Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
13.08.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
13.08.1994

Ichsagen

"Ich war einer der erfolgreichsten Literaturkritiker unserer Epoche. Das enorme Echo, das meine Schriften fanden, beglückte mich. Zugleich habe ich viel gelitten, zumal in den letzten Jahren. Denn je berühmter ich wurde, desto häufiger hat man mich attackiert und beschimpft.
Es begann 1991. Ein junger Mensch, offensichtlich unfähig, meine Gedanken zu verstehen oder gar auf sie einzugehen, wollte mich kompromittieren. Er suchte und fand - einige im Polen der Nachkriegszeit veröffentlichte Schriften, in denen ich vom "genialen Stalin" zustimmend sprach. Die Denunziation schlug ein. Jetzt heulten sie alle beglückt auf - alle, die mich beneideten, die meinten, ich hätte ihnen ein Unrecht angetan, die darunter litten, daß ich sie ignorierte, die sich schon lange rächen wollten. Es war die Stunde der Mißgünstigen, der Zukurzgekommenen und Gescheiterten.
Jene Artikel von damals waren nicht schön; was hierüber zu sagen ist, hat der Betroffene selber gesagt, Aber schlimmer als meine zwei oder drei anstößigen Sätze war der Triumph der widerwärtigen Schadenfreude, der baren Infamie und übrigens auch, wie könnte es anders sein, des ganz gewöhnlichen Antisemitismus. Wieder einmal muß man an das Wort von Hoffmann von Fallersleben erinnern: "Der größte Lump im ganzen Land / Das ist und bleibt der Denunziant."
In den Jahren nach 1991 ließen die Attacken gegen mich kaum nach. Man gab sich Mühe, mir das Leben schwer zu machen. Und vielleicht hat es damit zu tun, daß ich nicht alt werde! Aber wie verletzbar ich auch bin: Ich lasse mich nicht beirren, ih setze mein Werk fort - zu unser aller Nutzen."

Diesen anrührenden Beitrag des Kritikers MRR veröffentlichte die FAZ am 6. August 1994 zur Erinnerung an Theodor W. Adorno. Wo, dem Anlaß gemäß, "Adorno" stand, sollte Ich gelesen werden. Eine seltsame Variante des Kritikergestus?
Offiziell ist ja Kritiker, wer nicht über sich selbst schreibt, sondern über das Schreiben, anderer, die Dichter, Denker, Autor heißen wollen. Aber der Kritiker stellt ja schnell klar, daß sie alle unentwegt von sich schreiben. Und wie: schamlos offen, oder prätentiös verschlüsselt. Keine Rezension eines Werkes ohne deutlichen Hinweis auf die Persönlichkeit und Biographie des Künstlers, Gelehrten, Literaten. Sie den Lesern interessant vor Augen zu stellen, ihre Texte zu personalisieren, macht Kritiker zu Instanzen der door policy: "Wollen wir ihn hineinlassen?" Sie selber bleiben immer draußen, Türsteher des öffentlichen Bewußtseins; unübersehbar, imposant, Mordskerle aber immer vor der Tür zum Klub der großen schöpferischen Ichsager.
War MRR je ein solcher Kritiker? Hat er nicht immer schon von sich geschrieben, wie jetzt, als er Adorno würdigte, aber bis ins Detail genau sich selbst darstellte? Und hat er das nicht gerade mit dieser Darstellung bekannt? Kritiker der Kritiker - so sagt MRR jedenfalls - sind häufig zu kurz gekommene, gescheiterte, mißgünstige Schreiber, die sich mit Infamie und Schadenfreude dafür rächen, ignoriert worden zu sein von jenen, die sie nun um ihren Erfolg als Ichsager beneiden.
Ich aber sage Euch, zum tatsächlichen Kritiker wird, wer über die Chuzpe erstaunt, mit der nahezu jedermann ohne jede Hemmung und jedes Befremden zu sich Ich sagt. Die wenigen anderen aber nennen wir leider Psychopathen. Mit dieser Kennzeichnung müssen Kritiker leben, damit auch sie an ihrem Ich leiden dürfen und gelitten werden, wenn sie darüber schreiben, als schrieben sie über einen anderen. Anche io sono poeta - maledetta.