Kopf ab oder: Ernstfall als Eichmaß
Das Titelblatt zu Thomas Hobbes' Leviathan zeigt zahllose kleine Menschlein, die sich als dichtes Knäuel zum Bild der Staatsmacht, personifiziert durch den weltlichen und geistlichen Herrscher, formen. Das ist ein geeignetes Sinnbild für die Legitimation von Macht. Ihren Geltungsanspruch kann als Schutz für sich nur in Anspruch nehmen, wer sich ihr unterwirft. Sich nicht zu unterwerfen, sich auszuschließen oder ausgeschlossen zu werden, bedeutet, seine Existenz aufs Spiel zu setzen. Das Verhalten der Individuen wird also am existenziellen Ernstfall geeicht. Durch derartige Eichungen haben alle Kulturen ihren Zusammenhalt nach innen und außen geleistet; insofern kann das Hobbes'sche Beispiel universelle, wenn auch vormoderne Geltung beanspruchen. Denn es begründet gerade nicht diejenigen Entwicklungen, die wir mit dem Begriff der Demokratie oder der modernen Gesellschaften verbinden. Bei Hobbes geht es immer um die Ausrichtung individuellen Verhaltens am Ernstfall der existentiellen Vernichtung, z.B. durch Todesstrafe oder im Bürgerkrieg.
Für das moderne Demokratieverständnis ist dieses Regulativ einer letztbegründenden Todesgewalt nicht länger akzeptabel, weil z.B. die Verhängung der Todesstrafe durch einen Justizirrtum zustande gekommen sein könnte; dann wäre eine Revision de facto nicht mehr möglich.
Willst du Frieden, bereite dich auf den Krieg vor
Das Erklären und Führen von Kriegen ist seit der Staatstheorie von Jean Bodin das unveräußerliche Souveränitätsrecht jeder Gesellschaft und ihrer staatlichen Repräsentanz. Verallgemeinernd heißt das: Kulturen eichen das Verhalten ihrer Mitglieder an deren Bereitschaft und Fähigkeit, als Soldat oder Hilfsdienstleistender der entscheidenden Durchsetzung von Souveränität in der Führung von Kriegen zur Verfügung zu stehen – daraus leitete sich noch die Einführung der Wehrpflicht in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ab.
Schon im 16. Jahrhundert gab es Versuche, andere Strategien der Durchsetzung von Souveränität als die Kriegsführung und die Drohung mit dem existenziellen Ernstfall für jedes Individuum zu bevorzugen. Die Habsburger in Österreich proklamierten Bella gerant alii, tu felix Austria, nube – „Andere mögen ihre Streitigkeiten durch das Führen von Kriegen ausfechten, wir Österreicher erledigen das durch Heiratspolitik“.
Man wollte die Risiken, die mit der Durchsetzung der Ernstfalleichung für die eigene Bevölkerung verbunden sind, umgehen und dennoch zum Erfolg kommen. Wenn sich, des Risikos wegen, die Eichung der Behauptungsfähigkeit einer Kultur am existenziellen und kriegerischen Ernstfall verbietet – wie läßt sich dann die unumgängliche Eichung am zu vermeidenden, am verbotenen Ernstfall der auslöschenden Vernichtung von Individuen und Gemeinschaft entwickeln?
Dafür gab der amerikanische Präsident Wilson mit seiner Begründung für den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg ein erstes entscheidendes Beispiel: Wilson, der sich während seines Studiums intensiv mit Kants Schriften beschäftigt hatte, deklarierte: eine moderne Demokratie, wie die USA sie repräsentieren, führt nur noch Krieg zur Beendigung des Weltkriegs, ja zur Beendigung aller Kriege.
