Buch Ernst Brücher

Ein Erinnerungsbuch

Ernst Brücher. Ein Erinnerungsbuch. Köln 2008
Ernst Brücher. Ein Erinnerungsbuch. Köln 2008

Mit Beiträgen von Mary Bauermeister, Bazon Brock, Daniel Brücher, Niko von Glasow, Wulf Herzogenrath, Mauricio Kagel, Jürgen Klauke, Kasper König, Ferdinand Kriwet, Michael Krüger, Alfred Neven DuMont, Klaus Wagenbach, Peter Zadek u.a.

Erschienen
01.01.2008

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
978-3-8321-8095-9

Umfang
126 S.

Einband
Gebunden

Seite 18 im Original

Ernst leuchtet

Mehr als Städte es vermocht hätten (z. B. München laut Thomas Mann), leuchteten mir einzelne Zeitgenossen, von denen ich einige zu Freunden gewinnen konnte. Unter ihnen warf Ernst Brücher das geheimnisvollste Licht. Er soll es, so die Fama, an seiner Stirn als Bergmannslampe in belgischen Kohlenschächten getragen haben, um nach der Befreiung Deutschlands freiwillig Sühne zu leisten. Ich habe nie gewagt, ihn nach der bemerkenswerten Verwandtschaft des Motivs zu Wagners »Ring« zu fragen: Schwarzalben und Tarnkappe. Jedenfalls lehrt die Alltagserfahrung, dass derjenige im Geheimnis der Nacht vollständig unsichtbar wird, der als Lichtquelle sein Gegenüber blendet. Als Augstein uns allen 1976 zum 100. Bestehen Bayreuths Zugang zur Chérau-Inszenierung des Rings verschaffte, sagte Ernst seine Teilnahme am Pilgerzug zur Rollwenzelei (Jean Pauls Schreibstube), zur Eremitage (Wilhelmines Weltentsagung) und in das Festspielhaus mit einem Zitat ab: »Hier schließ ich ein Geheimnis ein ... solange es bewahrt der Stein, macht es der Welt sich offenbar.« Mit dieser Apokryphe hatte Wagner die Grundsteinlegung in Bayreuth als zweite, nunmehr verbindliche Gründung des Zweiten deutschen Reiches nach der peinlich unzivilisierten Deklaration vom 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles begleitet.

In der Tat, es machte sich mir an Ernst Brücher immer nur offenbar, dass er in sich ein Geheimnis verschlossen haben müsse. Welches es war, konnte man nur ahnen. Es hatte offensichtlich damit zu tun, dass er die schmerzlichen Zumutungen seines Lebens niemals zum Thema machte, geschweige denn beklagte. Ich dachte oft, man müsse sich wohl einen Hiob auch stumm lächelnd vorstellen können, analog zu Camus Tröstungsversuch, man solle sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen denken. Beiläufig glaubte man von Ernst Hinweise auf eine nicht weiter betonenswerte Nähe zu hinduistisch-buddhistischen Auffassungen und Einstellungen zu erhalten – jedenfalls hielt er von Psychotherapien in ihren verschiedensten Ausprägungen nur so weit etwas, wie sie dem heiteren Ertragen der Nichtigkeiten des Lebens dienten. Diese Fähigkeit hatte er derart entwickelt, dass er mir mitunter wie ein Medium erschien, zumal sich hinter einer ständig erzeugten Weißnebelwand verbrennender Rothändle-Zigaretten seine Kontur auflöste. Karla Fohrbeck und ich betrachteten ihn deshalb als geeignete Bindekraft unserer Beziehung, die er zusammen mit Rudolf Augstein auch als offizielle Trauzeugen unserer förmlichen Eheschließung einbrachte. Was dann passierte, weiß ich bis heute nicht einzuschätzen. War ich nicht stark genug, fraglos neben ihm einherzugehen? Wollte ich ein Bekenntnis von ihm erzwingen? Wollte er mir zu verstehen geben, dass ich mich noch eitel im Pathos des Widerstands bewegte, wo er schon jenseits von Zustimmung und Ablehnung die Tage verbrachte? Ich hatte schon einmal in der ersten Hälfte der sechziger Jahre im Begreifen versagt, als ich im Schlepptau Spoerris in Paris Duchamp begegnen konnte und mich verleiten ließ, gegen seine Indifferenz zu protestieren. Ich glaubte mich zur Parteinahme für die historische Wahrheit, zur Gerechtigkeit und Freiheit verpflichtet.

Auch gegenüber Ernst Brücher schien dieser Appell einerseits als Anmaßung und andererseits als Hilflosigkeit angesichts der Uneinholbarkeit des lächelnden Schweigens. Dann fühlte ich mich schuldig, ihn mit privaten Ansinnen belästigt zu haben, z. B. mit der Aktion zur Rettung des Werkes von Achim Duchow vor den Schaumschlägern im Gefolge Sigmar Polkes. Als Ernst die gleiche Krankheit heimsuchte, an der schon Duchow und zwei weitere Freunde gestorben waren, floh ich seine Nähe, um nicht noch mehr empathische Reaktionen zu riskieren. Auch das hat er kommentarlos hingenommen. Ich wollte es unbedingt als ein Einverständnis werten. Ich hätte es nicht gewagt, sein Urteil herauszufordern, selbst wenn es dazu noch eine Chance gegeben hätte.

Hochzeit Bazon Brock & Karla Fohrbeck am 19. September 1979 in Hamburg mit den Trauzeugen Augstein, Brücher und Schwegler, Bild: V.l.n.r.: Fritz Schwegler, Rudolf Augstein, Ernst Brücher,
Andreas Wiesand, Karla Fohrbeck, Bazon Brock, Gisela Stelly.
Hochzeit Bazon Brock & Karla Fohrbeck am 19. September 1979 in Hamburg mit den Trauzeugen Augstein, Brücher und Schwegler, Bild: V.l.n.r.: Fritz Schwegler, Rudolf Augstein, Ernst Brücher, Andreas Wiesand, Karla Fohrbeck, Bazon Brock, Gisela Stelly.