Buch Bild, Kunst, Medien

Resonanzen auf das Denken von Hans Ulrich Reck

Bild, Kunst, Medien, Bild: Resonanzen auf das Denken von Hans Ulrich Reck.
Bild, Kunst, Medien, Bild: Resonanzen auf das Denken von Hans Ulrich Reck.

Erschienen
2017

Herausgeber
Stallschus, Stefanie | Ternes, Bernd

Verlag
Herbert von Halem

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
978-3-86962-412-9

Umfang
228 S.

Seite S.13 im Original

Über Erkenntnis als Strafe

oder Über Spekulation als Modell für »vernünftige« Rationalität oder Die Frage, wie Geist wirksam wird

Wenn man die Steigerung der Abstraktion verwaltet, sozusagen peu à peu alle empirischen Daten eliminiert, dann bewirkt man die Anheizung genau desjenigen Systems, in dem es keine Regulierungen mehr gibt außer den Erkenntnissen, die das System selber immer schon erzeugt und als Bestätigung seiner selbst verwendet. 

Hans Ulrich Reck, 2008

Gespräch zwischen Bazon Brock und Hans Ulrich Reck,
am 1.11.2008 in Wuppertal, moderiert von Christian Bauer Brock: Die wirkliche Situationsbeschreibung lautet: Man ist verrückt, wenn man den Anwei­ sungen des medienrepräsentierten Logos folgt, und man wird verrückt, wenn man ih­ nen nicht folgt.

Reck: Das findet in dem statt, was man dann »Lebenswelt« zu nennen pflegt. Das empfinde ich immer noch als einen schönen Begriff, obwohl ja die philosophischen Dekonst­ ruktivisten eo etwas zu denunzieren anhaltend bestrebt waren. »Lebenswelt« ist nach Husserl das je Gegebene einer bestimmten Zeit in der Wahrnehmung der tägöichen Realitäten. In dieser Lebenswelt macht man Erfahrungen, die sich als aporetisch für die Beobachtung herausstellen. Beispiele für selbstverräterische Artikulationen, Äuße­ rungen und Fehlleistungen von Politikern wären hier wahrlich Legion. Die gewohnten Aporien haben mit der Zeit jedoch eine neue Qualität erhalten. Ein anderes, einschlä­ giges Beispiel, das verbreitet und in einer Weise virulent geworden ist, wie man sich das vor kurzem überhaupt noch nicht vorzustellen vermochte, sind Verträge und Aufträge von Netz­ und Telefonanschlüssen. Im Zeitalter des Wählens von Telekommunikati­ onspartnern geht man Bedingungen ein, die überhaupt nicht vorhanden wären, wenn es nicht das gäbe, was die Wahl dann im Grunde ausschließt. Man wählt etwas ver­ meintlich Sinnvolles, jedoch wird im Anschluß daran immer etwas anderes gemacht. Mittlerweile hat das System: Man bekommt nie den oder das Gewählte, sondern stets etwas anderes, verbunden mit der Mitteilung eines »Vertragspartners«, man habe eine Vertragsbindung von zwei Jahren, obwohl man nie einen Vertrag unterschrieben hat. Reklamationen, Nachfragen, Einsprüche, Ankündigungen, Drohungen und ähnliches mehr erbringen nichts. Die Beweislast liegt nicht bei der Telekom, die einen Auftrag behauptet, der nie erteilt worden ist, sondern bei dem, der zum Betroffenen gemacht wird. Es ist noch nicht einmal möglich, direkt in Kontakt zu treten. Wenn man zur Telekom geht oder eine eingeschriebene Klarstellung schickt, nützt das überhaupt nichts, denn niemand fühlt sich zuständig oder beachtet das Faxgerät. Das Interessan­ teste am leidvollen Vorgang war das Telefongespräch mit einem Techniker der Telekom, der angerufen hat, ob er die Leitung nun freischalten dürfe. Ich sagte ihm, ich hätte alles rückgängig machen wollen. Er antwortete sofort, das kenne er. Er bat mich, auf der Direktionsetage vorstellig zu werden, da er es als Belastung empfände, permanent Um­ gang mit Leuten zu haben, die Opfer betrügerischer Machenschaften werden. Dieser Techniker der Telekom berichtete weiter, ihm selber sei vor Jahren ebenfalls ein solcher Betrugsfall in der eigenen Firma widerfahren. Er selbst habe nicht in Erfahrungen brin­ gen können, welche Person in welcher Servicezentrale der eigenen Firma ihm den Ver­ trag aufgenötigt oder untergeschoben habe, dem keinerlei Wahrheit entsprochen habe.

Brock: Genau so ist es. So funktioniert das totalitäre Regime. Es herrscht die Aporie, das heißt, eine Auflösung jeden Vertragsverhältnisses, jeder Bindung, jeder Verantwort­ lichkeit. Indem man in das Zustandekommen von Verträgen von vornherein die apo­ retische Struktur einbezieht, gelangt man nie zur Position ja oder nein, bestellt oder nicht bestellt, gewollt oder nicht gewollt. Das ist der Inbegriff der Rechtlosigkeit und des totalitär­faschistischen Willkürregimes. Jüngst machte ich bei DHL, einer in dieser Hinsicht wirklich beispielgebenden Firma, eine entsprechende Erfahrung. Als ich mich beschwerte, weil eine Warensendung nicht abgeliefert wurde, behaupteten die Leute von DHL aus Ärger über meine Beschwerde, ich hätte die Annahme der Ware verweigert und das sei der Grund, weswegen sie nicht da sei. Rufe ich an, um mich zu beschweren, daß die Ware nicht da ist, wird mir dann aus Wut über die Beschwerde beschieden, ich hätte die Annahme verweigert und des­ wegen sei sie nicht da. Wenn man den Versuch unternimmt, diesen Irrwitz zu klären, daß ich zwar die Ware bezahlt habe und dann anrufe, weil ich sie nicht erhalten habe, dann schreiben die DHLer in ihre Unterlagen, der Grund für die Nichtablieferung der Ware sei, daß der Bezieher die Ware nicht angenommen habe; und dagegen sei nichts zu machen. Schließlich hat es eine ganze Woche gedauert, bis die Ware bei mir ange­ kommen war, und das mit dem Schnelldienst DHL. Adorno hatte also recht mit seinem Diktum aus dem Jahre 1959, er fürchte nicht die Wiederkehr des Faschismus gegen die Demokratie, sondern die Wiederkehr des Fa­ schismus als Demokratie. Genau das sieht man auf allen Ebenen realisiert: Nicht nur Euthanasie, Eugenik und Angriffskrieg werden von demokratischen Systemen legiti­ miert, obschon sie zuvor als Inbegriffe von totalitaristisch­faschistischen Regimes figu­ rierten. Diese immanente Logik der Aporie von Staatssystemen bildet die ultima ratio für die Rechtfertigung von Mord und Totschlag, Ausbeutung, Betrug, also kriminellen Handlungen aller Art. Dank dieser phantastischen Logik der Aporie verfielen Burschen wie Hitler auf die Idee, sich nicht wie Verrückte an der Weimarer Demokratie abzukämpfen, um die Macht im Staat zu ergreifen; stattdessen übernahm er ganz legal die Macht. Mittler­ weile haben Wirtschafts­ und Finanzunternehmen mit legalen Mitteln die Macht über­ nommen und bilden eine intelligentere Mafia. Die Mafia läßt sich noch als kriminell stigmatisieren. Wirtschafts­, Finanz­ und Mediengesellschaften dagegen sind intelli­ genter, weil sie dasselbe Verhalten legal auszuführen wagen, nämlich die Legalisierung des Wahnsystems als ultima ratio: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Die Methode lautet: Durchsetzung der Aporie auf allen Ebenen des Lebens. Niemand ist zu fassen oder haftbar zu machen, weil das Gegenteil immer gleich gut vertragsrecht­ lich durchgesetzt wird. Deswegen empfinden unsere Zeitgenossen plötzlich die Welt Kafkas wieder als so modern. Alle lesen Kafka, obwohl er ein Märchenerzähler im Vergleich zu dem ist, was heute die Realität für jeden Einzelnen ausmacht.