Dieses Vorgehen der USA, gerade durch Führen eines Krieges die Beendigung eines Krieges zu erreichen, wurde auch ausdrücklich verwendet, um die kriegerische Intervention der NATO im Kosovo zu legitimieren. Die Herren Fischer, Scharping und Co. gaben immer wieder zu Protokoll, daß die NATO kriegerisch interveniere, um den Krieg zwischen Serben und Albanern zu beenden. Fischer und Co. versicherten, daß selbstverständlich die in der NATO zusammengeschlossenen Staaten verpflichtet seien, die von ihnen angerichteten Schäden postwendend zu beheben. An jeder Rakete oder Bombe, die in der Bundesrepublik Jugoslawien abgeworfen wurde, klebte gleichsam ein Versicherungszertifikat: „Sorry, aber wir bauen, was wir zerstören mußten, gleich hinterher neuer und damit schöner auf, als es zuvor gewesen ist.“ Die militärische Operation war also offenbar nicht auf den Ernstfall der Zerstörung, die Vernichtung von Leben der Gegner ausgerichtet, sondern genau auf das Verbot von Verlusten an Personen und Sachen, und wo sie unumgänglich waren, verpflichtete man sich, die Schäden zu beheben.
Zum ersten Mal wurde den Bürgern der NATO-Staaten unumstößlich klar, daß es beim Krieg als Eichung am verbotenen Ernstfall nicht nur auf die Vermeidung der Tötung von eigenen und gegnerischen Soldaten und Zivilisten ankommt, sondern auch auf die Wiederherstellung des Status ante quo.
Angemerkt sei, daß auch in der kriegerischen Eichung am verbotenen Ernstfall erhebliche Risiken stecken; so könnte ja irgendein „böses Regime“ einer maroden Gesellschaft auf den Gedanken kommen, einen Krieg zu provozieren, um sich anschließend von den Gegnern eine leistungsfähige Infrastruktur aufbauen zu lassen. Und diese Regimes hätten damit nicht einmal nach innen Legitimationsschwierigkeiten, soweit sie die vormoderne Eichung ihres kulturellen Zusammenhangs selbstverständlich immer noch am existenziellen Ernstfall ausrichten. Zu einem guten Teil sind heutige Fluchtbewegungen aus solchen zumeist sakralrechtlich verfaßten Gesellschaften durch das bewußte Kalkül provoziert, die modernen Demokratien im Westen müßten ihnen nach deren Selbstverständnis die Sorge für vertriebene Minoritäten abnehmen.
Schöpferische Zerstörung
Etwa zeitgleich mit Wilson entfaltete der Nationalökonom Schumpeter die Eichung am verbotenen Ernstfall für wirtschaftliches Handeln: in seinem Theorem von der schöpferischen Zerstörung machte er geltend, daß der Ernstfall des klassischen Manchester-Kapitalismus als Inbegriff schärfster Vernichtungskonkurrenz die eigenen sozialen und ökonomischen Systeme gefährdet. Der Konkurrenzkampf dürfe nicht zur völligen Eliminierung des Konkurrenten führen; der Konkurrenzkampf sei nur soweit sinnvoll, wie sich die Zerstörung gegebener Angebotslagen und Marktverhältnisse in der Hervorbringung von etwas Neuem als schöpferisch erweise.
Durchaus „ernsthaft“ läßt sich behaupten, daß erst bei der Gründung der Bundesliga Konsequenzen aus Schumpeters Erörterungen gezogen wurden: nach althergebrachtem Ernstfallkapitalismus hätten nämlich ein bis zwei finanzstarke Clubs, die Sport in rein ökonomischem Interesse betreiben, die besten Spieler für ihre Mannschaften zusammengekauft. Das zahlende Publikum hätte aber bald sein Interesse daran verloren, in der ersten Liga nur noch immer erneut dieselben Mannschaften gegeneinander spielen zu sehen, die einzig aufgrund ihrer Finanzkraft als eben die Besten formiert wurden. Um diesen Effekt zu vermeiden, führte man genialerweise die sogenannte „Ablösesumme“ ein: wer also einen sehr guten Spieler „einkauft“, muss dem dezimierten Club die Chance geben, seinerseits für entsprechende Alternativen sorgen zu können.
Diese Eichung an der verbotenen Vernichtungskonkurrenz wurde leider jüngst von Richtern als ethisch nicht vertretbarer Menschenhandel beurteilt. Es bleibt abzuwarten, wie die Eichung des wirtschaftlichen Handelns von Fußballclubs am verbotenen Ernstfall des Menschenhandels gegen den verbotenen Ernstfall der Vernichtungskonkurrenz zu gewichten sein wird.
