Buch Der Barbar als Kulturheld

Bazon Brock III: gesammelte Schriften 1991–2002, Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist

Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.
Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.

„In Deutschland gehört zu den wichtigsten Aktivisten auf diesem Feld (der Massentherapie) gegenwärtig der Performance-Philosoph Bazon Brock, der nicht nur eine weit gestreute interventionistische Praxis aufweisen kann, sondern auch über eine ausgearbeitete Theorie des symbolischen Eingriffs verfügt.“ Peter Sloterdijk in Die Verachtung der Massen, Frankfurt am Main, 2000, Seite 64

„Mit welchem Gleichmut Brock das Zähnefletschen der Wadenbeißer ertrug, die ihm seinen Erfolg als Generalist verübelten ... Bazon Brock wurde zu einer Symbolfigur des 20. Jahrhunderts, von vielen als intellektueller Hochstapler zur Seite geschoben und von einigen als Poet und Philosoph verehrt ... Er konnte wohl nur den Fehler begehen, sein geniales Umfassen der Welt nicht nur zu demonstrieren, sondern es lauthals den anderen als eine legitime Existenzform vorleben zu wollen.“ Heinrich Klotz in Weitergeben – Erinnerungen, Köln 1999, Seite 107 ff.

Sandra Maischberger verehrt Bazon Brock wie eine Jüngerin. Denn täglich, wenn es Abend werden will, bittet sie mehrfach inständig: „Bleiben Sie bei uns“ und sieht dabei direkt dem n-tv-Zuschauer Brock ins Auge. Also gut denn: „solange ich hier bin, stirbt keiner“, versicherte Bazon schon 1966 auf der Kammerspielbühne Frankfurt am Main. Erwiesenermaßen hielt er das Versprechen, weil ihm sein Publikum tatsächlich vorbehaltlos glaubte. „Dies Ihnen zum Beispiel für den Lohn der Angst Sandra, bleiben Sie bei uns“.

Bazon Brock hat in den vergangenen Jahrzehnten mit Schriften, Ausstellungen, Filmen, Theorieperformances /action teachings die Barbaren als Kulturhelden der Moderne aller Lebensbereiche aufgespürt. In den achtziger Jahren prognostizierte er die Herrschaft der Gottsucherbanden, der Fundamentalisten in Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik. Ihnen setzte Brock das Programm Zivilisierung der Kulturen entgegen.

Gegen die Heilsversprecher entwickelte er eine Strategie der Selbstfesselung und die Ästhetik des Unterlassens mit dem zentralen Theorem des verbotenen Ernstfalls. Das führt zu einer neuen Geschichtsschreibung, in der auch das zum Ereignis wird, was nicht geschieht, weil man es erfolgreich verhinderte oder zu unterlassen vermochte.

1987 rief Brock in der Universität Wuppertal die Nation der Toten aus, die größte Nation auf Erden, in deren Namen er den Widerruf des 20. Jahrhunderts als experimentelle Geschichtsschreibung betreibt.

Protestanten wissen, es kommt nicht auf gute und vollendete Werke an, sondern auf die Gnade des Himmels. Deswegen etablierte sich Brock von vornherein, seit 1957 als einer der ersten Künstler ohne Werk, aber mit bewegenden Visionen, die von vielen
übernommen wurden; z.B. „Ich inszeniere Ihr Leben – Lebenskunstwerk“ (1967), „Die neuen Bilderkriege – nicht nur sauber, sondern rein“ (1972), „Ästhetik in der Alltagswelt“ (1972), „Zeig Dein liebstes Gut“ (1977), „Berlin – das Troja unseres Lebens und forum germanorum“ (1981), „Wir wollen Gott und damit basta“ (1984), „Kathedralen für den Müll“ (1985), „Kultur diesseits des Ernstfalls“ (1987), „Wir geben das Leben dem Kosmos zurück“ (1991), „Kultur und Strategie, Kunst und Krieg“ (1997). „Hominisierung vor Humanisierung“ (1996), „Moderator, Radikator, Navigator – die Geschichte des Steuerungswissens“ (1996).

Deutsch sein heißt schuldig sein – Bazon versucht seine schwere Entdeutschung mit allen Mitteln in bisher mehr als 1.600 Veranstaltungen von Japan über die USA und Europa nach Israel. Gegen den dabei entstandenen Bekenntnisekel beschloß jetzt der Emeritus und elder stageman des Theorietheaters, sein Leben als Wundergreis zu führen, da Wunderkind zu sein ihm durch Kriegselend, Lagerhaft und Flüchtlingsschicksal verwehrt wurde.

Ewigkeitssuppe | 850.000 Liter des Tänzerurins | im Tiergarten, die wurden Blütenpracht. | Er sah die Toten der Commune in Pappschachteln | gestapelte Puppenkartons im Spielzeugladen. | Die schrieben Poesie des Todes, Wiederholung, Wiederholen. | Dann träumte er vom Kochen mit geheimen Mitteln | Zwerglute, Maulkat, Hebenstreu und unverderblich Triomphen. | Das war gute Mahlzeit des lachenden Chirurgen, | der ihn bis auf die Knochen blamierte.

Die Herausgeberin Anna Zika ist Professorin für Theorie der Gestaltung, FH Bielefeld. Von 1996 bis 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin um Lehrstuhl für Ästhetik, FB 5, Universität Wuppertal.

Die Gestalterin Gertrud Nolte führt ihre – botschaft für visuelle kommunikation und beratung – in Düsseldorf. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen für Graphikdesign und Buchgestaltung

Noch lieferbare Veröffentlichungen von Bazon Brock im DuMont Literatur und Kunst Verlag:

Actionteachingvideo „Wir wollen Gott und damit basta“, 1984;

„Die Macht des Alters“, 1998;

„Die Welt zu Deinen Füßen – den Boden im Blick“, 1999;

„Lock Buch Bazon Brock“, 2000.

Erschienen
01.01.2002

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Zika, Anna

Verlag
DuMont-Literatur-und-Kunst-Verlag

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-8321-7149-5

Umfang
953 S.: Ill.; 25 cm

Einband
Gebunden

Seite 523 im Original

IV.18 Graffiti als Menetekel

In einigen hundert Jahren wird sich wohl kaum jemand mehr für den Typus von Graffiti interessieren, den wir heute in unseren Stadtbildern beobachten. Man wird darin keine kultischen Zeichen mehr sehen und erst recht keine heiligen Orte damit bestimmen wollen (wie in Teilen Asiens üblich), denn das würde bedeuten, daß wir unsere Hotdog-Stände als Tempel ausweisen oder ähnliche Örtlichkeiten zu kultischer Bestimmung erheben, also zu etwas, was sie ganz und gar nicht sind.

Wir können es uns im Hinblick auf die heutigen Probleme relativ einfach machen. Ich gehe bei unserer Fragestellung nicht von einer analytischen Durchdringung dieser Zeichen aus, als hätten wir durch Studien herausgefunden, was denn junge Leute dabei denken, wenn sie sprayend durch die Straßen laufen und S- bzw. U-Bahnen mit ihren Zeichen versehen.

Ich sehe dieses Phänomen umgekehrt als etwas an, von dem jeder zu wissen glaubt, was es bedeutet, und bemühe mich, diese Vorurteile wieder loszuwerden. Das heißt, ich versuche, in dieser Sache überhaupt etwas Bedeutsames zu sehen, sie erst einmal als einen problematischen Sachverhalt zu verstehen und zwar im Zusammenhang der Fragestellung von Mythos und Moderne.

Urheberloser Mythos

Äußerungen der Subkultur werden gewöhnlich so verstanden, als stünden sie in Kontrast zu dem, was in den verschiedenen nicht subkulturell diskriminierten Bereichen unserer Gesellschaft geschieht; das ist falsch. Es gibt eine merkwürdige Übereinstimmung der subkulturellen Selbstentäußerungen in Gestalt der Graffiti an Straßenbahnen, Häuserwänden etc. und den Äußerungen in anderen Bereichen, die wir generell als hochkulturell beschreiben und denen wir daher auch eine andere Bedeutung zugestehen als den subkulturellen – insbesondere in den Wissenschaften.