Reck: Wir lernen allmählich, daß es dagegen keine Handhabe zu geben scheint. In der Sphä­ re der Telekommunikationsapparate zum Beispiel verendet man am Service Point in Warteschleifen. Meine Erfahrung bestätigt, daß man sich tatsächlich nur noch durch Zahlungen bei Verbraucherzentralen von den Problemen loskaufen kann. Diese mobi­ lisieren dann ihren Vertrauensmann bei der Telekom, der auf der entscheidenden Ebe­ ne korrigierend einwirkt. Mit 25 € kauft man sich über diesen Ablaßhandel­Verwalter von der Telekom frei. Darin funktioniert ersichtlich die Aporie an ihrem letzten Punkt: dem Tarnen.

Brock: Dem entspricht in Karl Schlögels Rußlandbuch »Terror und Traum: Moskau 1937« (2008) die Beschreibung all der Gruppen, Literaten, Künstler, Ballettleute etc., die je einen Vertrauensmann in der Regierung hatten. So schloß zum Beispiel Jeschow ausgerechnet mit Literaten einen Pakt, Woroschilow hat mit den Bühnen­ und Thea­ terleuten kooperiert, so daß immer eine Gruppe, wenn sie etwas wollte, mit einem dieser klassischen Vertreter in der Regierung sich ins Benehmen setzte und schließ­ lich einfach freigekauft wurde. Diese Geschichte vergleiche man mit unserem heutigen System, um auf diese Weise zu einer Art von philosophischer und kulturgeschichtli­ cher Würdigung des Verbraucherschutzes zu gelangen. Wir sollten mit unseren Erör­ terungen auf die Gründung eines »Verstandesschutzvereins« bzw. eines »Rationalitäts­ schutzvereins« hinwirken.

Reck: Vor kurzem wurde die Grünen­Politikerin Claudia Roth anläßlich des Telekom­Skan­ dals zum Thema »Datenschutz« am Radio interviewt. Etwas Außergewöhnliches hat sich in diesem Gespräch mit einem Journalisten zugetragen. Denn er getraute sich ein nach den Gesetzen des Mediums eher ungebührlich erscheinendes, situativ zumindest unkontrolliertes Verhalten. Im Verlauf des Gesprächs schien ihm plötzlich der Kragen zu platzen und er sagte: »Hören Sie mal, Frau Roth, es reicht! Hören Sie auf zu lügen und zu heucheln! Sie selbst haben vor fünf Jahren eben das beschlossen, was Sie jetzt beklagen. Wissen Sie das nicht mehr? Wieso sagen Sie nichts dazu?« In dieser letzten Nische merkte man unverhofft, wie mit einem Mal die Rationalität an ihrer Lüge zer­ brochen ist. Weil jemand auf die offenkundige Lüge hingewiesen hat, war plötzlich nur noch Stottern zu hören. Es war nicht zu leugnen, daß der Interviewer recht hatte. Sonst hätte er gar nicht auf diesen Selbstlauf derer hinweisen können, die immer als Therapeuten von Verfahren auftreten, die sie als Krankheit ein paar Jahre vorher selber absichtlich induziert hatten.

Brock: Das sind wahre Sternstunden – und das, nachdem uns jetzt 50 Jahre mit Erfolg ge­ sagt wurde, die ultima ratio der Begründung zwischenmenschlicher Verbindlichkeits­ verhältnisse, Typ Kaufvertrag, werde durch den Markt gestiftet. Der Markt sei die letzte Begründung von jeder Art von Verbindlichkeit in den Beziehungen; vorausge­ setzt natürlich, ein Rechtssystem als Sanktionsmaschine ist installiert und funktions­ tüchtig.

Reck: Die idealistische Konstruktion, die zur Rechtfertigung ihrer fragmentierten Zerfalls­ stufen immer wieder bis zum Überdruß herangezogen wird, besteht darin, daß dem wohlverstandenen, begründeten und vernünftigen Eigennutz als historische Positi­ on eine wohlverstandene Rationalität identisch entspricht – eine »vernünftige Rati­ onalität«, müßte man paradoxerweise heute formulieren. Rationalitätsbehauptungen wurden ja restlos in system­immanente Effizienzkriterien verwandelt. Das passende Stichwort im Zusammenhang mit der Finanzkrise wäre »Omnipotenzwahn durch Selbstreferenz«, ein Phänomen, das nicht mehr an wohlverstandenes Handeln am Markt als ideelles Konstrukt gekoppelt ist, nicht mehr rückgebunden an Produktivität, noch nicht einmal an Geldformen, an Ressourcen, an Thesaurierung von Gold und Vermögen. All das wurde staatlich entkoppelt, so daß 90% dessen, was gehandelt wird, überhaupt nicht realwirtschaftlich oder »wirklich« existiert.

Brock: Was uns hier und in Vergeichbarem begegnet, ist Spekulation als Rationalitätsmodell. Das historische Kernstück für Spekulation als Rationalitätsmodell bietet die Mathe­ matik. Die Mathematik stellt ein komplettes System von Ausgedachtheiten, d.h. von rein geistigen Operationen dar, völlig losgelöst von jeder Kontrolle an einer real­welt­lichen, materiell­physischen Gegebenheit. Historisch wurde der Nachweis erbracht, daß so ein System in der Anwendung von außerordentlicher Bedeutung sein kann. Wir sehen, daß Finanzakrobaten eine mathematik­analoge Fügung geistiger Positi­ onen zu einem ausgefalteten System von Wahnhaftigkeiten entwickelt haben, das, wie die Mathematik auch, durch seine Methode oder seine Logik auf Grund von ma­ thematische Gültigkeit beanspruchenden Voraussetzungen überzeugte. Der kritische Punkt des Ganzen war die Anwendung dieses Wahnsystems auf die Ingenieurswissen­ schaften wie auf die Realwirtschaft. Die Bruchkante verläuft also exakt zwischen dem Wahnsystem Finanzakrobatik und der Realwirtschaft. Indem Häuser und Grund­ stücke von Finanzakrobaten als Sicherung ihrer Spekulationen gedacht wurden, hat man auf die Realwirtschaft durchgegriffen. Evidentermaßen war also die Spekulation doch nicht selbständig und rein geistig. Sie beruhte immer noch auf dem Rückverweis auf die real­materielle Welt des Grund­ und Hausbesitzes. Ein bedeutsamer Fehler war, nicht sachgemäß den Wert der beliehenen Häuser zu überprüfen, also ein Reales daraufhin zu ermitteln, ob die Häuser es überhaupt wert waren. Vielmehr ging man streng begriffsgläubig an den Begriff »Grundstück« und »Haus« heran, ohne auf den Zusammenhang zwischen dem Buchwert oder dem geistigen Format und der Realität, gegeben in realwirtschaftlichen Positionen, gesondert hinzuweisen. Es ist seit langem klar, daß, sofern es um ein geschlossenes System von Begründun­ gen geht, wie das mathematische Beispiel zeigt, Spekulation das grundsätzliche Mus­ ter von Rationalität ausmacht. Mathematik dürfte sich natürlich durchsetzen, wenn es nur mathematische Spieler gäbe, also Finanzwirtschaftler als global player, die sich weltweit nur an die Spekulationssysteme hielten. Also ist das Kernproblem, wie man den Übergang von geistigen Konstrukten etwa utopischer Art auf die Realität darstellt. Verwirklichte Utopien, verwirklichte Syste­ me der Idealstaaten oder der Paradiese oder des befriedeten Daseins auf Erden (wie im Arkadien­Modell vorliegend) erfahren ihre entscheidende Bewährung in der Um­ setzung auf die Realität der Menschen, wo sie ihre Ansprüche unter Beweis stellen müssen. Auf dieser Ebene begegnet uns ein altes Problem in sich geschlossener spe­ kulativer Systeme, Typus Idealismus inklusive Transzendentalidealismus, die zwar ungeheuer interessant und unterhaltend sind und höchste Befriedigung des Geistes zu bieten vermögen, in dem Augenblick aber zu Schwierigkeiten führen, in dem man aus dem Reich der Spekulation oder des Geistigen in das Reich des materiell­physisch Gegebenen umsteigt. Der Begriff »Lebenswelt« ist durch die Einheit von realphysischen Existenzabläufen und Spiritualität oder Kognitionsgeschehen und imaginativ­literarischem oder künst­ lerischem Schaffen geprägt. Die durch den Begriff »Lebenswelt« angedeutete Sphären­ trennung in einen leiblich­physischen Bereich der Wirtschaft des realen Lebens und in einen spekulativen Bereich widerspricht allerdings dem Konzept der Spekulation. Denn Spekulation ist als eine Operation im Bereich des Möglichen gegenüber der bloß gegebenen Wirklichkeit begründet, also katenergeia/ katdynamis, mithin die Entgegen­ setzung der Potentialität und der Realität.
Wir werden natürlich ebenfalls zu Spekulationsakrobatiken veranlaßt, um die Dimen­ sion der Potentialität zu erreichen und von dort her das Gegebene zu kritisieren. Be­ grifflich entspricht dem die Utopie als Quelle der Kritik an der Wahrheit der Wirklich­ keit. Bei dieser Kritik hat man aber ganz besondere Regeln zu berücksichtigen.
Bisher gibt es nur ein einziges Beschreibungsmodell dafür – den Zusammenbruch. Man weiß, daß nur im Scheitern und in der Katastrophe der wirkliche Zusammen­ hang zwischen der Spekulation und der realen, materiellen, physischen, natürlichen, menschlichen Artefaktwelt entsteht. Man hat sich jüngst – wie das derzeit notorisch diskutierte Problemfeld zeigt – so hochgradig verspekuliert, daß man durch diese Spekulation zu einer Konfrontation mit der Realität gezwungen wurde. Das Spekulationssystem war so bedeutend, daß die Wirklichkeit es für würdig erachtete, eine Widerlegung im Scheitern zu verordnen. Dergleichen nennt man serenity of failure, also die Heiterkeit des Scheiterns. Wissen­ schaftler haben es sich angewöhnt, anhand der Theorien Poppers den Beweisgang ex negativo zu lernen, also das Falsifizierungsprinzip. Die Hypothesenkonstruktion eines Wissenschaftlers ist umso bedeutender, je großartiger er damit scheitert. Aber über diese Prüfstelle verfügen wir bloß bei wissenschaftlichen Verfahren, denn im Sozia­ len, d.h. im realen Leben, können wir keine Experimente zulassen und auch keine durchführen. Deren Sinn erweist sich bekanntlich erst, wenn das Scheitern faktisch vollzogen ist. Wenn geistgetriebene systemische Spekulationsrationalitäten wie die erwähnten auf die Wirklichkeit stoßen oder in sie überführt werden, z.B. im Wesen der Kreditvergabe der Wirtschaft, ist eine Bestimmung dieses Vorgangs nur im Bezug auf die Realwirt­ schaft möglich. Dann hat man sich jedoch an einem anderen Mechanismus zu bewäh­ ren als dem Scheitern. Unsere Aufgabe ist es zu beschreiben, was die Kriterien der erfolgreichen Balance zwischen geistigen Spekulationssystemen als Potentialis und der Realität wären. Wie Potentialität und Realität oder Möglichkeitssinn und Wirklich­ keitssinn miteinander abgeglichen werden können, wenn man im Sozialen es nicht zur Falsifikation als letzter Konsequenz kommen lassen darf. Das Atopie­Problem ergibt sich aus der merkwürdigen Tatsache, daß, je rationaler man die Wirklichkeit angeht, je leidenschaftlicher, ethisch dominierter und gutwilliger, desto vollständiger die Bestimmbarkeit des Objektes oder die Erfahrbarkeit der Wirklichkeit verschwindet.