Der für den Alltagsmenschen sicht- und hörbarste Hinweis auf die Eichung am Verbotenen hat seit 1990 Gesetzesrang: angeregt durch die FDP-Abgeordnete Dr. Uta Wuerfel wurde der Satz „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ im Arzneimittelgesetz verankert. Die Formulierung wurde durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 11. April 1990 (BGBl. I Seite 717) eingeführt. Durch Artikel 5 Nr. 1 Buchstabe b dieses Gesetzes wurde die Formulierung in das HWG eingefügt. Das gilt nicht nur für Patienten, sondern entscheidender noch für die behandelnden Ärzte. Sie müssen ihre Therapien am verbotenen Ernstfall eichen, sich also stets fragen: was bedeutet die Behebung einer Organerkrankung, wenn gerade durch die Wirksamkeit der Therapie andere Organe, die bisher nicht geschädigt sind, in Mitleidenschaft gezogen werden? Denn wirksame Therapien zeitigen immer auch Wirkungen, sogenannte Nebenwirkungen, die, wenn sie sich aufschaukeln, zu Hauptwirkungen werden können. Wirksame Therapie macht krank.
Allgemein gilt: Je effektiver eine Intervention, sei es nun im Bereich der Medizin, der Politik, des Militärs oder der Wirtschaft, ist, desto größer werden die nicht gewollten, weil schwer kalkulierbaren Folgen.
Orientierung auf Scheitern als Strategie
Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts mußten militärische Operationen generell am verbotenen Ernstfall geeicht werden, d.h. bei jeder strategischen Entscheidung mußte der Feldherr von vornherein das Scheitern seiner Mission einkalkulieren, um die ungewollten Folgen abschätzen zu können. Wer sich hingegen vermessen am vorgesehenen Erfolg orientiert, rechnet gerade nicht mit dem Gegner, der die gleichen Absichten wie man selbst verfolgt. Die eigentliche Leistung der Strategen besteht darin, das Nichtaufgehen des eigenen Kalküls und vor allem den Erfolg des Gegners in Rechnung zu stellen. Nichts ist für den militärischen Führer gefährlicher als eine Reihe gewonnener Schlachten, durch die, als Pyrrhus- Siege, das Gespür für die Gefahr des Scheiterns verlorengeht. Militärisch strategisches Denken mußte sich daher stets darin bewähren, gerade beim Verlust einzelner Schlachten die eigene Handlungsfähigkeit zu sichern (das wußten z.B. die preußischen Generalstäbler, die Hitler durch die Etablierung des Oberkommandos der Wehrmacht ausschaltete. Nicht zuletzt scheiterten Hitler und seine Paladine von Halder bis Keitel an der Risikoblindheit aufgrund der Serie von gigantischen Schlachterfolgen im Rußland der Jahre 1941/42).
Ebenfalls seit Anfang des 19. Jahrhunderts orientierten sich die kritikfähigen Künstler am neuen Paradigma des Verbotenen Ernstfalls. Deshalb führte Schiller die Kategorien des ästhetischen Scheins oder des Spiels in die Kunsttheorie ein, um konkretes Handeln in der Sphäre der Bühne oder der Öffentlichkeit zu legitimieren. Das Spielen kennzeichnet gerade die Vermeidung des irreversiblen Ernstfalls. Kunstpraxis wurde so generell als ein Handeln bestimmt, das sich durch Vermeidung von unwiderrufbaren Folgen auszeichnet. Pointiert heißt das: der Grad der Folgenlosigkeit bestimmt den Rang eines Werkes.
Auf die Spitze trieb diese Bestimmung René Magritte mit seinem berühmten Hinweis, die gemalte Pfeife sei eben keine reale Pfeife. Das Gemälde leiste gerade die Thematisierung der Differenz von Gegebenheit eines Faktums und seiner jederzeit revidierbaren Geltung.
Das ist auch der Kernpunkt der gesamten Diskussion zu Kunst und Demokratie: Es geht nicht mehr um die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst, oder zwischen moralisch und unmoralisch etc., also nicht um das Ergebnis einer Entscheidung, sondern um die Begründung eines Anspruchs.
Wer etwas durchzusetzen hat, braucht Sanktionsgewalt, d.h., derjenige, der einen Anspruch erhebt, muß sich in der Demokratie durch Wahl, durch Approbation, Promotion, Delegation, Verkaufszahlen oder Einschaltquoten legitimieren. Im Unterschied zu den Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft, Militär und Medizin definieren sich aber Dichter und Künstler in ihrem Aussagenanspruch gerade nicht durch Zustimmung Dritter, im Gegenteil: sie bestehen darauf, „von keinem Volk getragen“ zu werden, d.h. nicht durch Einschaltquoten, Verkaufserfolge oder Diplomierung ihren außerordentlichen Aussagen Geltung zu verschaffen. Damit verzichten sie ausdrücklich auf Anrufung einer Sanktionsgewalt. Jeder darf und kann den Besuch von Museen und Galerien straflos vermeiden (strittige Ausnahme sind Architekturen und Skulpturen im öffentlichen Raum, soweit die Konfrontation mit ihnen jedermann aufgezwungen wird).
Aber auch Künstler fallen immer wieder in die Legitimation ihres Tuns durch Anrufung des existenziellen Ernstfalls zurück.
Der Poète maudit, der radikale Dichter, schüttete sich mit Kannen von Kaffee und Litern von Wein pro Tag zu, stopfte sich mit Rauschgift voll oder holte sich absichtlich Syphilis, Aids als heutige Entsprechung, um am existentiellen Ernstfall seiner Person die Glaubwürdigkeit seines Werkes zu demonstrieren. Dramatische Beispiele bieten dafür in der jüngsten Vergangenheit etwa Janis Joplin, Sid Vicious oder Kurt Cobain.
Wenn KünstlerInnen heute chirurgische Eingriffe an sich vornehmen lassen – ob zum Vorteil des Äußeren oder nicht – und dies als Carnal Art ausweisen, ist das eine letzte Zuckung im Aufbegehren gegen das Ernstfallverbot, allerdings schon mit den Einschränkungen der modernen Versicherungsgesellschaft: denn die Fleisch- und Blutkünstler verlassen sich darauf, aus der Narkose wieder aufzuwachen und darauf, daß die ihren Körper plastisch gestaltenden Chirurgen über Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, wie sie vor Gericht als state of the art einklagbar sind.
Immer wieder glauben minore Begabungen, ihre literarischen Basteleien durch offensives Zurschaustellen existenzieller Betroffenheit überhöhen zu können: Beim Wettbewerb um den Bachmann-Preis in Klagenfurt entblödete sich jemand nicht, während der Lesung seiner Texte seine Stirn mit einer Rasierklinge zu ritzen, um durch das fließende Blut die Blutleere seines Wortspiels zu kompensieren. Immerhin ist das Gros der Zuschauer solcher unzivilisierten Manifestationen kultureller Größe in der Lage, diesen Rückfall in die Eichung am existenziellen Ernstfall als bestenfalls unterhaltsam einzuschätzen.
Der verbotene Ernstfall: das Ende des alteuropäischen Decorums
Damit sind wir bei der entscheidenden Begründung des Ernstfallverbots. Als Wilson, Schumpeter u.a. für die verschiedensten Handlungsfelder die Eichung am verbotenen Ernstfall entwickelten, stellte Carl Schmitt (und mit ihm auch etwa Ernst Jünger oder Gottfried Benn) fest, daß primär nicht der Fortschritt humanitärer Gesittung die Ernstfalleichung erledige; vielmehr habe die Vorherrschaft von Unterhaltung im Alltagsleben der Zeitgenossen die alte Eichungsordnung, das antik-humanistische Decorum-System, außer Kraft gesetzt. Es begründete eine Skalierung, eine Rangfolge von hoch und niedrig, von erhaben und trivial, von Tragödie und Komödie.
Den hochrangigen Gattungen war die Darstellung des existenziellen Ernstfalls von Individuen und Kollektiven vorbehalten – also Krieg, Macht und Herrschaft, die Anrufung der Götter und der Gesetzmäßigkeiten des Weltlaufs. Am niedrigen Ende der Skala wurden in den Gattungen der Komödie, der Burleske, der Satire, des Schwanks Sexualität, Stoffwechsel und das Gefeilsche der Händler mit ihren Kunden in Szene gesetzt. In diesem Decorums-System galt etwa die Stadtmauer als höchstrangiger Sakralbau, und die Präsentation des Nachttopfs, von Zoten begleitet, als niedrigste Äußerung der Tatsachen des Lebens in kultureller Selbstwahrnehmung.
Bis heute hält sich bei uns die entsprechende Skalierung von Hoch- und Subkultur bzw. von E- und U-Musik. Seit den 60er Jahren, seit der Pop-Art, verliert aber diese Skalierung zunehmend an Bedeutung.
Denn wo der existenzielle Ernstfall, der Tod eines Individuums, sei es nun in einer vermeintlichen Aktualisierung Shakespeare'scher Tragödien oder in einem Kriminalfilm mit ostentativer Vorführung von Körperzerstückelung zum Gegenstand der Zerstreuung geworden ist, ist das Eichungsverfahren nicht mehr brauchbar. Hier ist der Ernst selbst zum Fall der Unterhaltung geworden, und damit ist die Eichung eines konkreten Verhaltens, die Begründung jeglichen Aussageanspruchs auf den Ernstfall von Leben oder Tod hin, nicht mehr möglich. Wer heute noch versucht, sein Weltverhältnis derartig zu untermauern, wird bestenfalls noch gleichgültiges Schulterzucken ernten. Diese Entwicklung ist in der Tat irreversibel, d.h., Hinweise auf die Wertigkeit und Rangigkeit individuellen Denkens und Tuns lassen sich nicht mehr aus dem jahrhundertealten Decorum-System ableiten – selbst dort nicht, wo modernste Analogien zu Stadtmauern wie elektronische Barrieren unmittelbar an diese Skalierung erinnern.
Jeder Mensch ein Künstler
Für einen tatsächlich zeitgemäßen Künstler muß es eine vorrangige Aufgabe sein, seine Geltungsansprüche ohne Legitimation durch Sanktionsgewalt mit ernsthaften Folgen zu vertreten. Damit könnte er beispielhaft für alle Mitglieder demokratisch verfaßter sozialer Kulturverbände sein. In dieser Beispielhaftigkeit liegt der tiefere Sinn der Beuys'schen Behauptung, jeder Mensch sei ein Künstler, denn jeder Mensch – ob Bildhauer, Wissenschaftler, Hausfrau, Arzt oder Politiker – hat das gleiche Problem der vollständigen Bodenlosigkeit seiner Entscheidungen, wenn die ernstfallgemäßen Begründungen nicht mehr greifen. Aus dieser Eigenverantwortlichkeit wird auch deutlich, warum eine Untertanenhaltung im klassischen Sinn nicht mehr zum gewünschten Erfolg führt.
Die Leitfrage bei der Einschätzung von Künstlern ist, ob sie dieser geforderten Beispielhaftigkeit tatsächlich entsprechen, oder ob sie nicht schon vom durchschnittlichen Alltagsmenschen bei der Bewältigung der Haltlosigkeit jeder Entscheidung übertroffen werden. Im Gegensatz zu Künstlern, die auf die Schaffung von „Werken“ ausgerichtet sind, haben viele Alltagsdemokraten den Anspruch längst aufgegeben, sich durch irgend etwas Produziertes zu verewigen, bzw. auch nur eine Spur ihres Lebens zu hinterlassen – nicht einmal in Gestalt von Liebesbriefen oder selbstverfaßten Gedichten, die dann die Kinder einst am Grab aufsagen könnten. Stattdessen tun alle so, als ob das Leben ewig so weiterginge – ein bißchen herumhantieren, ein bißchen essen, ein bißchen fernsehen und ab und zu ins Ferienlager. Das ist beispielhaft. Da sitzen sie dann seelenruhig, beschallt von der nahen Eisenbahnlinie, eingepfercht in kleinste Zeltchen auf regennassem Boden. Hätte man solche Zustände in den Ferienparadiesen vor vierzig Jahren einer Menschenrechtskommmission gezeigt, wäre die Anlage sofort als vermeintliches KZ geschlossen worden.
Das ist aber die Stärke der wahren Demokraten: man marschiert freiwillig in die Lager, weil es keinen Unterschied zu den Strafanstalten mehr gibt. Dafür kostet umgekehrt ein Gefängnisplatz heute pro Tag soviel wie eine Übernachtung im Luxushotel.