Diese Übereinstimmung besteht darin, daß beide Arten von Äußerungen nicht mehr auf ihre Urheber verweisen. In der Kunstgeschichte bzw. Ästhetik wird der Mythos als ein urheberlos gewordener Aussagenzusammenhang definiert. Ich übertrage dies verkürzt auf die hochkulturelle Äußerungsform „Wissenschaft“. Jede wissenschaftliche Aussage gewinnt ihre Dignität dadurch, daß der geschriebene Text seinen Urheber los wird. An die Stelle des individuellen Subjekts, das diesen oder jenen Satz geschrieben hat, tritt die Anonymität der Wahrheit. Der historische Autor wird von der mythologischen Gestalt der Wahrheit abgelöst.

Mythologisierung ist ein Urheberloswerden von Aussagenzusammenhängen, von denen jeder weiß, daß sie irgendwann von konkreten Individuen geschrieben, gemalt oder gezeichnet wurden – denn anders können diese Dinge nicht in die Welt kommen, als daß sie irgendwann irgendwer zu irgendwelchen Zwecken gemacht hat.

In unserer Tradition der Zuschreibungspraktiken – besonders der Rechtswissenschaft, etwa im Sinne der Verantwortlichkeit – sind wir freilich so fixiert auf die Urheber, daß wir es uns gar nicht anders vorstellen können, als daß jemand durch Schreiben, Zeichnen und Malen seine Individualität zum Ausdruck bringen will. Es gibt dazu weitreichende Theorien über die fortschreitende Individualisierung von Äußerungen, die meiner Ansicht nach gerade deshalb nicht zutreffen, weil sie jenes Gegenmotiv, das Anonymwerden, nicht mehr zu würdigen wissen. Unter anderem ist es in diesen Theorien nicht mehr möglich, etwa in der Wissenschaft, die Autorität der Wahrheit anzuerkennen. Man glaubt, es handele sich um eine Zurücknahme der Verantwortlichkeit der konkreten aussagenerhebenden Individuen, wenn wir uns auf Wahrheit berufen – eine bemerkenswerte Verschiebung des Wahrheitsbegriffs.

Man kann die Moderne anhand ihres Hauptcharakteristikums, der empirischen Wissenschaft, kennzeichnen als eine generelle Form der Mythologisierung. Moderne ist nichts anderes als Mythosbildung in Gestalt der Wissenschaften, sie ist das Urheberloswerden von konkreten historischen Aussagen. In diese Moderne fügt sich die Zeichensprache der Graffiti als ebenfalls anonyme nahtlos ein.

Wir müssen uns daher mit Blick auf die Graffiti eine ganz andere Perspektive angewöhnen, wenn wir die Moderne als Ergebnis der Aufklärung gegen Mythologisierung sehen. Dies ist übrigens auch der Grund, warum in einem „Dritten Reich“ auf höchstem rationalen technischen Standard und mit höchster Entfaltung wissenschaftlicher Anwendungslogiken (etwa im Bereich Ingenieurswissenschaften) der Mythos blühen konnte. Es handelt sich dabei nicht um Verirrungen oder Nebenwege der Geschichte in der Moderne, vielmehr sind dies die entscheidenden Formen, in denen sie in Erscheinung tritt.

Verdammnis der Erinnerung

Graffiti sind Teil der mythischen Moderne, die wir in der Hochkultur der modernen Wissenschaft immer neu reproduzieren. Dies beschreibt sie freilich nur auf einer Ebene. Auf einer anderen Ebene wenden sie sich als aggressive subkulturelle Gesten genau gegen die Hochkultur, mit der ich sie eben in einen Zusammenhang gestellt habe. Sie sind als ostentative Zerstörungsakte eine Form der Liquidation oder, wie das historisch genannt wird, der Damnatio. Wir kennen die Damnatio memoriae vom Beispiel des römischen Kaisers Septimus Severus, der aus der Attika seines Triumphbogens den Namen seines ältesten Sohnes herausschlagen läßt, um damit seine Erinnerung auszulöschen. Solche Stellen der Übermalung, des Herausschlagens, des Wegwischens alter Schichten, des Hineinsetzens neuer Zeichen, solche triumphalen Verdrängungsgesten, Siegeszeichen späterer Epochen, stehen für die Damnatio.

Sie ist also kein Unsichtbarwerden, sondern ein Sichtbarwerden des Unsichtbarmachens und des Auslöschens, ein Zeigen des Unterschiedsloswerdens. Ein ganz erheblicher Anteil heutiger Graffitiaktivitäten ist als solche Damnatio memoriae gedacht, als ein Vorgang des Auslöschens von Distinktionen, von Unterscheidungsmerkmalen. Das läßt sich unter anderem daran zeigen, wie sie sich auf die offiziellen Graffiti beziehen. Jede Straßenbahn fährt mit offiziellen Graffiti in Gestalt von Firmenlogos herum. Sie sind offiziell, weil sie bestimmten formalen Kriterien genügen und vor allen Dingen legal sind. Es wurde für sie bezahlt. Genau auf diese Distinktionen beziehen sich die zudeckenden, auslöschenden Graffiti der Subkultur. Auch hier haben wir es natürlich mit Anonymisierung zu tun. Nichts ist so aus löschend wie die Anonymisierung.

Auslöschen

Ihre Funktion des ostentativen Auslöschens, die Gestik des Überschreibens und der Anonymisierung, macht die Graffiti zu Menetekeln, zu drohenden, unverständlichen Schriftzeichen, die an der Wand erscheinen, ohne daß man wissen könnte, wer sie denn schrieb.

Menetekel finden sich auch in anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Damit meine ich nicht die im Fernsehen vorgeführten Baumstümpfe auf Berghöhen in Thüringen. Man braucht keine Fachwissenschaftler, um diese Bilder als Menetekel zu lesen; aus der Konfrontation mit ihnen folgt aber wenig. Anders etwa die geradezu klassisch in Bilderwitzen immer wieder auftretende Bemalung von Gefängniszellen, in denen die Insassen Strichlisten führen über die Tage, die sie in dem Gefängnis zugebracht haben. Dies ist eine Form von Menetekel, die auf unser Alltagsleben übertragbar ist. Solche Strichlisten legen etwa Büroangestellte an, die die Zahl der Tage bis zum Ferienbeginn markieren, also die Zeit, die vergehen muß, bis man in der Urlaubssonne den Alltag auslöschen, ihm entfliehen kann. Eine Auslöschung, die in die Selbstzerstörung in der bratenden Sonne oder beim Dauerbesäufnis mit Risiko der vollkommenen Vergiftung mündet. (Ich habe einmal mit zwei Polizeipsychologen auf einer Ferieninsel gesprochen: Sie waren fest davon überzeugt, daß das Gros der Klientel die Absicht hat, sich dort selbst zu zerstören. Das gilt natürlich für viele andere zivile Bereiche auch – für unsere Rauch- und Trinkgewohnheiten, unsere Lebensgewohnheiten allgemein. Auch die Gestaltung unseres Alltagslebens läßt sich als Menetekel sehen.)

Mein eindringlichstes Erlebnis der Konfrontation mit einem Menetekel war, als ich mit einem Freund in Frankfurt in einem großen Kino saß. Wir sahen uns in aller Genußoffenheit das Leben und Treiben Neros auf Breitwand an. Als Nero in Gestalt von Peter Ustinov gerade graffitös, das heißt zeichensetzend, die große Damnatio, die Auslöschneutralisierungsanonymisierungstat, Rom in Brand zu stecken, mit der Lyra in der Hand vor der Kamera deklamierte, ging plötzlich das Bild weg, der Ton lief weiter, und wir sahen auf dieser Riesenleinwand ein Dia, ein Schrift- oder Graffiti-Insert: „Herr (hier folgte der Name meines Freundes), bitte sofort nach Hause kommen, der Vater Ihrer Frau ist tot“. Dann verschwand der Insert und Nero fuhr fort in der Ausgestaltung des damals modernen Roms zu der unvergeßlichen Geste einer Damnatio.

Neutralisierung oder Schrecken?

Graffiti entsprechen der Inthronisation von Wahrheit als Autorität. Trifft dies zu, so kann man daraus Rückschlüsse auf die Haltung der jungen Leute ziehen, die genau diese Art von Anonymisierung als Auslöschung betreiben. Jemand, der selbst aus dieser Jugendszene stammt, hat vorgeschlagen, dies Neutralisierung zu nennen. Es war Keith Haring, der mit seinem Verfahren Museumsreife erlangt hat. Mir scheint der Begriff der Neutralisierung allerdings eine Überbetonung einer bestimmten Haltung zu sein, nämlich der Rechtfertigung vor Gericht.

In Amerika sind Sprayer vor Gericht freigesprochen worden, weil sie sich auf das Motiv der Neutralisierung beriefen. Sie sagten aus, sie würden als Individuen von der ubiquitären Logo-Kultur in der Freiheit ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt. Als Bürger, so machten sie geltend, haben sie das Recht, sich gegen diese permanenten Eindrücke zu wehren, indem sie sie neutralisieren. Die auslöschende Anonymisierung ist damit eine Form des zivilen Widerstandes bzw. Ungehorsams. Man hat ihnen darauf übrigens entgegengehalten, daß gegen den zivilen Ungehorsam wenig einzuwenden sei, es handele sich aber um einen unzivilen Ungehorsam. Damit verlagerte sich die Diskussion von der Frage des Ungehorsams und des Widerstandes auf die Unterscheidung von zivilisiert und unzivilisiert (gebildet und barbarisch), womit man wieder bei der justitiablen Form angelangt war.

Die Neutralisation scheint mir aber nicht entscheidend zu sein. Die entscheidende Dimension des anonymisierenden Auslöschens, des mythologisierenden Einsetzens einer anderen Autorität – des Todes oder, wie Horstmann zu diesem Phänomen gesagt hat, der Vermondung der Welt –, ist der Schrecken. Und sicherlich ist der Schrecken für Menschen im Blick auf Zeichengebung dann am größten, wenn sie nicht verstehen, in welchem Sinn diese Zeichen gesetzt sind, wie sie kommunizierbar sind.

Dieser Schrecken – wenn man sich als ausgeschlossen, durch Fremdheit bedroht empfindet – ist viel größer als andere mythologische Schrecknisse. Man hat die Schreckensreaktion auf das Nichtverstehenkönnen, das Nichterschließenkönnen in psychiatrischen Analysen sehr gut belegt. Die psychischen Auffälligkeiten von Menschen, die ähnlich argumentieren oder handeln wie die Sprayer, deuten darauf, daß sie im wesentlichen aus einem unbeherrschbaren Erschrecken vor der Unzugänglichkeit sich selbst gegenüber handeln. Die bekannteste Form dieses Erschreckens ist jene über die Unzugänglichkeit des eigenen Leibes und der eigenen Sinnlichkeit. Hier braucht man nicht mehr die fremdgesetzten Zeichen anderer Menschen, es genügt der grassierende Autismus, die Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen.

Was aber geschieht, wenn jemand vor einem Menetekel erschrickt? Was intendiert diese Fluchtbewegung? Man flieht dorthin, wo man erwarten kann, einen minderen Schrecken zu erfahren: aus dem Unbekannten ins Bekannte, aus der furchtbaren Dunkelheit in die Helligkeit, aus der Orientierungslosigkeit in die Areale, in denen man sich orientieren kann.

Genau für diese Bereiche steht der Begriff der Geschichte. Geschichte ist der Ort, an dem, sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht, Orientierung und Strukturierung möglich ist.

Geschichte schreiben ist das Vertrautmachen, das Durcharbeiten des Materials, mit dem ich umgehe.

Das ist der bemerkenswerteste Sachverhalt in der Problematisierung heutiger Sprayerpraktiken: Die auslöschenden Anonymisierer in der Fluchtbewegung sind von einem ungeheuren Respekt vor der Geschichtlichkeit der Bauten und der Kulturdenkmäler erfüllt. Es gibt unter ihnen einen regelrechte Wettkämpfe darin, sich der Geschichte zu bemächtigen, analog einer wissenschaftlichen Aneignung.

Damnatio oder Apotropeion?

Diese Dynamisierung der Geschichte als eines Fluchtorts steht freilich in Konkurrenz zu dem apotropäischen Gebrauch der Graffiti-Zeichen. Das Apotropeion ist ursprünglich das Feldzeichen mit den eroberten heraldischen Zeichen der Gegner, die im Tympanon eines Tempels angebracht oder eingemeißelt werden. Wir verwenden den Ausdruck im Sinn einer magischen Abwehr. Sie betreiben solchen Zeichengebrauch, wenn Sie bei unsicherem Wetter mit einem Regenschirm aus dem Haus gehen, weil Sie hoffen, daß es dann gewiß nicht regnet: der Regenschirm funktioniert als Apotropeion gegen den Regen.

Es ist häufig gefragt worden, ob sich die Sprayer in aller Radikalität der egalisierenden Damnatio, der Inthronisierung der Wahrheit gegenüber den angemaßten Individualitäten von Unternehmern und Firmen wirklich ihrer Handlungen bewußt sind – oder ob sie nicht vielmehr das Zeichen ausschließlich apotropäisch im Sinne eines Abwehrzaubers benutzen. Das könnte schon zutreffen, allerdings nicht in dem naiven Sinn wie der geschilderte Regenschirmgebrauch. Der Gebrauch eines Apotropeions birgt natürlich wie jede Form von magisch-animistischem Denken ein ungeheures Risiko. Es zieht geradezu die abzuwehrenden selbstzerstörerischen Kräfte wie Angst und Furcht auf sich selbst.

Die Geschichte der Tätowierung in den unterschiedlichsten Kulturen bietet für die animistische Abwehr durch Zeichen die besten Beispiele. Hier – wie überhaupt in der gesamten Tradition des ornamentalen Gestaltens – wird der Aspekt der Damnatio ganz offensichtlich. Geht man nicht nur von den Seemannsweibchen auf der Brust aus, sondern von den ernstzunehmenden Mustern der Tätowierungsgraffiti, dann läßt sich zeigen, daß sie eine Camouflage vor der Autodestruktion sind: Es geht darum, vor sich selbst unsichtbar zu werden. Die Tätowierung ist wie ein Tarnnetz, das man sich über den Körper streift. Man verwandelt den Arm in den Zweig des Lorbeerbaumes, sich selber in die florale Ornamentik, in die Topographie der Wüste, des Gebirges etc. Hier finden wir eine sehr eindeutige Form der Anonymisierung, des Unsichtbarwerdens, des Auslöschens eines Individualisierungsanspruchs, den der normale Alltagsmensch nicht erfüllen kann und gegen den er um so radikaler vorgeht, als wenige andere ostentativ bekunden, Individualisierung erreicht zu haben.

Ergreift die Flucht!

Was uns die Sprayer mit ihren Menetekeln sagen wollen, ist: Ergreift die Flucht! Es geht nicht um den Schrecken allein, sondern um das Initiieren einer Bewegung, weg: in Richtung des Fluchtpunkts der Geschichte.

Dieser Begriff ist natürlich der Kunstgeschichte entnommen und meint nicht nur den Zielpunkt des Flüchtens und Weglaufens. Der Fluchtpunkt ist vielmehr auch der Punkt in einem gegebenen Wahrnehmungsfeld, auf den hin sich die entscheidenden Linien des gesamten Bildaufbaus orientieren. Es ist der Orientierungspunkt, der Fixpunkt. Genau das bezeichnet auch die geschichtliche Erfahrung, bzw. das, was wir meinen, wenn wir von Geschichte sprechen und in ihr Dialoge unter Toten führen.

Reden wir so über Graffiti, gehen wir weit über die Erörterungen hinaus, die etwa Cohn-Bendit führt, wenn er sagt, den Kids müßte doch erlaubt sein, sich die Stadt anzueignen, wie sie wollen. Er versteht das Sprayen damit als eine Art Jugendstreich, aus Lust die Wände zu beschmieren. Das ist ebenso kurz gefaßt wie der Rückverweis auf alte zivilisatorische Anstrengungen, wie sie im Streit zwischen Dürr und Elias thematisiert werden: Bei Graffiti geht es um mehr als das Durchbrechen alter Tischzuchten, um mehr als um den Verstoß gegen normative Verhaltensvorschriften für Menschen in Gesellschaft.

Die von mir hier versuchte Skizzierung des Problems dürfte auch fruchtbarer sein als die Überlegungen von Verhaltensforschern, die meinen, es handele sich bei diesen Sprayern um eine Art Analogie zur tierischen Territorialmarkierung – Sprayer würden ihre Logos setzen, um ihre Territorien oder die ihrer Gruppen oder Gangs zu signalisieren. Dies trifft nur den rein heraldischen Gebrauch. Sie übertrifft auch die von Kriminologen bevorzugte Lesart, die immer noch die Erinnerung an das Zinkenrotwelsch in diese Graffiti hineinlesen und unter Zuhilfenahme von Polizeipsychologen die abstrusesten Aussagen über die Befindlichkeit der Kids machen, die sich indes dabei nur ins Fäustchen lachen, oder, wie das New Yorker Richterbeispiel zeigt, überlegen, wie man mit Justizbehörden Katz und Maus spielt.

Das sind Erklärungen, die wir heute bestenfalls im Bereich der Unterhaltung goutieren können, die aber das Phänomen nicht begreifen.

Denn schließlich kommt es darauf an zu erkennen, was uns an diesem Phänomen eigentlich zu interessieren hat. Die Graffiti leiten – ähnlich wie das Haupt der Medusa – eine Abwendung erzwingende Bewegung zur Flucht ein.

Wer in der aktuellen Lebensgegenwart keinen Anlaß zum Fliehen hat, braucht die Geschichte nicht. Und wer einer schreckenerregenden, furchterregenden Unbekanntheit begegnet, die Quelle der Furcht aber nicht zerstören oder verdrängen will, dem bleibt gar nichts anderes als die Flucht zum Bekannten. Das ist schließlich das Fruchtbarste, was jede Art von Avantgarde-Tätigkeit erreichen kann. Die Graffiti-Artikulationen sind eine Avantgarde des sozialen Verhaltens. Sie sind unzugänglich, unbekannt etc., und wir ergreifen vor ihnen aus einleuchtenden Gründen den Weg zurück zu dem, was uns bekannt erscheint.

Mit anderen Worten, hier erfüllt sich die Avantgarde tatsächlich, wenn sie das fremde, neue, undurchdringliche Unbekannte ist, durch das man sich die Tradition und Geschichte neu orientiert, so daß uns die Geschichte selber wieder als ein Lebensraum, die Tradition selber als eine Gegenwart erscheint.

Die Geschichte ist gegenwärtig, denn sonst hätte sie uns für die Zukunft nichts zu sagen. Also verdanken wir der Reaktion auch auf die Graffiti die ständige Vergegenwärtigung der Geschichte unter einem perspektivischen Gesichtspunkt.

Bisher hat noch niemand aus der Zukunft berichten können, wenn er nicht von historischen Zukünften sprach, also als Geschichtsschreiber. Deswegen bleibt es bei der Disziplin der Geschichte. Und je weiter zurück wir die Freiheit entwickeln, Geschichte zu schreiben und zu erzählen, desto weiter trägt uns diese Perspektive im Fluchtpunkt. Denken Sie daran, wenn Sie die nächsten Graffiti sehen, die nächsten Vermummten, die nächsten Radaubrüder etc.: denken Sie daran, was Sie denen an Selbstkonfrontation verdanken.

siehe auch: