der Firmenphilosophie“, also der Lebensformen eines Kollektivs). Zum Ereignis werden diese Gelegenheiten oder Anlässe, wenn ein Ort des Zusammentreffens von Menschen so ausgestattet wird, daß sie animiert und in die Lage versetzt werden, mit der Darstellung ihrer Lebensform als Erzählung oder sonstige Demonstration zu starten.
Wie die zahllosen Teilnehmer nachmittäglicher Talkshows auf allen Kanälen zu verstehen geben, ist für sie nicht mehr das eigene Haus oder Heim der naturgemäß wichtigste Ereignisort, an dem sie anderen ihre Verhaltensweisen, Auffassungen, Absichten mitteilen oder indirekt erfahrbar werden lassen. Im Gegenteil, der Privatbereich wird als Ort verstanden, an dem man sich von der Verpflichtung auf Lebensformen entlastet.
Der Ereignisort Big Brother scheint für Beobachter so interessant zu sein, weil sich an ihm die Verpflichtung auf Individualisierung und eigenverantwortlichen Lebensentwurf mit dem Bedürfnis, sich privat gehen zu lassen, in Spannung tritt. Das ist in der Tat „spannend“, wenn hinreichend unterscheidbare Individuen mit ihren Biographien und Lebensentwürfen zusammengeführt werden. Jedenfalls zeigt Big Brother, wie weitgehend „normale“ Zeitgenossen bereits ein Verständnis für die Aufgabe der Inszenierung entwickelt haben. Sie inszenieren nicht nur sich, sondern Ereignisort und Ereigniszeit ihrer kollektiven Containerexistenz. Solche Container nennt die Marketingdiva Faith Popcorn Shelter oder „Schutzhüllen“ oder Cocons (wie die der Seidenraupen). Multikulturelle Gesellschaften kennen das als freiwillige „Ghettoisierung“. Je bedrohter die öffentlichen und halböffentlichen Räume etwa durch Vandalismus oder Kriminalität werden, desto größer das Bedürfnis, den Container „Wohnung“ zum Containment, zum Schutz vor äußerer Einwirkung werden zu lassen. Denn diese Einwirkung stört oder zerstört jede Präsentation der eigenen Lebensform.
So ist verständlich, daß Wohnungen und Arbeitsstätten mithilfe der elektronischen Sicherungs- wie Kommunikationstechnologie zu Zitadellen werden, in denen man noch die Chance hat, sein Leben mit Bezug auf nur relativ wenige andere Menschen zu führen. Dieses Bedürfnis ist gegenwärtig ausschlaggebend für die Bestückung der Lebensbühnen und die Inszenierung der Lebensformen. Diese Orte werden mehr oder weniger umfassend zum Weltort schlechthin, an dem man in Gestaltung und Verhalten sein Weltbild zusammenfügt.
Wir werden wieder zu Monaden, deren Cocons aber über elektronische Kommunikationsmittel durchsichtig geworden sind. Die Leibniz’sche Monade hat nicht nur Fenster bekommen, sondern ihre Hülle wurde zum Rundum-Panoramafenster, aber möglichst schußsicher!