Demokrat sein heißt, sich entscheiden zu müssen
Daß heute Alltagsmenschen zumindest im gleichen Maße ihre Individualität betonen wie zuvor klassische Tätertypen (Feldherren, Staatenlenker, Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler), entspringt nicht anmaßlicher Refeudalisierung der Gesellschaft, also der Behauptung: was früher den Fürstlichkeiten vorbehalten gewesen, stehe jetzt als Recht persönlicher Willkür jedermann zu.
Der Verzicht auf die Letztbegründung durch den existenziellen Ernstfall läßt den Anspruch der Auctoritas, der Führung durch normative Vorgaben, hinfällig werden.
Spätestens seit der öffentlichen Erörterung des Tschernobyl-GAUs in den Medien wissen beispielsweise alle Bürger, daß ihnen die noch so gut begründeten Kenntnisse von Physikern nicht die eigene Entscheidung, wie sie sich verhalten sollen, abnehmen. Im Gegenteil: die präsentierten Experten gaben die jeweils neuesten Becquerel-Werte für die Atemluft, für Wildbret, Pilze, Gemüse und dgl. mit dem unmißverständlichen Hinweis bekannt, daß aber jeder Bürger selbst Konsequenzen aus diesen Mitteilungen ziehen müsse. Die Bürger waren natürlich ratlos vor dieser Zumutung, denn sie konnten ja nicht vor jedem Verzehr erst ins Labor laufen und die Meßwerte erfragen. Und andererseits war es ihnen auch nicht möglich, generell auf die Nahrungsaufnahme zu verzichten. Schlimmer noch: Experten trafen sich widersprechende Aussagen, die aber alle gleichwertig waren, weil ihre Verfasser gleichermaßen wissenschaftlich ausgewiesen und damit legitimiert zu sein schienen. Wer sich da vorläufig um die Entscheidung drückte, um sich bei anderen umzuschauen, bei gewichtigen Funktionsträgern, deren Entscheidungen große Auswirkungen haben, also z.B. bei Richtern, erfuhr, daß auch diese vor dem gleichen Problem standen wie die Bürger. Auch der Richter kann seine Entscheidung nicht durch Aussagen von Experten legitimieren, weil es eben im Wesen der wissenschaftlichen Expertisen liegt, daß zu jeder Expertise mindestens eine gleich gut begründete Alternative besteht.
Der vielbesprochene Trend zur Individualisierung hat eben in dieser Bodenlosigkeit, in diesem nackten Voluntarismus der Entscheidung, die jeder selbstverantwortlich zu treffen hat, seinen Grund – auch wenn diese Individualisierung häufig in Verhaltensweisen zutage tritt, die man als schiere Mutwilligkeit kennzeichnen möchte.
Soweit die Bürger objektiv nicht in der Lage sind, die Verpflichtung zur Selbstverantwortlichkeit einzulösen, hält die Gesellschaft, um existenzielle Vernichtung der Individuen zu vermeiden, etwa Einrichtungen des sozialen Netzes bereit. Diese Ausformung des verbotenen Ernstfalls kann zu Recht für sich in Anspruch nehmen, auch gegen den Willen der Individuen wirksam zu werden – etwa in der Verhinderung von Selbstmorden oder der Selbstverstümmelung. Risiken dieses Vorgehens liegen auf der Hand: Allzuviele werden dazu verführt, sich selbst zu existenzgefährdeten Opfern sozialer, politischer oder kultureller Gegebenheiten zu machen, um der Fürsorge, erzwungen durch das Gebot des zu vermeidenden Ernstfalls, teilhaftig zu werden.
Es kennzeichnet das Selbstverständnis von Demokratien, daß jeder für seine Entscheidungen selbst einstehen muß und Verantwortlichkeit nicht delegieren kann, obwohl ihm kein verläßlicher Halt durch Normativität geboten wird. Gegen diese Haltlosigkeit, diese Bodenlosigkeit ohne Letztbegründung richten sich denn auch immer erneut die großen Vorbehalte gegen demokratische Verfaßtheit.
Vom säuischen Behagen in der Kultur (1)
Dagegen gibt es natürlich Einwände.
Zum einen meint man, diese Bodenlosigkeit führe zum reinen Egoismus in der Durchsetzung des eigenen Mutwillens, zum anderen zu einer Art Selbstadelung des Bürgers als heroischer Nihilist, der seine ganze Würde und Selbstachtung daraus bezieht, an nichts mehr zu glauben und keiner Zielsetzung mehr bedürftig zu sein. Zum dritten verweisen die Einwände darauf, daß die von Gott, Kaiser, Papst und Vater verlassenen Demokraten zu der falschen Schlußfolgerung kämen, daß alles gehe! Alles geht ja nur, wenn es geht. Wenn man aber erst ohne stützende Erfahrungen und Vorgaben anderer herausfinden will, was geht, könnte es schon zu spät sein.
Und viertens schließlich behaupten die Kritiker, die bodenlosen Demokraten retteten sich in die psychologisch verständliche Auffassung credo quia absurdum: ich unterwerfe mich dem objektiv Unsinnigen, das ja gerade Sinn machen muß als nicht erfaßbarer Sinn. Demokraten würden zu spiritualistischen Irrlichtern, gefährlich durch ihren Zusammenschluß in Sekten, also mit Leuten, die sich gleichermaßen auf das Unvorstellbare, das Unsagbare, das Absurde verpflichten wollen.
Ich mache den Vorschlag, diese vom Individualisierungsdruck erzwungene Haltung als Mihilismus zu kennzeichnen, weder egoistisch aus bloßer Vorteilsnahme, noch mutwillig aus heroischem Nihilismus, sondern eigenverantwortlich ohne Legitimation durch das Beispiel anderer oder durch die Norm der Kollektive – Mihilismus des Ich-Menschen, der sich auf kein Du mehr verlassen kann. Als solche gelten die Künstler.
Aber auch sie kommen als Beispielgeber im Beispiellosen nicht mehr in Frage. Die wahren Helden der demokratischen Bodenlosigkeit sind die Bürger selbst. Zwar wird ihnen immer noch von Programm-Machern und Programm-Gestaltern, von Stars und Politprominenz, von Feuilletonintellektuellen angeboten, was in und out ist, was vermeintlich gilt, weil es viele bestätigen, und was Schnee von gestern sei, für den sich niemand mehr interessiert. Gerade diese röhrenden Hirsche, diese Kitschiers der Moderne als Refeudalisierung, als jedermann zugestandene fürstliche Willkür, buhlen vergeblich um Gefolgschaft. Sie suhlen sich im säuischen Behagen pathetisch deklarierter Egalité und Fraternité als Selbstverständlichkeit ihrer jeweiligen Stammeskultur: als Wagner-Gemeinde im Bayreuther Festspielhaus so gut wie als Hooligans in den Stadien, als parteilich organisierte Weltretter in politischen Korrektheitsbekenntnissen so gut wie als wettsaufende Ballermann-6-Klientel.
Aber dieser Terror der Selbstgewißheit, nicht einmal Gott, geschweige denn die Wirklichkeit zu fürchten, zeigt nur an, wieweit man den Anforderungen des Mihilismus bereits ausgesetzt ist, d.h., der Erfahrung von Ohnmacht der Macht in Demokratien, selbst wenn sie noch normative Handlungsanleitungen böten.
Der Demokrat lebt aus der Ohnmachtserfahrung und der Anerkennung der Wirklichkeit als das, worauf wir keinen Einfluß haben, auch wenn wir es noch Gott nennen und durch kultischen Umgang zu beschwören versuchen.
Wie ist eine solche Orientierung an der Ohnmachtserfahrung zu denken, Orientierung an der Erfahrung des Scheiterns?
Ich beschränke mich, weil ich sonst reihenweise in dieser Hinsicht nicht allzu bekannte künstlerische Beispiele vorführen müßte, auf ein Ihnen allen bekanntes Modell, das erst durch Karl Marx' Ausschreibung in seiner grundsätzlichen Bedeutung offenkundig geworden ist: „Proletarier, ihr habt nichts zu verlieren als eure Kette“; das vergegenwärtigt tatsächlich die frohe Botschaft des Neuen Testaments: für die Christen ist mit dem Kreuzestod Christi gesagt, daß das Ende als Drohung nicht vor uns liegt, also unsere Zukunftserwartung nominiert, sondern daß Christen immer schon den Untergang, die existenzielle Aufhebung im Tod ein für alle mal hinter sich haben. Das Ende ist nicht ein apokalyptisch bestimmter Endpunkt, sondern im Ende, im Scheitern erst liegt jeder Anfang.
Immerhin läßt sich in historischer Rückschau sagen, daß bisher vornehmlich Künstler, die ihre Sache auf die Erfahrung des Scheiterns gestellt haben, uns in dem Vertrauen, sich in der Bodenlosigkeit bewähren zu können, unter größtmöglicher Vermeidung von Risiken bestärkt haben.
Wenn dies ist keine Pfeife gilt, dann gilt: soweit auf normative Vorgaben nicht mehr legitimierend zurückgegriffen werden kann, verweist gerade das immer notwendig Fragmentarische, Häßliche, Bezweifelbare, Täuschende auf das anders nicht in Erscheinung tretende Ganze, die Schönheit, die Wahrheit. Gerade die als solche erkannte Lüge ist noch wahr, auch wenn man die Wahrheit nicht kennt. Das als solches empfundene Häßliche verweist noch auf die Schönheit, auch wenn ich mit Dürer nicht weiß, „was die Schönheit sei“. Ein ausgezeichneter, weil mihilistisch kundiger Demokrat operiert also mit der Lüge als solcher, mit der Täuschbarkeit als unvermeidlicher, mit der Erfahrung der Bodenlosigkeit und Ohnmacht als verläßlichem Grund.
In diesem Sinne: lernt zu lügen mit den Dichtern, lernt zu täuschen mit den bildenden Künstlern, lernt zu balancieren mit den Akrobaten über dem Abgrund, die den hermeneutischen Zirkel spielend knacken: sie halten sich hoch oben auf dem schwankenden Seil fest an etwas, was sie selbst in Händen tragen.
Gepriesen sei, was ohne Folgen bleibt
Wenn Sie bei den nächsten Fernsehnachrichten beim Anblick der verstümmelten und vergewaltigten Kriegsopfer erschauern, denken Sie daran, daß der Ernstfall aufgehoben ist, seit derartige Bilder zum Gegenstand der Unterhaltungskultur geworden sind und die Bombenwerfer im Kosovo versichern, daß die Müllabfuhr zur Beseitigung der Schäden schon bestellt ist.
Die Müllabfuhr der Kunst aber heißt Museum, denn das Museum ist die geniale Entsorgungsanstalt, in der alle Kunstwerke unschädlich und folgenlos gemacht werden. Folgenlosigkeit ist der höchste Ausdruck von Kunst in der Eichung am verbotenen Ernstfall. Folgenlosigkeit ist dabei nicht zu verwechseln mit Bedeutungslosigkeit, im Gegenteil: denn im Bereich der Ökologie etwa haben wir gelernt, Folgenlosigkeit als ein Kriterium für besondere Produktqualität zu schätzen. Wer etwas herstellt, was für die Umwelt keine Folgen hat, erhält zur Belohnung den grünen Punkt oder den blauen Engel. Genau das kennzeichnet demokratisches Selbstverständnis, nämlich eine Orientierung auf Vorbehalte und Rückrufbarkeiten hin. Gegenwärtig scheinen sich aber immer noch sehr viele Zeitgenossen in der Klemme zu befinden, einerseits ihr Schaffen, ihre Arbeit an der Selbstzerstörung der eigenen Person durch ungesunden Lebenswandel oder gefährlichen Körpereinsatz bei Ehe- oder Freizeitperformances messen zu lassen, andererseits aber eingesehen zu haben, daß von ihnen Beispiele erwartet werden für das Schaffen von etwas, das ohne Folgen bleiben muß.
In vielen Lebensbereichen müssen wir uns noch etwas darin üben, Folgenlosigkeit als Alltagsstrategie zu akzeptieren, aber wir kommen nicht darum herum, uns aus dem säuischen Behagen in den eigenen kulturellen Selbstgewißheiten herauszureißen. Diese falschen Gewißheiten lauten: „Wir sind die Stärksten, die technologisch Überlegenen, wir zahlen alles, uns kann keener!“ Keener, außer all denen, die nicht so denken!
(1) vgl. H. Mühlmann: Über Bazon Brock. Das säuische Behagen in der Kultur. Köln 1998.