Reck: Man muß demnach überlegen, in welchen Dimensionen solche Prozesse der Wahr­ nehmung überhaupt möglich sind.

Brock: Im Scheitern ist es möglich.

Reck: Wie gehen Individuen mit diesen Erfahrungen und Erkenntnissen um? Es ist doch erstaunlich, daß die meisten Leute doch noch über irgendeine Art von Rückkoppelung verfügen, die ihnen insgesamt erlaubt, Modifikationen vorzunehmen.

Brock: Sie haben aber Angst vor dem Scheitern, während die großen Tätertypen ja gerade die Falsifikation suchen!

Reck: Kommt hinzu, daß wir anhand dieser Überlegungen über die Gewalt der Abstraktio­ nen reden, zum Beispiel über den Staat als großem Gebilde, das sich über Abstraktion erhält und ganze Systeme stützt, die einfach in ihrer Dynamik laufen gelassen werden, egal welche Kosten sie verursachen, welche Gewalt sie bewirken.

Brock: Analog zu den Analysen im Band »Imperium« von Hardt/ Negri ist das Verhältnis von Abstraktion und Rationalität zu untersuchen. Offensichtlich liegt der Fehler darin, daß man glaubt, durch Abstraktion zur Rationalität zu kommen.

Reck: Das trifft den Kern genau. Wenn man die Steigerung der Abstraktion verwaltet, sozu­ sagen peu à peu alle empirischen Daten eliminiert, dann bewirkt man die Anheizung genau desjenigen Systems, in dem es keine Regulierungen mehr gibt außer den Er­ kenntnissen, die das System selber immer schon erzeugt und als Bestätigung seiner selbst verwendet.

Brock: Zumal es nun im Geiste der Aporie heißt, daß die Großbanken mindestens 6,2 Milliarden nur für die Abfindung der führenden Personen einsetzen wollen mit der Begründung, sie hätten ja schließlich Verträge und darin stünde, daß den Vorständen diese Milliarden als Abfindung zukämen und man wolle ja schließlich nicht Verträge brechen. Weil die Banken Verträge mit ihrem Führungspersonal haben, sähen sie sich zur Erfüllung dieser Abmachungen genötigt, und das notwendige Geld müssten ihre Kunden ihnen geben. Entgegnet man dann, daß die Banken doch vorher Pleite ge­ macht haben, sonst bräuchten sie unsere Hilfe doch überhaupt nicht, erhält man den Bescheid, das sei etwas völlig anderes, dafür könne niemand haftbar gemacht werden. Sie hätten sich bloß an den Buchstaben des Gesetzes gehalten und basta.

Bauer: Sie erhalten Belohnungen für Risikohandeln!

Brock: Der Begriff des »Risikos« scheint natürlich eine Lösung zu versprechen. Das Zwi­ schending von Scheitern und jeder anderen Möglichkeit der Bestätigung nennt man Risiko. Aber was ist das Risiko? Das Risiko besteht darin, daß man zu keiner anderen Verifikation gelangt als der Falsifikation. Der Haken daran ist, daß es bei der Falsifi­ kation bleiben muß. Denn wenn die Falsifikation als Verifikation herhalten und somit der Beweis der Falschheit die Wahrheit sein soll, also die gelungene Falsifikation die Verifikation des Falschen als falsch bestätigt, dann kommen zwangsläufig aporetische Strukturen voll zur Geltung. Der Gedanke der Spekulation als Muster von Rationalität ist in dem enthalten, was uns als Kern des gegenwärtigen Problems beschäftigt. Man könnte soweit gehen zu behaupten, daß die Evolution des objektiven Geistes nach Hegel ihren Höhepunkt in der vollständig geschlossenen Finanzwelt gefunden habe. Das System des Finanz­ investments wäre somit die entscheidende Form der Entfaltung des objektiven Geistes. Es wurde allerdings von den Beteiligten selbst sabotiert. Sie versuchten, diese ihre all­ machtsphantastischen Spekulationen an der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit zu beweisen. Die Folge daraus ist die Falsifikation nach dem Muster einer scheinbar gelungenen Korrektur gemäß dem Motto: Wir wissen jetzt, daß es so nicht geht, aber die Guten und die Starken werden das Desaster überleben. Die Banken müssen sich für die Einhaltung ihrer Verträge mit den Führungskräften Milliardensummen an Ab­ findungsgeldern beim Staat leihen. Der staatliche Hilfsfonds dient dazu, die Rechts­ verpflichtungen der Banken zu erfüllen. Das ist in der Tat etwas Außerordentliches, man kann schon fast sagen, der Triumph des objektiven Geistes. Dabei handelt es sich um einen letzten Gruß vor dem Unter­ gang der Welt. Wie zum Beweis, daß die Falsifikation all unseres Tuns auf Erden als wissenschaftliche Höchstleistung zustande kommt durch den Untergang der Mensch­ heit. Das erst wäre der ultimative Beweis, daß alles, was wir angestellt haben, tatsäch­ lich falsch war. Daß es als falsch anerkannt wird, ist der Beweis der Wahrheit unseres Handelns. Der Weltuntergang erweist sich somit als eine notwendige Lösung für die Tatsache, daß wir keine andere Ableitung von Vernünftigkeit als diejenige kennen, die im Scheitern als Triumph des Gelingens zum Ausdruck kommt. Der Falsifikation als erfolgreichem Abschluß jeder wissenschaftlichen oder objektiv geistigen Tätigkeit entspricht – in assoziativer Übertragung – das Modell »Untergang als Erlösung«, was die Bezeichnung Richard Wagners für das Judenproblem war. Das Motto des Wagnerischen Antisemitismus heißt »Untergang als Erlösung Ahasvers« als der Vermittlung von »Erlösung dem Erlöser«.

Bauer: Das wäre eigentlich der ideologische Hintergrund für die Aufsehen erregende Äuße­ rung des ifo­Präsidenten Hans­Werner Sinn in der Süddeutschen Zeitung (»Damals traf es die Juden, heute sind es die Manager«, SZ vom 27. Oktober 2008, S. 6.), der meinte, die Banker mit den Juden auf eine Stufe stellen zu können.

Brock: Ich glaube allerdings auch, daß er diese Art von Vermittlung nicht nur kurzschlüssig, sondern schon im System liegend erkannt hat. Ich habe einen Spruch daraus gemacht: »Das stiftet Sinn: Juden, Geld, Crash.«

Bauer: Auf der metaphorischen Ebene kann man eine Verbindung aufmachen zwischen Ban­ kern und Juden, die ja seit Jahrhunderten als Luftmenschen charakterisiert wurden.

Brock: Richtig, als reine Spekulanten, die sich ausschließlich im windigen Geschäft der Ab­ straktionen bewegten. Sie sollten aus der Realität abgedrängt werden, durften keine Handwerksbetriebe leiten, sollten keine Immobilien besitzen, etc. Sie wurden wie die Deutschen nach dem Dreißigjährigen Krieg gezwungen, ins Luftreich der Spekulati­ on zu entweichen. Die Siegermächte überließen damit den Bewohnern des in kleine Gebiete zerstückelten Landes eine einzige Ressource, nämlich die Entfaltung des ob­ jektiven Geistes, so daß sie nur noch in Musik, Philosophie und Mathematik wirksam werden konnten. Dem entspricht die Abstraktion des Finanzkapitals.
Die historisch enge Verbindung zwischen Judentum und Finanzwelt, Juden und Ent­ wicklung der Musik, der Mathematik, der geistigen Produktion, der Philosophie und natürlich der russischen Revolution ist der Hintergrund für die Sinn’sche Äußerung. Durch das Verbot aller Arbeit im real Gegebenen, in der Realwirtschaft als Handwer­ ker, als Bauern und als Besitzer waren die Juden gezwungen, in die Spekulation zu emigrieren.

Bauer: Ein »Verstandesschutzverein« müßte folglich zuerst »ein Madagaskar für Banker« pro­ klamieren.

Brock: Sehr nett gesagt! Diese Ableitung würde für uns die Einheit von realer Erfahrung im historischen Verlauf der letzten 150 Jahre mit der Identifizierung von Juden als Spe­ kulationsgrößen und den jetzigen Vorgaben ausmachen. Somit bliebe unsere Analyse nicht auf die Momentsituation beschränkt, sondern wir könnten ein grundsätzliches historisches Muster erkennen, dessen Durchdringung jedoch weiterhin von der Fra­ ge geleitet wäre, auf welche Weise Geist wirksam wird. Auf der Ebene der Neuro­ physiologie stellt sich diese Frage, wie das bißchen Biochemie im Gehirn als Verkehr zwischen Neuronen zu geistiger Tätigkeit und wie Wille zur Vorstellung wird. Diese Fragen beanspruchen ein generelles Interesse, wenn ein Gedankengebäude wie das Finanzinvestment in der realen Welt wirksam wird – gibt es dann nur noch das Falsifi­ kationsprinzip, oder auch noch etwas anderes? Wenn ja, müßten wir das erfassen und beschreiben, was das Andere der Verifikation qua Falsifikation wäre, gewißermaßen der »Andere Zustand«, in dem sich Falsifikation als Verifikation erweist. Denn es ist ja klar, wenn ich etwas als falsch erweise, dann ist das wahr. Also habe ich verifiziert durch Falsifizierung.

Reck: Im Grunde ist man aus der Sicht des Kommentierens dieser aporetischen Erfahrung, dadurch, daß man Experimente nicht machen kann, sie aber doch ständig in Gang gebracht werden und stattfinden, das Versuchskaninchen, das noch die an sich selbst erlittenen Versuche protokolliert.

Brock: Das ist ein alltagspsychologischer Mechanismus. Man ist selbst der Fall, um den es im Leiden und Erleiden geht. Ein bloß scheinbarer Ausweg ist die Einnahme von Rausch­, Betäubungs­ oder Schmerzmitteln, die unsere Wahrnehmung still stellen. Oder aber man zieht sich sogleich auf die äußere Beobachterposition zurück und be­ schreibt, was vor sich geht, um damit zumindest selbst etwas daraus zu lernen.
Diese Einheit von Beteiligung und Beobachtung heißt Selbstversuch. Der Selbstver­ such ist schon lange in der Wissenschaft eingeführt. Werner Forßmann führte sich über die Armvene den von ihm entwickeltenen Katheter selbst ins eigenes Herz ein.

Reck: Aber der Selbstversuch ist noch nicht weit genug vorgedrungen in seiner Funktion und auch bezüglich der Anerkennung nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als lebensweltliche Maxime, als alltägliche Artikulation und Bewältigung der diskursiven Herausforderungen. Diese Maxime hast Du ja öfter und überaus klar als Moralitätsge­ bot des Designs erörtert: Die Architekten sollen nur Häuser entwerfen, in denen selber zu wohnen sie auch bereit sind. Vergleichbares wird im Finanzsystem eben nicht eta­ bliert, stattdessen wird »gezockt«: In Frankreich hat ein Trader der Société Général na­ mens Jérôme Kerviel 4,9 Milliarden € »verspielt«. Interessant daran ist, daß dieser Fall im Sinne einer juristischen Erhebung, wie abzusehen, restlos im Sande verlaufen ist, weil kein Straftatbestand nachgewiesen werden konnte. Kerviel ist einfach einer allge­ meinen Tendenz, im Grunde gar nur einem simplen Berufs­ und geforderten Ehrgeiz­ profil gefolgt, indem er laut eigenem Bekunden schlicht nur Broker des Jahres werden wollte. Er wollte der bestprämierte Angestellte sein und hat dafür alles gemacht, was das System von ihm forderte. Als dann 4,9 Milliarden € durch ihn mit einem Schlag vernichtet worden sind, wußte ich: das ist der Anfang.

Brock: Der Fall Kerviel kam Januar 2008 in die Nachrichten.

Reck: Die Pointe ist: Der Staatsanwalt sagte schon zu Beginn der Ermittlungen, er glaube nicht, daß wirklich ein Straftatbestand vorliege. Auch das ist eine, wenn auch vielleicht ungewöhnliche Bestätigung des Affirmationsprinzips, bleibt allerdings den Akteuren selber nicht zugänglich. Das wahrzunehmen erforderte eine bewußt eingenommene Metaebene: Die Figur bzw. die Strategie der Affirmation, der zufolge es Sabotage wäre, wenn man das System so ausreizte, wie das System es selbst von seinen Agen­ ten erfordert. Die Akteure wissen aber offenbar nicht um diesen Umstand. Insofern braucht man eigentlich überhaupt keine Feinde. Im Gegenteil: Am wirksamsten läßt man das System an seinem Selbstlauf, seinen eigenen Bedingungen zugrunde gehen. Auf der Ebene der großen politischen Reflexion entspricht dem die Entwicklung 1989 und der folgenden Jahre: Die Mauer fällt, die Sowjetunion geht unter und damit der große Antipode des Kapitalismus. Von heute aus gesehen wissen wir, daß mit dem Niedergang seines Hauptfeindes auch das Ende des Kapitalismus eingeläutet worden ist.

Brock: Ich habe 1989 die Behauptung aufgestellt, daß nicht der Untergang des Ostens, son­ dern der des Westens begonnen habe. Denn in dem Augenblick, wo der historische Antipode als Kontrollfunktion entfiel, wurden die westlichen Systeme wahnsinnig; sie konnten sich nicht mehr an der Realität kontrollieren und korrigieren.

Reck: Was in der Folge geschehen ist, war die Immersion dieser Aporie, nämlich an sich selbst gerade dadurch zugrunde zu gehen, daß man den Westen machen ließ, wie er eigentlich schon immer wollte.

Brock: Genau das war die einzige Schlußfolgerung, die man ziehen konnte, wenn man be­ hauptet, es gäbe einen Bonus für erfolgreiches Handeln, dann muß es umgekehrt einen Malus für nicht erfolgreiches Handeln geben; ansonsten ist das Bonussystem über­ haupt nicht vertretbar. Wer bereit ist, bei großem Erfolg ausgiebig Zuschläge, bei ge­ ringem Erfolg oder gar Mißerfolg Strafe in Form von Abzügen zu ertragen, gehorcht noch einer Vernunftfigur. Stattdessen wird ein Bonussystem aufrechterhalten, in dem die außerordentliche Leistung in Form der Sonderzahlungen bereits zur Berufsdefini­ tion gehört. Ich führe seit einigen Wochen einen Schriftwechsel mit Herrn Hilmar Kopper. Kopper hat sich in einem Artikel in der ZEIT geäußert (DIE ZEIT, 9. Oktober 2008, Nr. 42, S. 44), der davon zeugt, wie gefährlich dieser ehemalige Chef der Deutschen Bank ist. Könnte er doch täuschen! Könnte er doch lügen! Aber man sieht seinem Inter­ view­Beitrag an, daß er dem Sachverhalt gegenüber nicht gewachsen ist. Kopper glaubt wirklich – in der Art der Alltagsnaivität eines Rentners aus Kleinkleckersdorf –, die Gier der Sparer hätte das System zusammenbrechen lassen. Angesichts dieser ande­ ren Seite des konfrontativen Diskurses zwischen Spekulation und Realwirtschaft faßt man sich an den Schädel: Man kommt mit Nietzsche zu der Einsicht, daß neben dem Scheitern als Falsifikationsmethode die Beschränkung des Horizonts, also Dummheit, die Voraussetzung dafür ist, daß man mitwirkt bei der Idiotie. Nur wirklich objektiv dumme Menschen ertragen diese Unlösbarkeit – Leute, die Aporien überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Das Gefährlichste sind objektiv dumme Leute, die sich etwas auf ihre eigene Größe einbilden, denn sie sind ja nicht in der Lage, zwischen mo­ ralischem und unmoralischem Verhalten zu unterscheiden. Es ist die Beschränktheit des Horizonts, die den Zugang zur Macht ermöglicht. Diese Führungsmannschaften wurden ausgewählt wegen ihrer objektiven Unfähigkeit, zwischen gut und schlecht, langfristig und kurzfristig, sinnhaft und unsinnig zu unterscheiden. Zweimal haben wir Hilmar Kopper bisher geschrieben. Das Ergebnis ist so bedrü­ ckend wie eindeutig. Jeder Satz von ihm ist eine Aufkündigung des Rationalitäts­ gebots. Und so jemand wird Vorsitzender der Deutschen Bank und Chef einer der größten Weltunternehmungen – das ist eigentlich unvorstellbar. DIE ZEIT hat das In­ terview womöglich in affirmativer Absicht abgedruckt. Denn unter Umständen hoff­ ten die Redakteure, daß es noch genügend Leser geben möge, die beurteilen können, was für ein Kaliber dieser Kopper ist: Ist dieser Mensch noch rechtfertigbar? Folgt er mehr dem Prinzip der Tarnung oder der Täuschung? Stellt sich Herr Kopper aus stra­ tegischen Überlegungen so dumm? Täuscht er einen beschränkten Horizont vor, um keinen moralischen Defekt zu erkennen zu geben? Oder kann er objektive Sachverhal­ te überhaupt nicht unterscheiden? Um zur Mafia zu gehören, muß man als Auswahlkriterium einen Menschen erschos­ sen haben; das ist das Merkmal für Vertrauenswürdigkeit. Im kapitalistischen System muß man beweisen, daß man unterhalb des normalen Anspruchs von Rationalität, Pflicht­ und Verantwortungsgefühl zu operieren versteht, ansonsten ist man untaug­ lich für eine Chefposition.

Reck: Das ist die Wahrheit. Es handelt sich hier um eine historische Etappe in der Wieder­ holung und Anwendung einer Art von Initiationsritual, das zuweilen evolutionsge­ schichtliche Kollateralschäden produziert. Vielleicht erübrigt dieses Initiationsritual sogar die Frage, ob es sich um Tarnung oder Täuschung handelt. Diese Art der Im­ prägnierung und Taufe, dieser Mafia­Kuß mitsamt der offenbar vollkommen unprob­ lematischen Gratifikation der eigenen Kriminalität, der simulativ erfolgreichen Auf­ hebung der internen Unterscheidung von Tarnung und Täuschung – handelt es sich hierbei um eine Frage des Sich­dumm­Stellens oder bereits um eine Antwort darauf?

Brock: Das ist die Frage. Alle Angehörigen der Intelligenz, des Journalismus, der Wissen­ schaften, der Öffentlichkeit, der Politik folgen gemeinhin der Annahme: Die da oben wissen schon, was sie tun. Seit Jesus Christus wissen wir aber: »Sie wissen nicht, was sie tun« (Lukas 23, 34). Das ist die alleinige höhere Wahrheit. Wir dachten immer, alle seien so intelligent wie die Mafia, die genau weiß, was sie tut, nämlich Verbrechen zu begehen. Bei der Mafia herrscht die Intelligenz all derer, die wissen, was sie tun. Solchen Kriminellen kann man dann auch nicht vergeben. Aber bei der Politik, in der Wissenschaft, in der Finanzwelt herrschen offenbar all diejenigen, die nicht wissen, was sie tun. Deswegen sind sie auch gar nicht belangbar.

Reck: Das ist die genau formulierte Pointe der stabilisierten Kriminalität zum Zwecke einer die Naivität sichernden Aufhebung von Tarnung und Täuschung.

Brock: »Vater, vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«. Man hat immer darüber philosophiert, warum Christus sich während seiner Kreuzigung so geäußert hat. War das ein Fall von allumfassender Liebe zu den Menschen, daß man den Armen noch aufhilft? Nein, es verhält sich damit wohl eher so: Man wird nur Führer oder Apostel, wenn man wirklich nicht Herr seiner Handlungen ist, wenn man sich nicht bewußt macht, welchen Irrsinn man vertritt. Man kann auch nicht haftbar gemacht werden, wenn man objektiv unverantwortlich handelt. So erklärt sich auch das affirmative Ver­ hältnis vieler Zeitgenossen gegenüber der Mafia. Denn bei der Mafia tritt jemand mit Bewußtsein und Entschiedenheit als ein Mafia­Boss auf, der gegen ein System antritt. Die Mafia beherrscht das System am besten, weil die Mafioten immer die Kontrolle an der Realität, nämlich an der Konkurrenz der Gegner betreiben; sie sind immer unter Kontrolle. Was wir dagegen über die Analyse hinaus als zu praktizierende Konsequenz in Be­ tracht ziehen sollten, entspricht der Offenbarung des Johannes, weil wir dem apoka­ lyptischen Prinzip verhaftet sind, das ja heißt: Wer das Schlimmste vorwegnimmt, hat die besten Chancen, auch Katastrophen zu überstehen.

Reck: Man wird verstehen lernen, daß man die schlimmstmögliche Wendung annehmen muß, an die man glaubt, weil einzig dem die Metaebene entspricht, die am systemsta­ bilisierenden Irrsinn empirisch beobachtbar geworden ist.

Brock: Das Schlimmste, was man über die Akteure des Nationalsozialismus, Stalinismus, der Finanzkrise, des Faschismus als Demokratie etc. sagen kann, ist unserer Meinung nach: Herr, sie wissen nicht, was sie tun. Das ist das Vernichtendste aller Worte unter dem Gesichtspunkt der Rationalität und der Verpflichtung auf Verantwortung gegen­ über den Mitmenschen. Diejenigen, die Christus in Schutz nimmt, verdienen die größ­ te Strafe: Herr, strafe sie, denn sie wissen nicht, was sie tun. Herr, laß sie untergehen, denn sie wollen nicht wissen, was sie tun.
Wir sollten fordern: Liebe Bankpräsidenten, bekennt euch zu eurer Kriminalität, dann seid ihr gerechtfertigt. Dann werden wir euch ehren und werden euch ein Kränzchen winden und ein Denkmal aufstellen, in dessen Sockel eingraviert zu lesen ist: Hier steht der Bankpräsident, der gestanden hat, daß er ein Erzgauner ist.

Bauer: Und ihre Bestrafung bestünde in der Erkenntnis ihrer Verfehlungen.

Brock: Die Strafe wäre die Erkenntnis – das ist immer so, denn Wissen ist Ohnmacht. Aber die Leute wollen nicht erkennen. Einem Piloten kann man hundertmal den Text »Der Grund für die Verspätung ist das verspätete Eintreffen der Maschine« unter die Nase reiben, eine Phrase, die man noch nicht einmal einem Fünfjährigen als Erklärungs­ modus durchgehen lassen würde, weil es eine Tautologie ist, der Luftfahrtagent wird diesen objektiven Unsinn nicht erkennen. Was soll man machen? Ist man heutzutage nicht überall zur Beleidigung verpflichtet, zur möglichst strafrechtlich riskanten Infragestellung des Gegenübers, der sich unter dem Druck der Kritik zur Wehr setzen muß? Und erst, wenn er sich wehrt, zeigt er eine Reaktion, von der die Möglichkeit ausgeht, das Wirksamwerden von Idiotien un­ ter Beweis zu stellen. Ansonsten wird ja alles zugeschwiegen. In dem Augenblick, wo sich jemand nicht äußert, ist er unangreifbar. Erst wenn man sich zur Gegenwehr ver­ pflichtet fühlt, auch im juristischen Sinne, gewinnt man Einsicht in die Verhältnisse, was jedoch zu einer »Verrechtlichung aller Verhältnisse« führt, wie Habermas sagt. Doch das ist am Ende ziemlich unbefriedigend, weil sich die Prozesse vor Gericht endlos in die Länge ziehen. Und das stehen finanziell, personell oder sachlich nur die Mächtigen durch!
Wir folgen der Maxime: »Man braucht viel Verstand für das Opfer der Vernunft.« Das ist nämlich die Lösung für diese Aporie. Das bietet zugleich die Erklärung für die grassierende Blüte des Comedy­Geschäfts. Im Grunde sind Politik und Finanzwissen­ schaft schon lange Comedy geworden. Und die Nobelpreisverleihung für Wirtschafts­ wissenschaften ist die größte Realsatire aller Zeiten. Wie konnte es soweit kommen? Weil es überall nur noch möglich ist, durch das Opfer der Vernunft zu überleben.

Reck: Das würde ich unterschreiben.

Brock: Wir wollen jedoch in der Diskursgemeinschaft nicht bei einem Orgasmus des Konsen­ ses stehen bleiben. Übereinstimmung bedeutet, einen Sozialorgasmus zu erleben. Eine Diskursgemeinschaft erfüllt nicht ihren Zweck, wenn sie meint, im Konsens angekom­ men zu sein.

Reck: Wir wollen nicht nur nicht im Einverständnis mit einem vermeintlich gemeinsam Ak­ zeptierten uns erschöpfen: Wir können gar nicht darin aufgehen, solange wir über­ haupt etwas analysieren und verstehen wollen. Dennoch steht uns ohne die Bewäh­ rung einer mindestens in bestimmten Situationen zustimmungsfähigen Erörterung die Möglichkeit einer Rückversicherung nicht offen. Wir haben also neu anzusetzen. Die starken Individuen sind eben die, die nicht bereit sind zum Opfer der Vernunft.

Brock: Wie sieht man die Welt ohne die Postulate der Rationalität? Diese Frage haben schon die Pataphysiker, Futuristen, Dadaisten und Surrealisten gestellt: Kann man über­ haupt ein Muster der Vernunft ausbilden, das nicht auf Rationalität gestützt ist? Kann es Unsinn geben, wenn wir von der Wahrheit der Evolution in unseren Gehirnen her gezwungen sind, selbst noch den größten Unsinn als Unsinn zu bezeichnen und damit als Sinn darzustellen? Wie aber stellt sich dann die Sinnhaftigkeit des Unsinns dar, wenn nicht die Religion zuständig sein kann? Denn die ist ja in ihren höchsten Anfor­ derungen – als Glaube gefaßt – gerade die Einheit von Rationalität und Irrationalität, von Kalkül und Absurdität, von Faktizität und Kontrafaktizität. Diese Frage ist eigent­ lich das Kernstück für die notwendige Erklärung. Sie zielt auf das Normativwerden des Kontrafaktischen oder, anders gesagt, darauf, wie ein Wahnsystem Realität gewinnt.

Reck: Es gibt Gesellschaftsformationen oder ­typen, die dieser Probleme in gewisser Weise Herr werden, indem sie sie für ein Kollektiv ausnahmslos modellieren und die Aporie paradoxal, also in Sequenzen phrasieren. Georges Bataille umschreibt solcher Art Übertretungen, die organisiert werden müssen, um das Verbot zu erfahren, also nicht, um das Verbot zu übertreten, sondern um überhaupt zu erfahren, was das Verbot leis­ tet und ist. Das kann man nicht im selben Zustand wie demjenigen des Exzesses oder der intakten Immanenz einer noch unberührten oder unbezweifelten Verbotsgeltung bewerkstelligen. Also werden in solchen Gesellschaften drei Tage in jedem Jahr Satur­ nalien/ Karnevalsfeiern und orgiastische Praktiken in Extremsituationen als bewußte Zerstörung des Verbotes zum Zwecke seiner Re­Installierung durch den die Exzesse verantwortenden Priester begangen. Das geht also nur unter der Voraussetzung von­ statten, daß dem Kollektiv Bedingungen für die Rückkehr in die Normalität apriori zur Verfügung gestellt werden.

Brock: Die Höchstform für die geordneten Verstöße gegen das Tabu und die notwendigen Op­ fer der Vernunft stellt der Staat dar. Andere systematische Vorstöße in das Unbekannte treffen wir auf einer sehr riskanten Ebene in Gestalt des Arztes, der zu bisher unbe­ kannten Körperbehandlungen übergeht, also darin durch keine Erfahrung gedeckt ist und das höchste Risiko eingeht zur Entwicklung neuartiger wissenschaftlicher Metho­ den. Wissenschaft ist die Lizenz, Tabus und Erfahrungswerte zu überschreiten, die jedoch von einem vernünftigen Umgang mit dem Nichtwissen und dem Nichtkönnen geleitet wird. Ein wissenschaftlich verfahrender Arzt besitzt die Lizenz, mit seinem Nichtkönnen umzugehen, indem er eine neue Operationsmethode erprobt.

Reck: Wenn man diese Aspekte auch als für den Staat bestimmende gelten läßt, wenn er also seinerseits anfängt, stellvertretend Agent in Risikospielen zu werden, was ganz offen­ sichtlich das Antriebsmotiv heute ist, dann tarnt er sich bei diesem Übergriff, der nicht als solcher dargestellt wird.

Brock: In sozial­ethischer Hinsicht hat sich ein verändertes Verhältnis gegenüber dem Ra­ tionalitätsgebot herausgeschält, nämlich der Übergang von der Förderungskonkur­ renz (d.h. Wettbewerb) zur Auslöschungskonkurrenz. Von Wettbewerb läßt sich ja
nur dann sinnvoll sprechen, wenn es Konkurrenten gibt. Wenn ich aber durch den Wettkampf den Konkurrenten auslöschen will, dann verstoße ich genau gegen diese Rationalitätsgebote. Man beachte nur die Vielzahl der Äußerungen von Bankern, die ihre Papiere als »Massenvernichtungswaffen« und Finanztransaktionen als Kriegsope­ rationen betrachten, die davon reden, daß sie ihre Gegner zerstören wollen etc. Der Chef von Lehman Bros. hat die Anweisungen zur Vernichtung der Konkurrenz sogar als Lehrvideos seiner Firma publiziert. Das Kernstück für die Erfüllung unserer Mission ist die Darstellung der Vernunft des Unvernünftigen, die sich dem Verhältnis zwischen rein geistiger Spekulation und ei­ ner in sich geschlossenen Rechtfertigung nach dem Muster des mathematischen Be­ weisgangs verdankt. Gelingt uns diese Darstellung, so dürfen wir uns einbilden, etwas missionarisch Sinnvolles getan zu haben. Wir haben unser eigenes Interesse bekundet, uns selbst vor der Kapitulation zu bewahren, indem wir Gründe angeben, warum wir nicht kapitulieren.

Bauer: Keine Kapitulation vor dem Kapital!

Reck: Mit guten Gründen ....

Brock: Diese Utopie ist deswegen so großartig, weil sie die einzige Ressource für die Kritik an der Wahrheit ist. Solange die Menschen die Lüge und die Falschheit kritisieren, sind sie harmlos. Es muß einen Grund dafür geben, die Selbsterhaltung bis zuletzt zu be­ haupten. Denn jenseits der evolutionären Begründung, man müsse von Natur aus den eigenen Körper so lange aufrechterhalten, wie die Fortpflanzungsmöglichkeit noch ge­ geben ist, existiert ja für uns noch ein weiteres Motiv: nämlich die Aufrechterhaltung der Würde.

Reck: Oder auch Stil.

Brock: Historischen Erzählungen ist das Interesse für die Haltung zu entnehmen, wie jemand vor das Erschießungskommando trat, in welcher Haltung er sein letztes Krankheits­ stadium ertragen hat, wie er schließlich auf dem Totenbett aussah etc. Siehe Platons Dialog »Phaidon«. Selbst Feinde berichten von ihren Gegnern, wie sie bei der Exekuti­ on bewunderungswürdig dadurch gewesen seien, wie sie das ganze Prozedere ertragen hätten. Da, glaube ich, steckt so etwas drin wie die Begründung einer Würde. »Stil« wäre mir zu formalistisch im Ansatz. Dagegen kann Würde niemals formalistisch sein. Ich glaube, der Lohn der Angst ist die Würde im Tode; das ist eigentlich auch die Aporie: Wozu muß ich denn im Tode würdig sein?

Reck: Du kannst die Frage generalisieren: Wozu muß ich überhaupt, was auch immer, tun, verkörpern, leisten, verantworten, unterlassen, geschehen lassen, befördern, verhin­ dern? Wieso soll ich, wenn ich mir ein Leben lang angewöhnt habe, mich für mich selber in bestimmter Weise zu verhalten, dies im Angesicht des Todes über den Haufen werfen? Was unternehme ich, wenn ich ultimativ erfahre, ich habe noch sechs Monate Zeit zu leben? Verwandle ich mich dann in das Monster, das ich immer gerne gewesen wäre? Und wie kann man solches ohne eine agonal motivierte Transformation prak­ tizieren, also den Standpunkt des Verbrechens, von Grausamkeit, Betrug und Zerstö­ rung einnehmen? Das sind existentielle Überlegungen.

Brock: Ich glaube, man muß das höchste Ziel jeder Art von Begründungsverhältnis zu sich und der Welt darin sehen, sich selber wertschätzen zu können. Die Drift dieses Gedan­ kens geht natürlich in Richtung der Überschätzung: Man hält sich für ein Genie, für ein allmachtsphantastisches Wesen, für gottgesandt, für offenbarungsfähig usw. Und zugleich ist man sozusagen der Dreck, der sich selber aufgibt. Auf der einen Seite stehen die Leute, die in der Psychiatrie landen aus Gründen der Verabschiedung ihrer Selbstverantwortung oder ihres Unvermögens, selbst noch Verantwortung zu überneh­ men. Und auf der anderen Seite die outcasts, die Kriminellen etc. Das Ausgleichsge­ schehen zwischen diesen beiden Positionen lautet: Gottimitator und Krimineller oder Geisteskranker und Offenbarungsagent. Dazwischen steht das Motiv der Selbstaner­ kennung. Und ich glaube, daß es unmöglich ist zu leben, wenn man sich nicht selbst akzeptieren oder rechtfertigen kann. Diejenigen, die das nicht vermögen, werden kri­ minell. Oder sie werden anderweitig psychisch auffällig, d.h. sie geben die Verantwor­ tung für Entscheidungen ab. Also schulden wir uns selbst Anerkennung.

Bauer: Es gibt doch diesen Ausspruch: Jeder Mensch hat seinen Preis. Nämlich: Ich schulde mir selbst Anerkennung. Wie ließen sich beide Gedankenstränge geschickt miteinan­ der verbinden?

Brock: Jeder Mensch hat seinen Preis, den er im Selbstwertgefühl, in der Selbstanerkennung und Selbstwertschätzung festlegt. Oder: Jeder Mensch hat seinen Preis, den er im Selbstwertgefühl preisgibt. Sie müssen schon die Höhe der Bestechung nennen, ehe ich sage, ob ich korrupt bin. Wer hat gesagt, bei ihm fange die Korruptheit erst bei 5 Millionen an? Aber das ist wohl eine allgemein menschliche Erfahrung.

Bauer: Um daran zu erinnern – Groucho Marx sagte von sich: Ich möchte in keinem Verein Mitglied sein, der mich als Mitglied haben möchte!

Reck: Ich schlage vor, die Sentenz, nach welcher man nicht Mitglied in einem Club sein möchte, der Leute wie einen selber aufnimmt, wie folgt neu zu formulieren: »Ich möchte nur in Clubs Mitglied sein, zu denen ich keinen Zutritt habe.« Jenny Holzer formulierte, wenn auch in anderer Weise, Vergleichbares mit einer Arbeit unter dem Slogan Protect me from what I want. Also: Ich möchte überall dort Mitglied sein, wo ich ganz sicher nicht aufgenommen werde.

Brock: Das ist viel besser, das entspricht der psychischen Realität.

Bauer: Der Untertitel dazu könnte heißen: Heimatsuche als Heimsuchung.

Brock: Ja, das wäre unsere missio – eine Reformulierung der Feststellung, die Adolf Hitler bei der Eröffnung des Hauses der Kunst 1937 in ehernen Lettern ins Tympanon mei­ ßeln ließ: »Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission.« Was hieße »Mission« auf demokratisch? Fanatismus heißt vollständige Unterwerfung der Realität unter ein abstraktes System, in unserem Falle vollständige Unterwerfung der Realwirtschaft unter die Spekulationswirtschaft. Was der Investor mit dem von Mathe­ matikern errechneten und strukturierten Produkten macht, ist nichts anderes als die Einheit von reiner Spekulation und der von der Realität aufgezwungenen Trägerschaft. Fanatismus ist also die Verfolgung eines Prinzips gegenüber der Realität, dessen Ge­ genteil dann Kritik wäre, nämlich die strikte Trennung, die Aufsprengung der Einheit von Begriffswelt und Realwelt. Also ist unsere Kunst eine zur Anwendung apokalyp­ tischer Logik verpflichtete Mission. Weiß man, daß nur die radikalste Antizipation des Elends die vernünftige Begründung des Überlebens zu sein vermag, so bezeichnet dann Erhabenheit das Gefühl des Menschen, sich angesichts des katastrophalen Dro­ hens der Naturkräfte in Sicherheit zu wissen.

Bauer: Ein »Schiffbruch mit Zuschauern«, wie es bei Hans Blumenberg heißt.

Brock: Genau, der Zuschauer ist derjenige, der erhaben ist, weil er diese Katastrophe nur als Betrachter erlebt und nicht als Leidender. Bei unserer Kritik hingegen verhält es sich anders. Wir sind die Positivisten der Apokalypse. Apokalyptisches Denken heißt, durch radikalste Kritik des Endes das Anfangen zu begründen. Der Kernsatz des apo­ kalyptischen Denkens ist: Nur radikalster Pessimismus begründet Optimismus.

Reck: Selbstfremdheit wäre das andere große Thema. Sie ist eine komplementäre Kraft zur Umstülpung in der Anwendung des Apokalyptischen.

Brock: Erkenntnis ist eine zur Selbstentfremdung und apokalyptischen Kritik verpflichtende Mission.

Reck: Das gibt die Maxime ab.

Brock: Die Macht des Geistes besteht in der jedem Vernünftigen einsichtigen Drohung mit dem Ende seines Lebens, dem Ende seines Vermögens, dem Ende seiner Gesundheit, dem Ende seiner Ehe usw. Die apokalyptische Logik in der Einheit von Platonismus, Hellenis­ mus und alttestamentarischer Prophetenrolle lehrt ein vernünftiges Rechnen mit Tod und Vernichtung, was in eine positive Begründung von Lebenseinstellung umzusetzen ist. Auf allen Ebenen sind die Konsequenzen des johanneisch­apokalyptischen Denkens zu vergegenwärtigen. Möchte nämlich ein Tischler einen Tisch herstellen, so muß er das Ende seiner Operationen vorwegnehmen, um überhaupt anfangen zu können. Es ist sinnlos, mit der Tischlerei bei völliger Unkenntnis des Resultats zu beginnen. Diesen Überlegungen liegen aus der Sicht der Anthropologie Muster zugrunde, die sich aus der Erfahrung im Umgang mit täglicher Todesbedrohung ergeben haben. Wenn in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit jemand die Chance zu überleben haben wollte, so mußte er frühzeitig lernen, alle Gefahren, die ihm als potentielles Ende des Lebens dräuen konnten, zu antizipieren. Antizipation ist der Begriff des Vorwegnehmens des virtuell Zukünftigen als Realität. Nur die über Antizipationskraft, d.h. über Vorwegnehmen des Endes Verfügenden hatten eine reale Chance zu überle­ ben. Nur wer die Gefahren des Jagdgeschehens, der Nahrungssicherung etc. antizipie­ ren, also radikaler Pessimist oder Kritiker sein konnte, hatte auch Gründe, Optimis­mus bei der Sicherung des Überlebens zu entfalten. Der Logiker der Apokalypse baut also die Verfügung über die Macht­ und Irrationalitätsphantasien des Endes in einen wohlverstandenen Optimismus des Beginnens um. Der Höhepunkt der Theologie des apokalyptischen Johannes ist mit Augustin erreicht: Initium ut esset homo creatus est – damit es das Prinzip des Beginnens aus der Vorwegnahme des Endes gibt, mußte der Mensch in die Weltgescichte treten. Wir kennzeichnen somit die Entwicklung der Moderne als eine Antizipation der Ka­ tastrophen – und diese Vorwegnahme von (vergegenwärtigter) Zukunft als die einzigen Form der natürlichen Begründung von Optimismus. Überdies überlegen wir, wie mit diesem Konvolut auch gleich noch einmal die Grundlegung des Überlebensoptimis­ mus im kapitalistischen Untergang, also in der Apokalypse des Kapitalismus darzu­ stellen ist. Entscheidende Frage dabei: Wie bewältigt man die Apokalypse des Kapita­ lismus in der Jetztzeit? Wir kommen noch zum alten Sinn des Folterns zurück: Stets wollte der Inquisitor von dem Betreffenden wissen, worin nun tatsächlich die Begründung des Optimismus liegt. Deshalb muß es eine Inquisition für Banker geben unter dem Motto: Redet end­ lich, Banker dieser Welt, damit die Apokalypse als sinnvolle Stiftung von Optimismus möglich wird.

Bauer: Bei Dostojewski finden wir die beeindruckende Großinquisitor­Legende in den Brüdern Karamasow. Dort erscheinen die Banker als wahre Jesus­Gestalten. Was macht Jesus am Ende der Legende? Er steht auf und wie ein Schwachsinniger küßt er den Mann, der ihn gequält hat. Der allerdings entläßt ihn daraufhin aus dem Gefängnis und gibt ihn, der sich auf Unsichtbarkeit und Unerkennbarkeit verpflichten muß, der Anonymität anheim, die alleine und »rein« ihm das Leben rettet.

Brock: Das führt uns zu dem vorhin erörterten Problem: Herr, vergib ihnen nicht, denn sie wissen nicht, was sie tun. Wenn jemand wissentlich einen Verstoß begeht, dann ist er auf die Wahrheit verpflichtet. Wenn jemand erpreßt wird, aus Verzweiflung klaut oder seine Frau betrügt, weil er in der Aporie des Liebenden zwischen Hingabe und Akzep­ tanzverlangen steckt, kann man ihm vergeben. Nur denen, die nicht wissen wollen, was sie tun, kann man niemals vergeben, weil das die Aufkündigung des Prinzips der Verantwortlichkeit wäre. Wir haben zu lernen und zu studieren, damit wir wissen, was wir tun, um also zurechnungsfähig zu werden. Sollten die Banker durch unsere Inquisitions­ folter nicht bereit werden, sich als Gangster zu outen, erfüllen sie ihre Aufgabe nicht. Sie müssen gestehen, daß sie versucht haben, die noch zu übertreffen, nämlich mit le­ galen Mitteln ein noch größeres Resultat zu erzielen. Erst nach diesem Eingeständnis würde man ihnen vergeben und zugeben können, daß es sich bei den Finanzkrisen um einen herrlichen Triumph der Rationalität und um ein großartig aufgegangenes Kalkül gehandelt hat. Ich wäre bereit, einem Banker Vertrauen zu schenken, der zugibt, mut­ willig den Finanz­Karren gegen die Wand gefahren zu haben. Aber solange die Banker wie Götter schweigen und nicht reagieren, wenn die Bürger schreien, hilft nur eine entsprechend ausgiebige Schmähung dieser Finanzmafia, bis sie bereit ist einzuräu­ men, daß sie noch intelligenter sein wollte als die Mafia, da sie ihre Verbrechen legal durchführte. Wir brauchen die Mafia, damit wir den Unterschied zwischen legal und illegal feststellen können. Der Grundsatz für die Erkenntnistheorie der realen politi­ schen Macht lautet: Wenn zwei das Gleiche wie die Banker tun, ist es nicht dasselbe. Was ein Mafioso macht, obwohl er das Gleiche tut, ist nicht dasselbe. Ich warte auf die Offenbarung der Banker, daß sie zu den Resultaten ihrer kriminellen Energie ste­ hen und verkünden: Das Ganze war rational kalkuliert! Wir haben es absichtlich und mutwillig gemacht. Erst dann wird man sinnvoll behaupten können, das System sei gerettet und die Welt durch rationale Vernunft beherrschbar.

Reck: Davon sind wir noch weit entfernt. Im Moment wird nur gefordert, wir sollten wieder mehr Vertrauen zu diesen Herrschaften haben, gleichsam als Grundlage eines Psy­ chotrainings und als Voraussetzung für eine weitere Zusammenarbeit; da weiß man genau, daß totale Unterwerfung erwartet wird. Das ist wieder eine Aporie, die an sich selber nicht ertragen wird, weshalb andere darunter leiden müssen. Zugleich ist es von analytischer Bedeutung, daß ausgerechnet die Branche, die wie keine weitere vom Vertrauen lebt und nichts anderes zu ihrem Gegenstand hat als Vertrauen, nun sagen muß: Wir genießen kein Vertrauen mehr.

Brock: Und zwar untereinander! Die Banker haben untereinander kein Vertrauen, obwohl Vertrauen die Basis des Geschäfts ist.

Reck: Das zu sagen, hat man sich als Laie angewöhnt. Bemerkenswert ist, wie Politiker das Weihrauchfaß schwenken und den Bankern nun wieder unter Aufwendung aller Selbstbeteuerungen Vertrauen schenken.

Bauer: Es gibt einen wunderbaren Sketch von Gerhard Polt zum Thema »Toleranz«: Man solle immer tolerant sein, dabei kommt tolerare von Lateinisch »etwas ertragen«. Wenn der Folterer von seinem Opfer Toleranz verlangte, so hieß das soviel wie: »Sei bereit, die Tortur zu ertragen«.

Brock: Auf die Banker angewendet, hieße das nicht mehr Toleranz beim Foltern, sondern Vertrauen in den Folterer. Man muß Selbstwürdigung und Selbstschätzung durch die Leistung entwickeln, in diese Aporien, in dieses Dickicht, in diese systematisch verunklärte, durch Täuschung und Tarnung undurchdringlich gemachte Welt eingedrungen zu sein. Das bedeutete gleichzeitig eine Wiederaufnahme aller Ausformungen des Intellektuellen als Entde­ cker, als Eroberer, als Erfinder, als Therapeut. Als Professoren haben wir ja das Be­ kenntnis abgelegt: »Erkenntnis verpflichtet«, analog zum Grundgesetz, wo unter Art 14,2 steht, daß Eigentum zu sozialem Verhalten verpflichten soll. Die Erweiterung dieses Artikels zu der Maxime, daß nicht nur Eigentum, sondern auch Erkenntnis verpflichtet, wäre eigentlich die Konsequenz, um aus der Erkenntnis nicht nur die Verpflichtung zu beziehen, sondern auch den Effekt der Selbstwerterhöhung oder der Selbstbehauptung des Lebens, ein Gelingen der Selbstbehauptung im Wahnsinn.


(gekürzte Fassung eines Gesprächs aus: BROCK, BAZON; HANS ULRICH RECK: Tarnen und Täuschen. Diskursive Twin Towers. Theorieturnier der Dioskuren. 2. Bd., Ham­ burg [Fundus Verlag] 2009, S. 9–50.)