Buch Der Barbar als Kulturheld

Bazon Brock III: gesammelte Schriften 1991–2002, Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist

Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.
Der Barbar als Kulturheld, Bild: Umschlag.

„In Deutschland gehört zu den wichtigsten Aktivisten auf diesem Feld (der Massentherapie) gegenwärtig der Performance-Philosoph Bazon Brock, der nicht nur eine weit gestreute interventionistische Praxis aufweisen kann, sondern auch über eine ausgearbeitete Theorie des symbolischen Eingriffs verfügt.“ Peter Sloterdijk in Die Verachtung der Massen, Frankfurt am Main, 2000, Seite 64

„Mit welchem Gleichmut Brock das Zähnefletschen der Wadenbeißer ertrug, die ihm seinen Erfolg als Generalist verübelten ... Bazon Brock wurde zu einer Symbolfigur des 20. Jahrhunderts, von vielen als intellektueller Hochstapler zur Seite geschoben und von einigen als Poet und Philosoph verehrt ... Er konnte wohl nur den Fehler begehen, sein geniales Umfassen der Welt nicht nur zu demonstrieren, sondern es lauthals den anderen als eine legitime Existenzform vorleben zu wollen.“ Heinrich Klotz in Weitergeben – Erinnerungen, Köln 1999, Seite 107 ff.

Sandra Maischberger verehrt Bazon Brock wie eine Jüngerin. Denn täglich, wenn es Abend werden will, bittet sie mehrfach inständig: „Bleiben Sie bei uns“ und sieht dabei direkt dem n-tv-Zuschauer Brock ins Auge. Also gut denn: „solange ich hier bin, stirbt keiner“, versicherte Bazon schon 1966 auf der Kammerspielbühne Frankfurt am Main. Erwiesenermaßen hielt er das Versprechen, weil ihm sein Publikum tatsächlich vorbehaltlos glaubte. „Dies Ihnen zum Beispiel für den Lohn der Angst Sandra, bleiben Sie bei uns“.

Bazon Brock hat in den vergangenen Jahrzehnten mit Schriften, Ausstellungen, Filmen, Theorieperformances /action teachings die Barbaren als Kulturhelden der Moderne aller Lebensbereiche aufgespürt. In den achtziger Jahren prognostizierte er die Herrschaft der Gottsucherbanden, der Fundamentalisten in Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik. Ihnen setzte Brock das Programm Zivilisierung der Kulturen entgegen.

Gegen die Heilsversprecher entwickelte er eine Strategie der Selbstfesselung und die Ästhetik des Unterlassens mit dem zentralen Theorem des verbotenen Ernstfalls. Das führt zu einer neuen Geschichtsschreibung, in der auch das zum Ereignis wird, was nicht geschieht, weil man es erfolgreich verhinderte oder zu unterlassen vermochte.

1987 rief Brock in der Universität Wuppertal die Nation der Toten aus, die größte Nation auf Erden, in deren Namen er den Widerruf des 20. Jahrhunderts als experimentelle Geschichtsschreibung betreibt.

Protestanten wissen, es kommt nicht auf gute und vollendete Werke an, sondern auf die Gnade des Himmels. Deswegen etablierte sich Brock von vornherein, seit 1957 als einer der ersten Künstler ohne Werk, aber mit bewegenden Visionen, die von vielen
übernommen wurden; z.B. „Ich inszeniere Ihr Leben – Lebenskunstwerk“ (1967), „Die neuen Bilderkriege – nicht nur sauber, sondern rein“ (1972), „Ästhetik in der Alltagswelt“ (1972), „Zeig Dein liebstes Gut“ (1977), „Berlin – das Troja unseres Lebens und forum germanorum“ (1981), „Wir wollen Gott und damit basta“ (1984), „Kathedralen für den Müll“ (1985), „Kultur diesseits des Ernstfalls“ (1987), „Wir geben das Leben dem Kosmos zurück“ (1991), „Kultur und Strategie, Kunst und Krieg“ (1997). „Hominisierung vor Humanisierung“ (1996), „Moderator, Radikator, Navigator – die Geschichte des Steuerungswissens“ (1996).

Deutsch sein heißt schuldig sein – Bazon versucht seine schwere Entdeutschung mit allen Mitteln in bisher mehr als 1.600 Veranstaltungen von Japan über die USA und Europa nach Israel. Gegen den dabei entstandenen Bekenntnisekel beschloß jetzt der Emeritus und elder stageman des Theorietheaters, sein Leben als Wundergreis zu führen, da Wunderkind zu sein ihm durch Kriegselend, Lagerhaft und Flüchtlingsschicksal verwehrt wurde.

Ewigkeitssuppe | 850.000 Liter des Tänzerurins | im Tiergarten, die wurden Blütenpracht. | Er sah die Toten der Commune in Pappschachteln | gestapelte Puppenkartons im Spielzeugladen. | Die schrieben Poesie des Todes, Wiederholung, Wiederholen. | Dann träumte er vom Kochen mit geheimen Mitteln | Zwerglute, Maulkat, Hebenstreu und unverderblich Triomphen. | Das war gute Mahlzeit des lachenden Chirurgen, | der ihn bis auf die Knochen blamierte.

Die Herausgeberin Anna Zika ist Professorin für Theorie der Gestaltung, FH Bielefeld. Von 1996 bis 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin um Lehrstuhl für Ästhetik, FB 5, Universität Wuppertal.

Die Gestalterin Gertrud Nolte führt ihre – botschaft für visuelle kommunikation und beratung – in Düsseldorf. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen für Graphikdesign und Buchgestaltung

Noch lieferbare Veröffentlichungen von Bazon Brock im DuMont Literatur und Kunst Verlag:

Actionteachingvideo „Wir wollen Gott und damit basta“, 1984;

„Die Macht des Alters“, 1998;

„Die Welt zu Deinen Füßen – den Boden im Blick“, 1999;

„Lock Buch Bazon Brock“, 2000.

Erschienen
01.01.2002

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Zika, Anna

Verlag
DuMont-Literatur-und-Kunst-Verlag

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-8321-7149-5

Umfang
953 S.: Ill.; 25 cm

Einband
Gebunden

Seite 416 im Original

IV.1 Strategien der Ästhetik

Kurzfassung für Eilige

Alle Menschen verfügen (im Normalfall) über das gleiche neurophysiologische Substrat, das wir umgangssprachlich Gehirn nennen. Auch die Funktionsweisen aller menschlichen Gehirne, der zentralen Nervensysteme, sind gleich. Warum aber fallen unsere Gedanken und Vorstellungen, Meinungen und Urteile so unterschiedlich aus, daß wir den Eindruck haben, Menschen lebten in ganz unterschiedlichen, je eigentümlichen Denk-, Vorstellungs- und Erfahrungswelten – so unterschiedlich, daß die Menschen sich nur unter ungeheuren Anstrengungen verständigen, geschweige denn verstehen können? Das gilt auch für Angehörige einer Sprach- und Kulturgemeinschaft, ja sogar für das Verhältnis zu vertrauten Lebenspartnern (allerdings sind bei Angehörigen einer Gemeinschaft die Folgen des Mißverstehens oder Nichtverstehens weniger gravierend – immerhin ein Vorteil enger, sozialer Bindungen). Eine Antwort auf die Frage liegt in der Annahme, daß die staunenswerten Leistungen unseres Gehirns ermöglicht wurden, weil sich in der Evolution immer geschlossenere, spezifischere Leistungen des Gehirns herausbildeten, was zugleich die Art und Zahl der Kooperationen dieser spezifischen Leistungstypiken enorm erhöhte. Die für den Menschen wahrscheinlich bedeutendste Form des Zusammenwirkens unserer spezifischen, neurophysiologischen Potentiale liegt in der Entwicklung unserer Sprachlichkeit – das gilt sowohl für die Leistungen des individuellen Bewußtseins wie für die Vermittlung zwischen den einzelnen Individuen. Wenn wir Sprachlichkeit primär als Zeichenverwendung verstehen, wird die ungeheure Vielfalt des Umgangs mit Zeichen deutlich. Zwar unterliegt die Verknüpfung von Zeichen (ihre syntaktische Dimension) gewissen Regeln; zwar kann die Zuordnung von Zeichen auf das Bezeichnete (die semantische Dimension) nicht schlechthin beliebig gewählt werden; zwar ist der praktische Gebrauch von Zeichen weitgehend auf relativ wenige Zwecke (die Pragmatik des Überredens, Überzeugens, der generellen Akzeptanz) ausgerichtet – aber die Wahrscheinlichkeit einer weitgehend gleichsinnigen Form des Zusammenspiels dieser Faktoren ist rein rechnerisch so gering, wie wir sie in der Selbst- und Fremdwahrnehmung tatsächlich erleben. Deswegen versucht man, den Sprachgebrauch zu konventionalisieren bis hin zur dogmatisch festgelegten Eindeutigkeit. Gerade dadurch verlieren wir unsere schöpferische Fähigkeit (individuell und kollektiv) zur Anpassung an veränderte Situationen der Lebensbewältigung. Es gilt also, eine Balance zwischen unumgänglichen Konventionen und hinreichenden Abweichungen von normiertem Sprachgebrauch zu finden. Dazu bedienen wir uns explizit oder implizit gewisser Strategien. Hier werden nur Strategien der Ästhetik angesprochen, also Strategien des produktiven Umgangs mit Worten, Bildern, Gesten, mit Konzepten, Plänen, Programmen, denn ich verstehe die Ästhetik als Frage nach den Relationen zwischen Denken, Sprechen und Handeln oder als Frage nach dem Verhältnis von intrapsychischen Prozessen, ihren sprachlichen Vergegenständlichungen und ihren Auswirkungen auf die Kommunikation.

Ich gehe ein

  1. auf die künstlerischen und wissenschaftlichen Strategien der Abkoppelung von Zeichen und Bezeichnetem, von Anschauung und Begriff, von Inhalt und Form (Reißverschluß der Konvention),
  2. auf die Strategie der Problematisierung; Probleme verstehen sich nicht von selbst, ihre Lösungen sind der Ausgangspunkt neuer Probleme (der Künstler als Problemfindungsexperte),
  3. auf die Strategie des Ruinierens; die Ruine als Form der Vermittlung zwischen Konzept und Realisierung, warum Vollendung tödlich ist (Destruktion als produktive Kraft),
  4. auf die Strategie der Musealisierung als Möglichkeit, Vergangenheit und Zukunft zur konkreten Ausformung von Zeitgenossenschaft zusammenzuschließen, die Gegenwart des Abwesenden (Zeit-Management),
  5. auf die Strategie des Unterscheidens, um zur Einheit des Unterschiedenen zu finden.
    Der Prozeß der Regionalisierung und der Behauptung von Kulturautonomie findet seine Einheit nicht in der Multikultur, sondern in einer universellen Zivilisation (die Moderne als Versuch, den permanenten Kulturkämpfen zu begegnen).

Ästhetik

Die Ästhetik, wie ich sie betreibe, beschäftigt sich mit folgenden Problemen:
Wie können Menschen ihre Gedanken, Vorstellungen und Gefühle so „ausdrücken“, daß sie von anderen Menschen verstanden werden? Wir alle machen die Erfahrung, daß es ungeheuer schwer ist, sich anderen Menschen verständlich zu machen und die Gedanken, Vorstellungen und Gefühle Anderer so zu verstehen, daß sie sich verstanden wissen. Wir machen auch alle die Erfahrung, selber nicht ganz genau zu wissen, was wir denken, vorstellen oder fühlen, bevor wir nicht versuchen, diese unsere intrapsychischen Aktivitäten auszudrücken. Wir erleben, überrascht durch die Reaktionen unserer Gesprächspartner, daß wir offenbar in Worten, Bildern, Gesten und Mimik etwas gesagt haben, wovon wir nicht wußten, daß wir es überhaupt gedacht oder vorgestellt haben. Wir sagen dann, der Versuch, uns auszudrücken, bringe uns auf ganz neue Gedanken. Wenn das der Fall ist, erleben wir das Bemühen, uns anderen verständlich zu machen, als fruchtbar. Als unfruchtbar empfinden wir Gespräche, in denen beide Partner nur immer wiederholen, was sie nun einmal zu meinen glauben, ohne daß sich durch das Gespräch die Positionen verändern. Wir sagen dann, unsere Partner monologisierten nur – sie könnten und wollten nicht verstehen. Wir gehen also – wie selbstverständlich – von der Annahme aus, Verstehen sei nicht nur ein Austausch von eindeutig ausgedrückten Gedanken und Vorstellungen (kurz Informationen genannt); offenbar fühlen wir uns wechselseitig nur verstanden, wenn sich die Positionen der Gesprächspartner durch das Gespräch so ändern, daß beide nach dem Gespräch irgendwie anders denken, vorstellen oder fühlen als zuvor. Wenn das gelingt, sagen wir, wir hätten tatsächlich mit unserem Partner kommuniziert. Was heißt das? Es ist durch das Gespräch gelungen, zwischen den Gedanken und Vorstellungen der Partner, zwischen ihren intrapsychischen Prozessen, ihrem je eigenen Bewußtsein eine Verbindung herzustellen. Wodurch ist das erreicht worden? Ganz offensichtlich durch die Benutzung von Sprachen, in denen wir uns auszudrücken versuchen. Diese Wort- und Bildsprachen, diese Körpersprache und sprechenden Umstände des Ortes und der sozialen Zusammenhänge verfügen über eigene Gesetzmäßigkeiten oder Eigenschaften (Regeln), die keiner der Gesprächspartner selber geschaffen hat, sondern die sie gemeinsam vorfinden und die sie sich angeeignet haben. Die Fähigkeit zu solcher Aneignung von Sprachen besitzen wir von Natur aus; wie wir von dieser Fähigkeit Gebrauch machen, hängt von unserer Sozialisierung ab, also von der Art und Weise, wie wir von Kindesbeinen an in Sprachgemeinschaften eingeführt und aufgenommen werden. Die Sprachen, die wir uns aneignen, sind also gemeinschaftsstiftend, weil sie auch von anderen verwendet werden. Allerdings bedienen wir uns der Sprachen, um unsere ganz individuellen intrapsychischen Aktivitäten des Denkens, des Vorstellens und des Fühlens auszudrücken. Da wir das eben in Sprachen tun, die nicht die unseren sind, sondern die einer Gemeinschaft, werden wir nie hundertprozentig genau das sagen können, was wir meinen und auch nie hundertprozentig durch Andere genau in dem Sinne verstanden werden können, den wir unseren Ausdrücken geben – wer sich einer Sprache bedient, die ganz und gar seine eigene ist, wird sich überhaupt nicht verständlich machen können – eines der Leiden, die man in psychiatrischen Krankenanstalten zu lindern versucht.

Jeder, der Sprachen verwendet, muß damit rechnen, daß zwischen dem, was er an Gedanken und Vorstellungen ausdrücken will, und den sprachlichen Ausdrucksformen eine Differenz bestehen bleibt. Die Verwendung der gleichen Sprachformen, Worte, Sätze, Bilder, Gesten garantiert nicht, daß ihre Verwender das gleiche meinen, es sei denn, man legte wie die Mathematiker eine eineindeutige Zuordnung von sprachlichen Zeichen und ihren Bedeutungen fest. Solche Konventionalisierungen des Zeichengebrauchs werden immer wieder auch für die soziale Kommunikation des Alltags versucht, aber jeder weiß, daß solche für alle geltenden eindeutigen Zuordnungen von Zeichen und ihren Bedeutungen nur um den Preis erzwungen werden können, individuelles Bewußtsein nicht mehr repräsentieren zu dürfen. Das kennzeichnet Ideologien, also Sprachnormierungen, von denen sich politische oder religiöse Fanatiker die Kontrolle darüber erhoffen, was ihre Klientel denkt, fühlt oder vorstellt. Bei solcher hochgradigen Konventionalisierung riskiert man aber, daß die Kreativität von Menschen schlagartig verloren geht. Denn das, was wir als schöpferisches Vermögen von Menschen erfahren, liegt in der Fähigkeit, sich von Denk- und Sprachkonventionen so weitgehend wie möglich zu entfernen, ohne daß die soziale Kommunikation zusammenbricht. Schöpferische Menschen sind also diejenigen, die die Differenz zwischen Gedanken, sprachlichem Ausdruck und dessen Aneignung (Verstehen) durch andere Menschen nicht nur auszuhalten vermögen, sondern dazu nutzen, selber auf andere Gedanken zu kommen. Im konventionellen, dogmatisierten Sprachgebrauch der Kommunizierenden kann sich dieses Neue kaum einstellen. Wo es sich aber einstellt, wenn also Menschen als Schöpfer neuer Konzepte, neuer Produkte, neuer Formen, neuer Sichtweisen in Erscheinung treten, können sie für die soziale Kommunikation nur produktiv werden, wenn alle Beteiligten damit zu rechnen gelernt haben, das ihnen bisher Unbekannte probeweise zu tolerieren. Dazu fordern wir mit der alltäglichen Ermahnung auf: „Lassen Sie den Mann doch erstmal ausreden“, damit wir uns im eigenen Interesse nicht der Chance berauben, etwas Neues zu erfahren, wodurch wir unsere eigene kommunikative Fähigkeit erhöhen könnten.

Lernen heißt also immer, neue, möglichst leistungsfähigere sprachliche Brücken zwischen individuellen Bewußtseinen und der sozialen Kommunikation zu bauen. Lernen heißt also, immer weitergehend unser Denken und unsere Vorstellungen zu verändern, also immer fähiger zu werden, mit undogmatischem sprachlichem Zeichengebrauch umgehen zu können und damit den Grad unserer Freiheit von den Zwängen des eigenen, nur um sich selbst kreisenden Denkens und der Verwendung normierter Sprache zu erhöhen. Erst in dieser Freiheit sind wir in der Lage, uns veränderten Situationen und Aufgabenstellungen, anderen Individuen und anderen Gemeinschaften gegenüber anzupassen. Erhöhte Anpassungsfähigkeit führt also nicht zur Einpassung oder Einzwängung in ein konventionelles, vorgegebenes Schema, sondern ist die Voraussetzung dafür, sich von Schematismen der Denk- und Sprachkonventionen so weitgehend wie möglich freizumachen.

Strategien der Ästhetik

Ich behaupte nun, daß es eine Reihe von Strategien gibt, solche Kreativität als Fähigkeit zur Abweichung vom konventionalisierten Sprachgebrauch zu fördern. Ich nenne sie Strategien der Ästhetik, denn unter Ästhetik fasse ich ja das Verhältnis von den unterschiedlichsten sprachlichen Zeichen zu den intrapsychischen Prozessen der Kommunizierenden, also der Sprecher und Zuhörer, der Schreibenden und Lesenden, der Bildgebenden und Bildbetrachtenden. Allen Prozessen der Vermittlung von individuellem Bewußtsein und sozialer Kommunikation durch die Verwendung von Sprachen kommen außer der ästhetischen auch eine ethische und eine auf Wahrheitsfragen ausgerichtete Dimension zu. Die beiden letzteren kann ich hier aber nicht berücksichtigen.

1. Reißverschluß der Konvention

Die gegenwärtig meist diskutierte Entkoppelung von Zeichen und Bezeichnetem besagt, daß sich vornehmlich in den elektronischen Massenmedien der Bilderzeugung die Möglichkeit entwickelt habe, nur noch mit Bildern ohne spezifische Bedeutung zu operieren. Man spricht von der Abkoppelung der Bilder von ihren Referenten. In der Wirtschaft ist dieses Problem durch einen Typus von Werbung für Produkte bekannt geworden. Die Text-Bild-Kombinationen solcher Werbung haben mit den ursprünglich zu bewerbenden Produkten nichts mehr zu tun – skandalträchtiges Beispiel solchen Abkoppelns der Werbung von den Produkten liefert die Firma Benetton, deren Kampagnen eine eigenständige Bildwelt schaffen, die als Image der Firma beschrieben wird. Nur auf dieses Image, diese identifizierbare Zeichen- und Bilderwelt komme es an, also auf den „bloßen“ Namen der Firma, egal, was sie produziert oder dienstleistet.

Wir empfinden das als Zumutung – wie jede kreative Leistung. Da wir hier nicht Moral- und Wahrheitsfragen berücksichtigen, sondern nur die ästhetische Ebene, ist es nicht unangemessen, darauf hinzuweisen, daß nach dem Benetton-Prinzip im Allgemeinen und Konkreten die Strategien der Innovation betrieben werden. Dafür quer durch die Geschichte und die Disziplinen einige Beispiele:

Als man die hölzernen, archaischen Kultbauten Griechenlands durch Steinbauten ersetzte, verwandelte man an diesen dorischen Tempeln alle funktionsbedingten Merkmale der Holzbauten zu rein dekorativ-ornamentalen Merkmalen der Steinbauten. Man koppelte die Funktionen also von ihrer Lesbarkeit als Architektur ab und entwickelte so einen neuen Stil.

Professor Wankel konnte den nach ihm benannten Motor schaffen, weil er fähig war, das herkömmliche Beziehungsgefüge von Anordnung der Motorteile und ihrer Funktionen zu entkoppeln. Er veränderte unseren Blick auf den herkömmlichen Motor mit dem revolutionären Gedanken, den Motor selber motorisch werden zu lassen, also den Motor sich drehen zu lassen, anstatt ihn als unbewegten Beweger wie herkömmlich aufzufassen.

Der Jahrhundertkünstler René Magritte kam zu seinen heute allgemein aufgegriffenen Zeichenerfindungen, indem er die konventionelle Bindung von Bild und Begriff löste. Einerseits zwang er ungewöhnliche Begriffe zu einer neuen Einheit mit bekannten Bildern, andererseits kombinierte er alltägliche Begriffe mit bisher nicht bekannten Bildverschachtelungen. Oder er ließ als Bild die auf Leinwand gemalten Worte Wolken, Baum, Horizont sich mit unseren Vorstellungsbildern dieser Wolken etc. verbinden, ohne sie auf dem Gemälde überhaupt zu visualisieren. Das Entkoppeln von Anschauung und Begriff, von Inhalt und Form, von Zeichen und Bezeichnetem ist der Kernbestand aller planmäßigen Versuche, innovativ zu sein. Die Psychologie der Kreativität hat das Entkoppeln zur Findungstechnik ausgearbeitet, z.B. im sogenannten Brainstorming, in dem die Teilnehmer angehalten werden, sich möglichst von konventionellem Gebrauch von Begriffen und Anschauungsweisen freizumachen, ihre Vorstellungskraft von den Fesseln der Denkkonventionen und Zeichengebungen zu lösen, um Probleme so zu betrachten, wie man sie bisher nicht sehen konnte.

2. Der Künstler als Problemfindungsexperte

Lange galten Künstler als Kreative schlechthin. Es gelang ihnen immer wieder, neue Bildzeichen für bekannte, z.B. biblische Texte zu finden. Wie machten sie das? Indem sie die Zuordnung von Bild und Text, von Anschauung und Begriff generell zum Problem werden ließen, anstatt zu behaupten, sie könnten zu jedem Text die optimale, eindeutige Bildentsprechung liefern. Sie behaupteten nicht länger, für jeden Inhalt eine hundertprozentig übereinstimmende Form zu finden, sondern wurden schöpferisch durch die grundsätzliche Thematisierung des Verhältnisses von Inhalt und Form. Wo die Alltagsmenschen mit konventionell starren Beziehungen von Anschauung und Begriff, von Denken und Zeichengebung operierten und meinten, daß ein Problem der Kommunikation gelöst sei, wenn man sich nur richtig in Worten und Bildern ausdrücken könne, entdeckten die Künstler, daß mit jeder angeblichen Problemlösung nur wieder neue Probleme entstehen.

Heute ist diese Erkenntnis der Künstler in allen Handlungsbereichen verbreitet. Der Bau von Atomkraftwerken als Lösung des Energieproblems hat neue, sogar größere Probleme zur Folge; die Rationalisierung in der Produktion verstärkt das soziale Problem der Arbeitslosigkeit etc. In der europäischen Kunstgeschichte seit der Renaissance wurde dieser Sachverhalt immer schon gesehen, weshalb die Geschichte der Künste eine Geschichte der Problemfindung ist. Die einzelnen Künstler gelten als umso bedeutender, je weniger ihre Nachfolger behaupten konnten, die Problemstellungen ihrer Vorgänger tatsächlich gelöst zu haben. Einen Höhepunkt dieser Problemfindungen durch Künstler stellen die sogenannte monochrome Malerei oder die Konzeptkunst dar. Dem Alltagsmenschen fällt es schwer, die künstlerische Leistung zu akzeptieren, die darin liegt, die Unterscheidung einer weiß-monochromen Papierfläche von der weißen Wand, auf der sie in einer Galerie hängt, zum Thema der künstlerischen Operation zu machen. Weil es den meisten Laien nicht gelingt, in dieser subtilen Unterscheidung monochromer Flächen ein Problem zu sehen, halten sie die monochrome Malerei für bedeutungslos. Generell ist uns alles bedeutungslos, was wir nicht zum Thema machen können, sei es, daß uns Probleme nicht interessieren, weil sie nicht die unseren sind, sei es, daß wir uns durch Konventionen davor schützen, etwas für selbstverständlich Gehaltenes problematisch werden zu lassen. Thematisieren, also problematisieren zu können, ist die Bedingung der Möglichkeit, sich etwas Neues einfallen zu lassen.

3. Destruktion als produktive Kraft

Eine radikale Form der Entkoppelung von Inhalt und Form und eine extreme Form der Problematisierung ist das Zerstören, dem wir uns schon als Kleinkinder neugierig widmen. Immer schon ist Menschen aufgefallen, daß zwischen Zerstören und Neuschaffen, Niederreißen und Aufbauen ein merkwürdiger Zusammenhang besteht. So formulierte man eine griechische Philosophenmaxime in die Redensart um: Der Krieg sei der Vater aller Dinge.

Im Griechischen steht aber nicht „Krieg“, sondern wörtlich „Polemik“, also der Wettstreit, der Widerspruch, der Kampf der Gegensätze. Krieg ist die radikalste Form solchen Widerstreits. Der Nationalökonom Schumpeter hat das Verhältnis von Zerstören und Schaffen als entscheidenden Antrieb dargestellt; eine Behauptung, der man sich schwerlich verschließen kann. Mehr oder weniger akzeptieren wir so etwas wie eine produktive Destruktion in bestimmten Grenzen, wenn ihr der Aufbau von etwas Neuem folgt. Destruktion ohne Neuschöpfung akzeptieren wir nicht. Wir nennen solche Destruktion seit antiken Zeiten barbarisch, aber die Crux ist, daß selbst barbarische Zerstörung rettend sein kann. So haben die historischen, die germanischen Barbaren zu einem guten Teil antike Kulturzeugnisse gerade deshalb überleben lassen, weil sie sie zerstörten – und Trümmer/Ruinen nun einmal weniger die Zerstörungsenergien auf sich lenken als unversehrte Objekte. Heute ist es geradezu erwartbar, daß sich Barbareien doch in bestimmter Hinsicht als kulturschöpferisch erweisen; das gilt für die Barbarei der Pornografie, des Fast Food-Konsums, der kulturellen Durchmischung (wenn sie tatsächlich stattfindet) und für ähnliche Probleme.

Künstler waren seit langem auf die schöpferische Destruktion ausgerichtet, z.B. im Werktypus der Collage. Die Collage besteht aus der Zusammenfügung fragmentierter, ruinierter Ausgangsmaterialien. Warum empfanden die Künstler diese Form des Ruinierens als so produktiv? Warum überzeugte der Dekonstruktivismus als Zerlegungs- und Rekombinationstechnik? Wenn wir uns erinnern, daß Gemälde spannungsvolle, neue Einsichten eröffnende Beziehungen von Zeichen und Bedeutungen bieten; und wenn wir unserer Erfahrung trauen, daß der Kitsch deswegen so stumpfsinnig wirkt, weil die Kitschobiekte Vollendung, d.h. eine endgültige, hundertprozentige Übereinstimmung von Inhalt und Form behaupten, dann können wir sagen, daß der Ruinencharakter alles Geschaffenen die beste, produktivste Vermittlung von Gedanken und Vorstellungen, von Plänen und Programmen einerseits und ihrem Ausdruck respektive ihrer verwirklichenden Ausführung andererseits darstellt. In diesem Sinne können wir Ruinieren als eine ästhetische Strategie auffassen. Alles Geschaffene ist nur ein vergängliches Gleichnis und wert, daß es durch Neugeschaffenes ersetzt wird – so ungefähr sagen es die Dichter. Was bleibt, sind die Ruinen, die jedoch gerade deshalb so aussage- und erkenntnisträchtig sind, weil sie uns zwingen, ihnen Gedanken und Konzepte zuzuordnen, die sich in ihnen nur noch spurenweise andeuten. Und sie machen uns produktiv, indem sie uns zur Imagination ihrer ursprünglichen historischen Gestalt veranlassen. Beispiel: Die fragmentierten, antiken Statuen und Architekturen sind für uns interessanter, also stimulierender als in ihrer ursprünglichen Gestalt, die uns Restauratoren probeweise vor Augen stellen.

4. Zeit-Management

Die Musealisierung von Kulturzeugnissen ist die bislang leistungsfähigste Form, die Vergangenheit als Bestandteil unserer Gegenwart wirksam werden zu lassen. Sie ermöglicht es uns, aus der Position der jeweils Gegenwärtigen nach rückwärts jene Zusammenhänge von Gegenwart und Vergangenheit anzusprechen, die wir im Begriff Traditionen fassen. Weil Traditionen in den jeweiligen Gegenwarten geschaffen werden, sind sie in ihnen auch wirksam und nicht umgekehrt. Damit wird deutlich, daß wir nur Gegenwärtige sind, wenn wir uns Traditionen zulegen, also z.B. individuelle Biografien oder kollektive Geschichtsschreibungen, d.h., wenn wir eine gegenwärtige Vergangenheit als Zeitform schaffen.

Musealisierung ist ein Verfahren zur Schöpfung von Zeit. Das gleiche gilt für die Orientierung auf die Zukunft, denn von der Gegenwart aus beziehen wir uns auf sie als eine geschaffene Vielfalt möglicher Zukünfte. Vergangenheit und Zukunft sind also nur als Zeitschöpfungen der Gegenwart wirksam. Jedenfalls für Menschen; für Gott, die Götter, den Weltgeist oder die Evolution mag das anders sein. Jede ästhetisch produktive Operation wird also die schiere Gegenwärtigkeit in die Schöpfung von Vergangenheit und Zukunft verwandeln.

Heute klagt man in allen Handlungsbereichen, keine Zeit mehr zu haben. Selbst komplexe Produktionszyklen verkürzen sich auf Saisongrößen. Daraus kann man nur den Schluß ziehen, wir hätten die Notwendigkeit der Schöpfung von Zeit noch nicht erkannt, weil wir uns auf die Unerschöpflichkeit des Rohstoffs Zeit naiverweise verlassen. Deswegen geht uns die Zeit aus. Wir leben gar nicht mehr in der Gegenwart, sondern etwa im Jahre 2015, denn bis dahin haben wir (vornehmlich über das Kreditwesen) unsere Zukunft bereits verbraucht.

5. Die Moderne als Versuch, den permanenten Kulturkämpfen zu begegnen

Nichts kennzeichnet die heutige Weltlage so wie die Unzeitgemäßheit, in der sich unzählige Gesellschaften und Kulturen dieser Welt im Verhältnis zu den universellen Technologien der Kommunikation, des Verkehrs, der Produktion befinden. Wir erleben diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Regionalisierung. Immer mehr Teilgesellschaften bestehen auf ihrer Abkoppelung von der universellen Zeitlichkeit, d.h. von dem Druck der Gegenwart. Diese Gruppen und Grüppchen beharren auf ihrer kulturellen Autonomie im ausdrücklichen Widerstand gegen ihre Vereinnahmung durch diese Gegenwart. Entwicklung hieß zwar auch immer weitergehende Ausdifferenzierung in sich geschlossener Einheiten (wie z.B. Firmen), aber unter der Voraussetzung für alle geltender Verpflichtungen auf Standards und Regeln. Dieses Regelwerk hieß und heißt universelle Zivilisation. Sie manifestierten sich in der universellen Geltung von Menschenrechten, wissenschaftlichen Erkenntnissen, technologischen Erfindungen etc. Ihre Geltung sollte durch Einsicht in den Vorteil gesichert werden, den sie verschaffen. Die Grenze der Vorteilsnahme liegt dort, wo die zivilisatorischen Errungenschaften von den unzeitgemäßen autonomen Kulturen dazu benutzt werden, sich wechselseitig zu unterwerfen. Richtig gehandhabt, zerstört die universelle Zivilisation nicht die Vielfalt der Kulturen, sondern erlaubt ihnen erst, sich auf der gleichen Stufe der Zeitgemäßheit und der Verfügung über die gleichen Instrumente zur Geltung zu bringen – allerdings „nur“ als musealisierte, z.B. als Folklore.

Wenn wir heute Maßstäbe unseres wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen sowie politischen und sozialen Handelns so schmerzlich missen, dann liegt das nicht an der durch universelle Zivilisierung erzwungenen Pluralität, ja Beliebigkeit. Viel mehr fehlt es uns an der Bereitschaft und der Einsicht, uns den zivilisatorischen Standards selber unterwerfen zu müssen. Zweifellos werden die blutigen Kulturkämpfe der Regionalisten und Autonomisten uns aber bald schon lehren, in dem Aufbau der Weltzivilisation die Einheit zu sehen, in der wir uns überhaupt erst als kulturelle Wesen je eigener Prägung definieren. Dazu sind wir als Unternehmer und Künstler, als Politiker und Wissenschaftler aufgerufen. Das gibt unserem Handeln und Verhalten erst eine geschichtliche Perspektive, d.h. eine Zukunft.

siehe auch: