Seit etlichen Jahren ist eine merkwürdige Verschiebung im Umgang mit Kunstwerken zu bemerken. Das dürfte inzwischen fast jedem aufgefallen sein, der in moderne Museen geht, die Tempel der Kunst. Dort ist ein Verhalten den angeblich autonomen Kunstwerken der Moderne gegenüber gang und gäbe, das man früher in Sakralräumen angemessen fand, obwohl ja die Autonomie der modernen Kunst gerade aus der Fähigkeit des Künstlers begründet wird, der sakralen Aura, der theologischen Kontexte entraten zu können.
Die betende Bäuerin
In Köln hatte sich etwas zugetragen, das man für eine Anekdote halten könnte: einmal wöchentlich erschien eine alte Bäuerin aus der Eifel im Wallraffmuseum vor einem Altarbild, kniete dort nieder und verrichtete ihre Gebete (1). Dies wurde ihr von den Museumswärtern als nicht erlaubt verwiesen; das übrige Publikum reagierte teils spöttisch, teils aggressiv, so daß sich die fromme Frau ihrerseits düpiert fühlte und es zur grundsätzlichen Frage kam: Darf ein bis dahin in der Dorfkirche verehrtes Altarbild, nachdem es als Kunstwerk ins Museum abtransportiert wurde, weiterhin im rituellen Kontext verwendet werden oder nicht? Mit anderen Worten: Darf man im Museum beten?
Das Museum Ludwig hatte sich aber – dies ein Treppenwitz des Weltgeistes – seitlich neben dem Kölner Dom ausgebreitet. Raffinierterweise ermöglichten die Architekten in einem Flügel dieses Museums den Blick auf das Gotteshaus. Sie machten damit die Wechselbeziehung überdeutlich, die zwischen den Leuten besteht, die im Museum beten, indem sie Bilder als Kunstwerke meditierend anschauen, die aber nie als solche gemalt worden sind, sondern um Kirchen zu schmücken, und den Leuten, die sich im Dom zu Köln wie Touristen, d.h. wie säkularisierte Betrachter, verhalten.
Museen: die neuen Kirchen
Kurz: am sakralen Ort verhalten sich die Leute säkular und betrachten (bestenfalls) mit einer gewissen Kennerschaft den (neu-)gotischen Bau – und im Museum beten sie.
Folgende Fragen zu diesem Wandel drängen sich einem auf:
- Wie wandelt der Ort der Präsentation (nicht mehr Kirche, sondern Museum) die Wertigkeit von Werken, die nicht für ein Museum geschaffen wurden?
- Muß sich das rezeptive Verhalten vor solchen Bildwerken ändern, bloß weil sie sich in einem anderen institutionellen Kontext befinden?
- Sind diese Werke überhaupt noch lesbar, wenn man sie jetzt als Kunst-Werke liest?
- Werden umgekehrt die Sakralräume nicht in einer unangemessenen Weise wahrgenommen, wenn Touristenströme durch sie hindurchziehen, die diese Räume nicht mehr in den rituellen Zusammenhängen pilgernder Gläubiger wahrnehmen?
- Wie verändert sich z.B. die gotische Architektursprache mit ihrer Diaphanie der Wand, mit ihrer Lichtmetaphysik und allem, was die Gelehrten an Strukturprinzipien ausfindig gemacht haben, wenn man sie nicht mehr aus theologischem Interesse betrachtet, sondern aus touristischer Schaulust, wie man sie einem Kaufhaus, einem Amüsierbetrieb, einer beliebigen Attraktivität auch entgegen bringt?
- Was macht überhaupt ein Kunstwerk zu einem solchen?
Die Antwort auf diese letzte Frage lautet: Seine Wirksamkeit.
- Wie unterscheidet sich aber die Wirksamkeit eines Bildes als „Kunstwerk“ von der Wirksamkeit derselben Malerei, die erklärtermaßen kein autonomes Kunstwerk ist?
- Wie wird derselbe objektive Zeichenbestand auf dem Bild einmal vom Betrachter in einer wirkungserzielenden Weise wahrgenommen, wenn es sich um Kunst handelt, und einmal, wenn es sich um Objekte im sakralen Kontext handelt?
Martin Warnke hat in seinem Buch über die Hofkunst die Emanzipation des künstlerischen Schaffens aus dem handwerklichen Selbstverständnis rekonstruiert. Die sogenannte Hofkunst erscheint somit als erste Form der freien Kunst, der Künstler tritt in die Position eines Familiaris, eines dem Fürsten gleichgestellten Mitglieds seiner Familie mit den entsprechenden Apanagierungsmöglichkeiten. Eine berühmte Episode berichtet, wie Tizian, als er Karl V. porträtierte, den Pinsel fallen ließ und der Monarch, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, sich nach dem Pinsel bückte, um ihn dem Meister zu reichen.
Künstler folgen Gott
Für die Epoche der italienischen Renaissance lassen sich einige Beispiele für das neue Bewußtsein der Künstler ausmachen. Der Maler und Bildhauer Pisanello (1395-1450) etwa gab als Berufsbezeichnung skandalöserweise den Begriff zoographos (zoon = Lebewesen, graphein = schreiben, gestalten, Form geben) an. Er faßte sich in Analogie zum christlichen Schöpfergott und zur gebärenden Mutter als jemand auf, der durch Gestaltung etwas Lebendes in die Welt bringt. Somit erhob er keinen geringeren Anspruch, als den, lebenschaffend zu sein und löste eine Diskussion darüber aus, was denn das vom Menschen als Künstler Geschaffene von dem unterscheidet, was Menschen als Handwerker oder als Wirkende in der Imitatio Christi geschaffen haben. Der letzte Künstler diesseits der Alpen, der sich in der Imitatio Christi dargestellt hat, war Albrecht Dürer mit seinem rund 60 Jahre nach Pisanello entstandenen Selbstbildnis.
Diese Legitimation des eigenen Wirkens und Handelns in der Nachfolge Christi löste einen ebenso großen Skandal aus, wie die Behauptung Pisanellos, als Künstler gebärend zu sein, wie Gott eine lebendige Welt zu schaffen.
Die Auseinandersetzung über diese Standpunkte wurde etwa 100 Jahre lang in Theorie und Praxis geführt; sie lief darauf hinaus, daß man nicht mehr nur die Ambition des Künstlers, lebenschaffend zu sein oder sich durch die Nachfolge Christi zu legitimieren, in Rechnung stellte, sondern man erkannte, daß sich die Wirksamkeit eines Werkes durch den Betrachter realisiert. Ab dem 16. Jahrhundert verlagerte sich die Debatte von den Ansprüchen der Künstler auf die Verantwortlichkeit des Betrachters für das, was die Wirksamkeit eines Werkes ausmacht, und zwar unabhängig davon, was es als gestaltete Zeichenfiguration, als Farbe auf Leinwand, als Form aus Stein oder Holz darstellte. Wenn es nämlich einem Pisanello nur darum gegangen wäre, toter Materie den Lebensatem einzuhauchen, hätte man dies als primitiven, animistischen Götzendienst verurteilen und innerhalb eines theologischen Kontextes selbstverständlich ahnden müssen. Erst recht aber hätte man in der kunstphilosophischen Diskussion, wie sie in Florenz nach dem Zusammenbruch Ostroms durch die immigrierenden Gelehrten seit den 1430er Jahren initiiert wurde, einen solchen ambitiösen Anspruch als äußerst anstößig empfunden. Die Unhaltbarkeit dieser Attitüde wäre leicht zu demonstrieren gewesen, wie es eine Michelangelo-Anekdote vorführt: nach Vollendung des David schlug der Meister der Skulptur – bis heute sichtbar – mit dem Meißel ans Knie und schrie dabei „warum sprichst du nicht, du Hund?!“
Michelangelo hatte am David alles so gestaltet, wie es bei einem lebenden Menschen beschaffen ist: Anatomie des Körpers, Bewegungsimpulse, das Verhältnis von Bindegewebe und Muskulatur, Ausdruck von Vitalität und Vigilanz – aber David sprach nicht, und er bewegte sich nicht, außer in der Betrachtung des Publikums.
Es stellte sich also heraus, daß die eigentlichen Realisatoren des „Lebens“, der Wirkung eines Werkes die Betrachter sind – als Applaudierer, als Spender oder Käufer. Das Werk selbst ist totes Material, der Begriff des Schöpferischen blieb jedoch in der kunsttheoretischen Debatte erhalten, obwohl man erkannt hatte, daß das künstlerische Gelingen weder durch das Leben eines Christenmenschen in der Nachfolge Jesu noch durch die In-Anspruchnahme schöpfergottanaloger Kräfte legitimierbar ist.
Noch heute werden schöpferisch und innovativ geradezu synonym verwendet – schon Carl Schmitt hatte die theoretischen Begriffsraster der Politikwissenschaften und der Ökonomie als säkularisierte Theologie nachgewiesen, d.h. fast jeder zentrale Begriff in der Kunst, in der Politik oder in der Wirtschaft stammt aus der Theologie.
Künstler folgen Fürsten, Künstler folgen Meistern
Die Nachfolge Christi wird konsequenterweise abgelöst durch die Imitatio der fürstlichen oder patrizischen Auftraggeber und Brotherrn. Indem der Künstler über deren Leben und ihre Taten, die res gestae, als fama erzählt, wird die Voraussetzung geschaffen, daß den Führern und Schlachtenlenkern überhaupt jemand nachfolgen kann. Erst der Künstler bringt die Leistungen der Heroen zur Wirksamkeit, indem er sie als Historiograph aufschreibt, als Maler in Porträts oder Ereignisbildern festhält, den Formierungskräften in Idealstädten zur Anschauung verhilft. Zur Nachahmung regt nun nicht mehr Christus, sondern der Ruhm der menschenmöglichen, von Künstlern erzählten Geschichten an. In einem weiteren Schritt wird Giorgio Vasari mit seiner Begründung der Viten-Literatur den Künstler selbst als Persönlichkeit mit Anspruch auf gestaltete Lebensgeschichte, auf Biographie einführen. Der Künstler wird selbst zu demjenigen, dessen Leben zum Gegenstand seiner eigenen Arbeit, seiner eigenen fama gerät.
Mit diesen beiden fundamentalen Voraussetzungen beginnt die Moderne:
1) Die Wirksamkeit des Schöpferischen realisiert sich in der Wahrnehmung und im Verhalten der Betrachter eines Werkes. Zoographos bedeutet in diesem Sinne: „ich gestalte Ihr Sehen, Ihr Wahrnehmen, Ihr Fühlen, Ihre Raumvorstellungen durch die Art, wie ich Ihnen mein Werk präsentiere.“ Es geht nicht mehr um die objektive Qualität eines gestalteten Gegenstandes, sondern um die Wirkung, die er erzielt, bis hin zur Verweigerung des Werkes, zu „sprechen“: es wird bewußt unserem Verstehen entzogen – auch das ist eine inszenierte Wirkung, wie sie etwa durch Samuel Beckett vorgeführt wurde – und die Betrachter stehen hilflos da. Das ist überhaupt der größte Trick: aus einer Latte, einem Haufen Kieselsteinen oder ein bißchen Lehm eine Tiefsinnigkeit vorzutäuschen und das Publikum zu veranlassen, es habe schweigend zu lauschen, wie der Weltgeist spricht. Künstler vermögen diese unsere Verfallenheit an die Sehnsucht nach Tiefe zu inszenieren.
2) Die Vitenliteratur läßt um die Mitte des 16. Jahrhunderts diese neue Figur des Künstlers entstehen, der es mit seinem Schaffen vermag, in ruhmvollen Erzählungen das Geschehene zu verlebendigen, und zwar in einer Weise, daß viele Generationen später Menschen, die nicht selbst an den Schlachten teilnahmen und die Könige nicht persönlich kannten, durch das bezugnehmende Kunstwerk, das Gemälde, das Drama, den Bau, doch etwas erfahren – nicht nur über das Ereignis, sondern auch über den Künstler, der sich damit beschäftigt hat.
Hier entsteht ein neues System der Legitimationen des Werkschaffens: Schüler berufen sich auf ihre Meister, Nachfolgekünstler auf ihre Vorgänger.
Die Freiheit führt den Maler über die Barrikaden
1830 schließlich zeigt sich die Brisanz dieser Kette von Vorstellungen des Künstlerbegriffs: Eugène Delacroix porträtiert sich auf dem Gemälde Die Freiheit führt das Volk. Er erscheint rechts von der barbusigen allegorischen Figur, die in der Tradition der 1789er Revolution dargestellt ist, die sich wiederum auf die klassische Antike orientiert. Was bedeutet das? Nach Pisanellos skandalösen Ambitionen auf zoographein und Dürers nicht minder skandalöser Selbstdarstellung als Christus malt sich Delacroix als Bürger mit Zylinder, ein Gewehr in der Hand, als Assistenzfigur einer linken Ikone, die seither von allen Sozialrevolutionären – seien sie nun humanistisch, demokratisch, republikanisch oder internationalistisch gesonnen – vereinnahmt wurde. Wer jedoch meint, die Freiheit führe hier das Volk gegen Karl X., den Restaurationsbourbonen, der seit 1815 wieder auf dem Thron sitzt und in den letzten Tagen des Juli 1830 hinweggejagt wurde, ist nicht etwa auf den Barrikaden dabei, sondern auf dem Holzweg. Das Bild ist nämlich darauf angelegt, daß man als Betrachter in der Froschperspektive selbst überrannt wird: von der Freiheit, von dem bürgerlichen Trommler und dem Künstler, der sich als Inkarnation dieser Bewegung darstellt. Es geht überhaupt nicht darum, mit künstlerischen Mitteln in der Imitatio gesellschaftlichen Aufschwungs die Revolution im Sinne sozialer Veränderungen zu befördern, sondern die Welt des Betrachters wird auf den Kopf gestellt – des Betrachters, der anbetend und verehrend vor dem Bild steht. Denn es ist gerade nicht damit getan, als Humanist, Sozialist oder republikanischer Tugendbold vor dieser oder einen anderen linken Ikone (2) auszurufen: Gottseidank, die Freiheit rettet uns, und alle schlechten Verhältnisse werden beseitigt, die Welt wird verbessert, die Bösen werden liquidiert und die Guten werden triumphieren!
Wer das Bild so liest, wird überrannt, d.h. das Bild selbst ist der Protest gegen einfältige Vorstellungen, seine Wirksamkeit bestünde in einer Veränderung oder Verbesserung der Welt durch die Kunst. Der Betrachter mit seinen Wünschen muß selbst die Wirkung des Bildes realisieren.
Tatsächlich erkennt man am Gesichtsausdruck der Delacroixschen Verkörperung der ersten bürgerlichen Revolution einen Zweifel an unserer Art, das Bild als große Kunst, als Kraft der Weltveränderung anzubeten. Folgerichtig wandte sich die nächste Revolution von 1848 gegen Delacroix: die Revolutionäre, die er gemalt hatte, zerstörten seine Bilder, und der Maler wurde – wie Alexandre Dumas berichtet – jetzt selbst zu einem Träger der Revolution. Delacroix, dem 1830 angesichts der aufgewiegelten Massen die Knie geschlottert hatten, legitimierte sich gerade durch seine Angst vor der Veränderung. Er übernahm die Rolle des Revolutionärs, indem er sich mit dem Gemälde von 1830 als Schöpfer von Wirksamkeit durch Kunst selbst liquidierte. Die Selbstzerstörung stellt eine für Künstler entscheidende Figur in der Reihe der Legitimationsmotive dar, egal, ob sie mit künstlerischen Mitteln, durch Werkrausch am Rande der völligen Erschöpfung, durch Absinthgenuß, Rumhurerei, Drogen, Duelle oder sonstige Exzesse betrieben wird.
Selbstbezichtigungen eines Unpolitischen
Analog zum Fall Delacroix spielte sich im Bereich der Literatur Folgendes ab: Thomas Mann notierte 1918 in den Betrachtungen eines Unpolitischen all das, – „entartete“ Kunst, Erbfeindschaft der französischen Zivilisation gegen die Seelentiefe der deutschen Kultur usf. – weswegen er 1933 ins Exil getrieben wird. Die von ihm selbst in den Betrachtungen eines Unpolitischen beschworenen Phänomene hatte er zwar bereits 1922 widerrufen, doch wurden sie 1933 von der anderen Seite – so intelligent war immerhin auch ein Dr. Goebbels – umgewidmet und im Kampf gegen die intellektuelle Elite ins Feld geführt.
So ließ sich denn sinngemäß der Dekan der Bonner Fakultät, die dem Schriftsteller den Ehrendoktor verliehen hatte, in der Aberkennungsadresse vernehmen: „Verehrter Thomas Mann, entsprechend Ihren eigenen Feststellungen kommen wir zu dem Schluß, daß Sie nicht länger Deutscher sein können, Sie sind entehrt und entwürdigt als Zivilisationsakrobat, als oberflächlicher Kalkulator von beliebigen Wirkungen ohne seelische Tiefe.“ Dementsprechend wurden Thomas Mann „korrekt“ und konsequent der Ehrendoktor und die Ehrenbürgerschaft entzogen, die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, das Vermögen konfisziert. Er selbst hatte doch 1918 die Kriterien für das entwickelt, was ihm dann widerfuhr.
Wie bei Delacroix 1848 richtete sich bei Thomas Mann 1933 der Wirkungsanspruch der vom Künstler getragenen Veränderung der Welt schließlich gegen den Urheber. Beide – Delacroix und Thomas Mann – waren intelligent genug, um zu erkennen: man muß sich selbst mit seinen Egoismen, mit seinen Beschränkungen, mit seinem Wirkungsanspruch zum Gegenstand der Arbeit machen.
Thomas Mann hat in seiner berühmten Rede vom Mai 1945 ausdrücklich auf diesen Sachverhalt Bezug genommen. Schon zuvor hatte er in der Schrift Bruder Hitler die Nationalsozialisten als seine Brüder identifiziert, was allen Zeitgenossen, die ihn als Gegner des Nationalsozialismus kannten, völlig aberwitzig erschien. Doch Thomas Mann war sich bewußt, daß er es selbst ist, der in der Gestalt des anderen, des Fremden, des Feindes auftritt, das heißt, daß er sich selbst zum Adressaten seiner Worte machen muß. Ein Werk kann nur dann verlebendigt werden, wenn sich die Wirksamkeit auch in der eigenen Person realisiert.
Vielen Künstlern war das aber zu keiner Zeit klar, und nur daher kommt es, daß sich viele Urheber, deren Werke wir für bedeutsam halten, als die stumpfsinnigsten Zeitgenossen entpuppen, wenn sie etwa Skat dreschen wie Richard Strauß, sich besaufen oder gelangweilt durch die Gegend fahren, ohne sich für irgendetwas zu interessieren. Sie werden für genial und schöpferisch gehalten, obwohl sie selbst nie die Verlebendiger, die Adressaten der Wirkung ihres eigenen Anspruchs sind und die Ansprüche von anderen Künstlern gar nicht erst wahrnehmen. Jeder Künstler scheint es sogar strikt ablehnen zu müssen, sich als Adressat der Malerei seiner Kollegen aufzufassen. Nur zähneknirschend nimmt man es auf sich, überhaupt an Gruppenausstellungen teilzunehmen, wobei dann sofort das Feilschen um den besten Hängeplatz einsetzt.
Wagner: Werk als Wirkung
Hatte Delacroix bereits damit begonnen, die Selbstaufklärung des Künstlers im Gemälde Die Freiheit führt das Volk zu thematisieren, so begründete Richard Wagner ab etwa 1850/51 in seinen Regenerationsschriften sehr viel weitergehend, warum seine Tätigkeit nicht mehr als Werkschaffen ausgewiesen, sondern direkt in die Figur des Gesamtkunstwerks überführt wird. Was Helmholtz und andere mit dem Synästhesie-Begriff zu erläutern versuchten, demonstrierte er im Zusammenwirken von Musik und Malerei, Bühne und Tanz, Gesang und Literatur. In dieser stets gleichzeitigen Beanspruchung aller sinnlichen Aktionszentren der Menschen existiert das Werk gar nicht mehr als Werk im Sinne einer physisch materiellen Gestaltung, sondern nur noch als Summe der Kalküle der Wirkungen, die es erzielen soll.
Das Prinzip Hollywood wird geboren, d.h. ein Werk ist nur noch insofern vorhanden, als es Wirkung erzielt. Schon Nietzsche hat diese Hollywood-Charakteristik an Wagner richtig eingeschätzt: schiere Oberflächlichkeit, schiere Banalität, die Unmöglichkeit, sich noch von der Oberfläche oder der Erscheinung her auf das Wesen oder in die Tiefe bewegen zu können – es gibt keine Tiefe, kein Wesen, sondern nur die Wirkung. Dahinter und darin steckt nichts anderes als die Mobilisierung des Publikums. Folgerichtig realisiert Wagner diesen modernen Typus des Werkschaffens in einem Ereignisort, an dem sich die Wirkungen entfalten: Bayreuth. Wie Nietzsche schon sagte: das Bedeutendste an Bayreuth sind die Teilnehmer der Festspiele, sie sind die Hauptakteure.
Wagner schafft damit etwas völlig Neues, und er richtet sich nicht etwa nur an einige wenige – hier ein paar Ungetröstete, und da ein paar Leute, die nur noch in der Oper weinen können – sondern er zielt auf den sozialen Körper im Ganzen, auf die Menschheit, auf die Gesellschaft. Mit einer Flut von Publikationen, den Bayreuther Blättern, beschickt er die von ihm selbst ins Leben gerufenen Wagner-Fanclubs. Die Wagner-Vereine sind die Begeisterungsgemeinschaften derer, die auf die gleiche Weise durch seine Musik zu höchsten Euphorien veranlaßt werden. Diese Öffentlichkeitsarbeit betrieb er mindestens so intensiv wie das Entwickeln von Dramen und Partituren.
Damit verschafft er sich einen Anspruch, als gesellschaftbewegende Kraft zu wirken – und zwar auf dieselbe Weise wie gleichzeitig die politischen Parteien, denn das, was Gesellschaft formiert, ist nichts anderes als eine bestimmte Art von Bewegung. Daher stammt denn auch dieser berühmte Ausdruck, der von den Nazis bis zu den Grünen solche Begeisterungsgemeinschaften trägt. Wagner erzeugt Bewegung in der Begeisterung, in der Begeisterungsgemeinschaft von Menschen, deren Beseeltheit eine objektive Kraft darstellt: Menschen, die von dieser Beseeltheit getragen sind, können Sie bei Langemarck ohne Waffen ins Feuer schicken und verheizen.
Alle Journalisten, Karikaturisten, gelehrten Musikkritiker, Minister und Kaiser wußten seit 1876: das gerade erst neu gegründete Deutsche Reich konnte es einfach nicht ohne Bayreuth geben, obwohl es sicher Bayreuth ohne das Reich gegeben hätte. Die eigentliche Reichsgründung fand in Bayreuth statt – selbst in finanzieller Hinsicht, denn das Festspielhaus wurde mit den Bestechungsmitteln aus dem Welfenfonds finanziert. Diese Gelder hatte Bismarck an Ludwig II. von Bayern zu zahlen, damit der König die Zustimmung zur Reichsgründung gab, die sonst nicht zustande gekommen wäre. Die Wechselbeziehung Bayreuth-Reich reicht bis in die jüngere Vergangenheit – Kaiser und Künstler, Fürsten und Führer, Parteivolk und Opernpublikum lassen sich zusammenfassen in den beiden wesentlichen tragenden Kräften der deutschen Reichsidee: Flottenvereine und Wagnervereine. Beide wurden getragen von der selben Art der Begeisterung und während die Flottenvereiniger bei Wagnermusik zur See fuhren, sah man den fliegenden Holländer in Bayreuth als Admiral Tirpitz mit seinem markanten Bart auftreten. Diese unheilige Allianz führt über Stalinismus, Hitlerismus, italienischen Faschismus und internationalen Totalitarismus bis in die Gegenwart, bis in die Symbiose von Mercedes Benz und den Künstlern, nur daß wir es nicht mehr mit solchen Kalibern zu tun haben, wie sie Wagner als Künstler oder Ludwig von Bayern als Mäzen darstellten. Die Fragestellung bleibt jedenfalls aktuell:
Wie wird Kunst wirksam im Hinblick auf ein Publikum, das belebt, animiert, beseelt, bewegt, angetrieben, gemütsbestimmt, zu Tränen gerührt, zu Aggressionen auf dem Markplatz angestachelt werden soll?
Künstler als Beweger
Zuschauer sind die eigentlichen Akteure der Kunst, aber dieses Publikum muß auch ein Ziel für seine Begeisterung, ein Objekt seiner Anbetung finden, oder – anders ausgedrückt: sein Bewegungsimpuls muß eine Richtung bekommen, sei sie nun grün-fundamentalistisch, deutsch-nationalsozialistisch oder wertkonservativ genannt. Anbetung in diesem Sinne bedeutet eigentlich Richtungweisen.
Worauf richtet sich die einmal erzeugte Wirkung der Kunst? Jeder moderne Architekt, jeder moderne Designer, jeder moderne Maler, Pädagoge usw. hat sein Tun durch die Anbetung legitimiert, durch eschatologisch-analoge Ausrichtungen der Bewegungen auf Fortschritt, Humanismus, Sozialismus, Kommunismus oder was auch immer. Hinter jedem Entwurf einer fischbeinfreien Corsage stand der Weltgeist in Person des revolutionären Fortschritts, der den weiblichen Leib aus den Zwängen der Folter befreite, um nur ein Beispiel zu nennen. Das wurde dann Lebensreform genannt und nahm so kuriose Formen an wie „Sonnenanbeten auf dem Monte Verità“: Reihenweise verließen die Leute ab 1890 die Verwaltungsgebäude, die Traditionen, die Bildung, die Unterwäsche und streckten wie die Wahnsinnigen die Arme himmelwärts – im Bewußtsein von Licht und Luft, durchsonntem Leben in übermenschlicher Leidensfreiheit und vergnügtem Alter.
Es spielt dann auch keine Rolle mehr, ob jemand Semit oder Antisemit, großdeutsch oder kleindeutsch, Föderalist oder Totalitarist ist, ob jemand das Programm von Jesus Christus vertritt oder das des Teufels – die Wirkung ist die Gleiche: es geht darum, die Gedanken, Ideen und Energien, kurz die Bewegung zu nutzen, um – und das kennzeichnet die Anbetung – einen Plan, eine evolutionäre Vorstellung, ein Fortschrittsbild durchzusetzen, sei es in Gestalt eines AKW, einer Stromversorgung, einer neuen Infrastruktur, eines Genomprojekts usf. Die Anbetung äußert sich in der Realisation abstrakter Hirnakrobatiken von Philosophen, Soziologen oder Technologen, die mit dieser erzeugten Wirkungsenergie 1:1 in die Tat umgesetzt werden sollen. Diese Vitalisierung des Publikums, um seine Bewegung auf die Verwirklichung eines abstrakten Plans zu lenken – man nenne ihn nun Paradies, Sozialismus oder technische Globalisierung – ist primitivster Götzendienst. Mit dieser quasitheologischen Begründung, man könne irgendeiner Ausgedachtheit die Energien des Lebens, die Kräfte der Kunst zuführen, um sie als Zustimmung zum Urheber zu verwirklichen, macht man die Katastrophe komplett!
Anbetung als Segenserzwingung
Wenn der alttestamentarische Vater um den Segen gebeten wurde, erwirkte der Sohn zwar auch die Zustimmung zu sich selbst, aber in der Akzeptanz als Sünder, als Verfehlender, als sich Irrender. Es hieß „stimme mir zu, gib mir deinen Segen, obwohl ich falsch Zeugnis abgelegt, obwohl ich versagt und gestohlen habe“, während der moderne Segen folgendermaßen erzwungen wird: „gib mir die Zustimmung, weil du gar nicht anders kannst, denn mein Plan für Multikultur, Sozialismus, Frieden auf Erden ist einfach toll“. Wer die Zustimmung verweigert, wird kurzerhand als Faschist, Totalitarist oder Idiot denunziert. Deswegen bleiben wir auch bis auf weiteres mit unserem Multikulturzauber in jenem Jammer stecken, dessen blutige Konsequenzen einer jeden Nachrichtensendung zu entnehmen sind, deswegen verharren wir im heillosen Segenskreislauf der Selbstlegitimation.
Wenn, wie bei der sogenannten autonomen Kunst, eine derartige Wirksamkeit eingeklagt wird, muß das zwangsläufig auf jene historischen Phänomene hinauslaufen, die wir alle als nicht akzeptabel beklagen: etwa wenn Walter Gropius noch bis 1936 glaubte, als Bauhauskonzipist der geborene Chef der Reichskulturkammer zu sein, wenn Fritz Lang von Goebbels der Posten eines Chefs der Reichsfilmkammer angetragen wurde, weil er mit Metropolis das großartige Werk der Wirkungserzeugung, des In-Bewegung-Setzens von Massen geschaffen habe, oder wenn Emil Nolde 1921 Parteimitglied wurde, weil er annahm, seine Kunst sei die des Nationalsozialismus schlechthin.
Wenn aber alles Geschaffene im Sinne dieser autonomen Denkanstrengungen und ihrer Verwirklichungen offensichtlich notwendig zu totalitären Konsequenzen führt, stellt sich folgende Frage:
Was für einen Gebrauch sollen wir überhaupt noch von den großen Entwürfen machen, von den Bildern, von den musikalischen Werken, den Architekturen etc.?
Kritik statt Anbetung
Hier kommt jetzt eine zweite, die sogenannte kritische Tendenz derselben Moderne ins Spiel: kritische Kunst, kritische Haltung, kritische Philosophie, kritische Theologie usw..
Was ist das Charakteristische dieser Tendenz? Statt die bewegenden Wirkungen der Kunst im Sinne einer Ausrichtung auf Verwirklichung von irgendwelchen Vorstellungen zu verwenden, die uns alle packen, verwenden wir diese Wirkungen, um die Vorstellungen gerade zu kritisieren. Die Kritik an der Wahrheit ist eine sensationelle Denkfigur, die es in der Weltgeschichte nie zuvor gegeben hat – Lüge oder Schein wurden seit jeher kritisiert –, die Unwahrheit oder das Täuschen erschienen kritikwürdig, aber die Wahrheit?
In der Entwicklung dieser neuen Haltung erkannte man die anthropologischen Konstanten des Menschen als auf alle Zeiten festgeschrieben, denn die geophysikalischen Voraussetzungen der Weltlage, die physiologischen und sonstigen Bedingungen des Lebens von Menschen auf Erden sind nicht manipulierbar. Wir sind von Natur aus nicht perfekt, nicht auf Fülle ausgerichtet, sondern auf Mangelverwaltung, auf Energiezufluß von außen, auf soziale Hinwendung etc.. Wir sind alle nichts als Natur und unterscheiden uns vom nächsten Verwandten, dem Bonobo, um 1,21%. Größer ist die genetische Differenz gegenüber dieser Affenart nicht!
Man kritisiert also mit seinen Entwürfen der Kunst, mit großen systemischen Gedanken von Gesellschafts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, mit empirischer und sonstiger Medizin eben jene Bedingtheiten, daß wir Tiere sind, daß wir in einer geschlossenen Welt leben, daß die Realität uns gegenüber nur das ist, worauf wir doch keinen Einfluß haben. Das ist die alte Hiobsposition, d.h. der Aufstand der Menschen gegen die Götter, nicht die Imitatio Gottes, nicht das Auftreten als schöpferanaloger Künstler, sondern als Rebell, als Widerständiger, als gefallener Engel. Diese Kritik an der Wahrheit, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert durch die Moderne zieht, richtet sich genau gegen die Verhältnisse, die Künstler vom Schlage Wagners ausgenutzt haben.
Wahrheit in der Lüge, Schaffen durch Zerstören
Beide Tendenzen – Anbetung und Kritik – haben sich trotz ihrer Gegenläufigkeit immer eng berührt. Nietzsche hat erstmalig versucht, sie zusammenzubringen, indem er nicht mehr das oberflächliche Unterhaltungsmetier, das zynische Bedienen von Erwartungen gegen die Eigentlichkeitssprache der tiefsinnigen Seelenkunst ausspielte, nicht mehr Kultur gegen Zivilisation ins Feld führte, was ja in seiner Zeit durchaus üblich war. Vielmehr versuchte er, beide Tendenzen miteinander zu versöhnen mit dem Hinweis darauf, daß wir von der Wahrheit unserer natürlichen Bedingtheiten doch nichts wüßten außer in Gestalt der Lüge. Mit anderen Worten: Nur noch in der Falschheit hat man einen Begriff des Wahren, nur in der Häßlichkeit kann man noch einen Begriff des Schönen entwickeln.
Auf unsere Situation übertragen, bedeutet das etwa: nur noch im Ruhrgebiet, dieser völlig zertrümmerten Zivilisationslandschaft, weiß man wirklich noch, warum man sich auf den Begriff des Schönen zurückzieht, denn es gibt kein Schönes, und nur in dieser Einsicht macht es einen Sinn, vom Schönen zu reden.
Nur wer akzeptiert, daß die Mechanismen des Wirksamwerdens auf Möglichkeiten des Lügens und Täuschens beruht, wie sie in der Natur des Menschen per se begründet sind, nämlich durch die Funktionsweise seines Wahrnehmungsapparates, kann mit diesen Mechanismen kalkulieren und ihren Wirkungen entgehen.
Insofern wird jetzt plötzlich der Sünder, der Verworfene, der Zerstörer zum Schöpfer: Künstler, die mit der Destruktion arbeiten, die z.B. collagieren wie die Dadaisten, die explodieren lassen und zerfetzen wie Arman und das Ergebnis als Bildwerk ausweisen. Das ist die Gegenposition zum Schaffen als Zerstören, wie es z.B. Wagner betrieb: er schuf in gigantischem Ausmaß, die Wirkung aber erwies sich als absolut zerstörerisch.
In der Moderne entsteht das Werkschaffen durch Zerstörung und Zertrümmerung, d.h. das zerstörerische Tun wird von vornherein als schöpferisch ausgewiesen, um die Grenzen zu demonstrieren, innerhalb derer alle Überlegungen bleiben müssen.
Hier erst erfolgt die strikte Trennung der künstlerischen Argumentation von der theologischen.
Theologen als Künstler
Folge ist, daß heute Theologen selbst als die peinlichsten Gestalten auftreten, die mit Tschingderassassa und ein paar Lichteffekten vor der Kanzel Modernität simulieren, indem sie die Disco in die Kirche holen. Diese Leute haben offenbar nie etwas gelernt – weder aus der Geschichte, noch aus der Kunst. Sie erweisen sich als völlig verfallen an die Hoffnung auf Wirksamkeit – mit dem Ergebnis, daß heute jeder Theologe glaubt, er sei ein Künstler, er erzeuge mit Licht, Gedudel und Gesang eine Wirkung bei seinen Klienten, wenn diese auf die Bänke springen, sich farbenfroh anziehen und als fröhliche Christen lustig spenden. Das ist das „Prinzip Wagner“ in der Kirche, und dann sind wir wieder da, wo wir im 15. Jahrhundert angefangen haben, nur daß jetzt die Theologie die Kunst nachahmt, nachdem die Kunst sich mühsam aus den Fängen der Theologie befreit hat. Jetzt nämlich merken die Theologen: Donnerwetter, die Künstler haben’s: Licht, Kulisse, nacktes Fleisch, Swing, Rhythmus und schon gibt es Stimmung und Wirkung – da lebt die Bude, da sitzen nicht Leichen im Betstuhl, sondern vitale Menschen, mit denen man auf die Straße gehen und Multikultur und Sozialismus fordern kann: „Hier herrscht jetzt Friede, und wer nicht pariert, wird erschossen!“
Jetzt fangen die Theologen an, künstlerisch zu planen, ebenso die Ökonomen – aber wie gefährlich zu glauben, man müsse ein Produkt nur „inszenieren“, damit sich seine Eigenschaften den Leuten auf eine Weise mitteilen, die Wirkung, nämlich den Kauf, erzielt. Auch politischer Wahlkampf ist nichts anderes, als mit künstlerischen Mitteln Wirkung zu erzeugen: die Bevölkerung so zu vitalisieren, daß alle denken: „Die haben aber jetzt einen einheitlichen Geist in ihrer Partei, auf die kann man sich wirklich verlassen und die Merkel zur Bundeskanzlerin wählen!“
Solche Vorstellungen hinken noch weit hinter mittelalterlichem Animismus her, sie sind weitaus primitiver als im Bereich der Kunst, denn die Künstler – wie am Beispiel von Delacroix, Wagner oder Thomas Mann demonstriert wurde – wußten immerhin selbst, was sie trieben, weil sie reflexiv arbeiteten.
Die Künstler haben nämlich gemerkt, daß man die Widerstandskraft der Utopie benutzen kann, um Wahrheit zu kritisieren, die Wahrheit unserer rein tierischen Existenz, unserer Kläglichkeiten, unserer Dämlichkeiten, unserer Beschränktheit im Leben, d.h. daß man Sozialismus als Konzept benutzen kann, um den Wahrheitsanspruch der Verwirklichung von Sozialismus zu kritisieren. Wer behauptet, er realisiere Sozialismus und gestalte die Welt nach Plan, als sei er der liebe Gott, der komplexe Organisationsprobleme spielend bewältigt, wird als Vollidiot kenntlich gemacht. Künstler können die Wahnhaftigkeit des Anspruchs kritisieren, in Sozialismus oder Humanismus mehr als nur eine Onaniervorlage von Intellektuellen zu sehen.
Scheitern als Gelingen
Gegenwärtig sind wir jedenfalls bei der etwas betrüblichen Feststellung angelangt, daß die Kunst so wirksam geworden ist, daß die Politik, die Ökonomie, die Theologie ihr nun reihenweise nachfolgen und ihre Muster übernehmen. Es bleibt zu hoffen, daß die Künstler eine neue Avantgarde, eine neue vorausschreitende Perspektive entwickeln, um dieser Gemeinschaft der begeisterten Humanisten, dieser Banauserie der Kulturträger, um dieser Mord-und-Totschlagsucht im Namen der christlichen Nächstenliebe zu entgehen. Inzwischen ist doch einigen Leuten aufgefallen, daß es ein Unsinn ist, im Namen der Liebe Leute umzubringen, im Namen der Bekehrung den Bekehrten als Märtyrer zu liquidieren. Man muß dabei nicht einmal an den theologischen Fundamentalismus denken, allein der ökonomische Fundamentalismus ist viel grausamer und der ökologische mindestens ebenso schlimm. Künstler zogen daraus die einzig sinnvolle Konsequenz, theoretisch abstrakt wie praktisch, nämlich mit der Kunstproduktion Schluß zu machen, das Konzipieren von Werken mit dem Anspruch der Imitatio Christi oder des Zoographos einzustellen. Sie verzichteten darauf, eine Beseelung von Kunstwerken durch Wirkung auf lebende Menschen hervorzubringen. Die Einen zogen sich asketisch in ihre Klausen zurück und arbeiteten wie der gotische Kathedralbau-Handwerker nur noch zum Ruhme Gottes oder der Wahrheit, sie arbeiteten, um sich beherrschen zu lernen oder um mit ihren Ängsten fertig werden zu können und sich nicht in die Begeisterungsgemeinschaften der Gottsucher flüchten zu müssen. Die Anderen haben die Antriebe zu jedem gestaltenden Schaffen erkannt, haben eingesehen, daß in Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft, von der Kirche über das Produkt-Marketing die gleichen Mechanismen der Belebung von Klienten und der Bewirkung von Verhalten in Gang sind, und daß es deswegen keine Kunst mehr geben könne. Schließlich macht es keinen Sinn, die eine Art der Erzeugung von Publikumsreaktion als Kunst zu bezeichnen, die andere als Verkaufsstrategie, die dritte als Unterhaltung, die vierte als Gottesdienst. Wer diese Einsicht gewonnen hat, aber doch noch „irgendwie Künstler“ sein möchte, verlegt sich darauf, Produkte zu verkaufen, Werbung zu treiben, einen Kirchen- oder Parteitag zu gestalten und die Affen tanzen zu lassen. Noch Andere ziehen es vor, direkt per Sozialfürsorge in die Irrenanstalten oder Gefängnisse einzuziehen, wo es immer noch behaglicher zugeht als im Rinnstein.
Hinzu kam, daß sich nach 1989 wirtschaftliche Bedenken gegen die bisherige Wertschätzung der Kunstwerke in Millionenbeträgen einstellten und der Kunstmarkt zusammenbrach. Damit schwand augenscheinlich auch das Interesse an der Kunst, keiner will sie mehr sehen, keiner will sie mehr kaufen. Daraus zogen die Intelligenteren die Konsequenz, wie Cicero aufs Land zu gehen, auf einem Stein sitzend nachzudenken oder ihr Leben gleich als erschütternde Krise des Künstlers auszuweisen. Scheitern ist ohnehin die einzige Form des Gelingens unter Künstlern: man scheitert, indem man die Bewegung mit seinem Verzicht auf Ruhmeswünsche und Museumsewigkeiten trägt – so wie die christlichen oder islamischen Märtyrer, die als Verlierer draufgehen; man trägt die Kunst über die Schwelle des Jahrtausends, indem man sich als derjenige deklariert, der es nicht geschafft hat, weil er zu klein, zu dumm, zu beschränkt, zu chancenlos usf. ist. Da sitzt er dann und läßt sich betrachten und rührt sein Publikum zu Tränen: er kann nichts, er hat nichts, er ist nichts, ihm gelingt nichts, er weiß nichts – das ist das wahre Heldenleben des Künstlers. Wo befindet er sich da? In der schönen alten Bestimmung des Christenmenschen, nirgends sonst. Er ist wieder da in der Abhängigkeit vom Segen, von der Gnade, von der Gewährung von Verständnis jenseits gesellschaftlicher Akzeptanz, die ihm natürlich vorenthalten wird. Das Scheitern in der Kunst zum Thema zu machen, heißt, die Themen der alten christlichen Theologie wie der sokratischen Philosophie aufzugreifen: der Mensch als Mängelwesen, als bedürftiges Wesen, als auf Zuwendung angewiesene, in vorgegebene Bedingungen und Perspektiven nur eingepaßte Existenz. Genau das macht den gläubigen Christen aus, und dann sind wir wieder dort, wo die Künstler im 15. Jahrhundert sich aus der Kirche emanzipierten und aufgebrochen sind – nur, daß die Kirche nicht mehr da ist, denn die macht jetzt Kunst. Nun heißt es abwarten, bis die neue Kirche kommt …
(1) vgl. auch B. Brock, Musealsierung – eine Form der experimentellen Geschichtsschreibung. In (ders.): Die Re-Dekade, Kunst und Kultur der 80er Jahre. München 1990, Seite 216.
(2) in diese Reihe gehören z.B. noch Goyas „Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808“, Guericaults „Floß der Medusa“, Manets „Liquidation Kaiser Maximilians von Mexiko“ oder Picassos „Guernica“ von 1937.