Buch Ich und die Maschine/Ichmaschine

doc/kumentarisches für die Steiermark

Ich und die Maschine/Ichmaschine, Bild: Graz 2022.
Ich und die Maschine/Ichmaschine, Bild: Graz 2022.

Erschienen
01.01.2022

Herausgeber
Petrowitsch, Michael

Verlag
EPeKa Austria

Erscheinungsort
Graz, Österreich

ISBN
978-3-9504374-4-7

Umfang
104 S.

Einband
Softcover

Seite 96-103 im Original

Grundvoraussetzungen für ein begründetes Sprechen und Urteilen zur Klärung von Fragen, die das documenta-Debakel aufwirft

Techné und ars bedeuten nicht Kunst

Selbst in ihrer Zeit hochüberlegene Kulturen wie die der Ägypter, Babylonier, Perser, Chinesen, aber auch der Griechen und Römer kannten den Begriff Kunst nicht, ja nicht einmal den Begriff Individualität als Anspruch eines einzelnen Menschen, Träger von Freiheitsrechten zu sein. Selbst die griechische techné oder die römische ars bezeichnen nur das Wissen von einzelnen Menschen, wie man etwas richtig macht in den Augen der sie beauftragenden Kulturkollektive. Mit Kochkunst und Kriegskunst ist diese Position heute noch bei uns gegenwärtig – ohne jeden Kontakt zur Begriffsbestimmung Kunst, wie sie im Westen vor 600 Jahren entwickelt wurde.

Ruangrupa hat versäumt, die Begriffe Kunst und Kultur, die für ihre Entscheidungen gelten, vorzugeben. Wenn sie den westlichen Begriff Kunst übernehmen, hätten sie auch dementsprechend Kunst präsentieren müssen. Sie zeigen kaum Kunst, sondern kulturelle Praxis von vielen sozialen Aktivisten, darunter nur sehr wenige Künstler. Am verwirrendsten wirkt, dass Ruangrupa sich in keiner Weise auf Künstleraktivitäten im Konzept „Kunst als soziale Strategie“ oder „Soziale Plastik“ der früheren documenta-Ausstellungen beziehen, darunter weltweit so bekannte wie Beuyssens „100 Tage der Freien Internationalen Universität“ oder „7000 Eichen“. Mit keinem Wort wurde auf die möglichen Bezüge zu den documenta-Themen „Ausstieg aus dem Bild“, „Wirklichkeit in Bildwelten heute“, „Wie entsteht Bedeutung?“ etc. eingegangen. Dieses ostentative Verschweigen darf man nur als Eröffnung eines Kulturkampfes sehen, in dem der „globale Süden“ sich mit dem Anspruch auf Neuheit über alles hinwegsetzt, was der Westen seit 120 Jahren im Kunstbereich demonstriert hat.

Eurozentrismus, Diktate des Westens?

Diese Sonderstellung als Eurozentrismus abzuweisen, ist kenntnislos, weil Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Europa von Europäern gegen Europäer erst erkämpft werden mussten. Rationalität, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit mussten auch von Europäern gegen Europäer blutig in Europa erfochten werden. Der Eurozentrismusvorwurf ist heute Kernbestand totalitär fundamentalistisch behaupteter Herrschaft. An die Stelle individueller Verantwortlichkeit setzt sie die Macht der Kulturkollektive. Aus der westlichen Selbstkritik unter dem Programmtitel „Das Unbehagen in der Kultur“ wurde in fundamentalistisch-totalitären Regimen das verordnete „Säuische Behagen in der eigenen Kultur“.

Das wird mit der programmatischen Durchsetzung von indonesischen Begriffen für Palaver, gemeinsames Abhängen und Nachhaltigkeit demonstriert. Das sind schlicht Ausbeutungsverfahren; der Antikolonialismus rächt sich durch Ausbeutung des Westens.

Mit Beelzebub den Teufel austreiben

Erstaunlich: Selbst die radikalsten Vorwürfe gegen die westlichen Konzepte werden von den nichtweißen Antikolonialisten und Antiimperialisten mit denselben technischen, ökonomischen und ideologischen Mitteln erhoben, die die weißen angeblichen Herren der Meere und Länder in die Welt gesetzt haben. Eine glänzende Ikone dieses Sachverhalts ist der fundamentalistische Prediger, der mit Kamera und Mikrofon über die sozialen Medien den Teufel der technischen Rationalität des Westens austreiben will.

Was heißt kulturelle Identität?

Für sich eine Identität zu behaupten, heißt, sich von anderen zu unterscheiden. Um das zu ermöglichen, muss man wissen, wovon man sich unterscheidet. Also erzwingt die Behauptung von kultureller Identität die Kenntnis der anderen Behaupter von Identitäten. Zu wissen, wer die anderen sind oder sein wollen, verlangt sehr viel Kenntnis, die man nur mit Mühen erwerben kann. Diese Mühen konnten sich zum Beispiel die Deutschen in den zurückliegenden 200 Jahren kaum zumuten, weil das bedeutet hätte, stets die kulturelle Identitätsbehauptung der Polen, der Tschechen, der Ungarn, der Österreicher, der Schweizer, der Lothringer etc. im Sinn zu haben, wenn man von sich als Mitglied der Kulturnation Deutschland Kunde gab. Da lag es nahe, die Hegemonie, die Dominanz der deutschen Kulturnation mit aller Kraft, sogar mit Kriegen, durchzusetzen. Richtig verstanden, und darauf sind alle Anstrengungen zur Vereinigung Europas gerichtet, ist gerade die wechselseitige Anerkennung der kulturellen Differenzen das einzige unverbrüchliche Fundament der Gemeinsamkeit.

In keinem Beitrag der diesjährigen documenta wird auch nur andeutungsweise auf das Bezug genommen, wovon sich die Aktivisten unterscheiden wollen. Umgekehrt haben die Westler stets mit größter Bewunderung auf die Leistungen etwa der indigenen Gestalter von Objekten der Kulturrituale in Afrika, Ozeanien oder Südamerika reagiert.

Welche Lösung des documenta-Schlamassels gibt es?

Ganz offensichtlich reicht es nicht, sich klassischer, also in allen Kulturen praktizierter Verfahren zur Reinigung des Gewissens und Vergebung von Schuld zu unterwerfen. Nicht nur im Christentum propagierte man die Entlastung von Schuldvorwürfen durch die Sühne in der Selbsterniedrigung. Abgesehen von der Faszination blutiger Spektakel sind die Prozessionen der sich selbst Geißelnden (heute als political-correctness-Parcours) raffi-nierte Formen der Selbsttäuschung. Allerdings schwer zu durchschauen, selbst von großen Denkern. Wenn Kant meint, „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu“, wird dem Zeitgenossen allenthalben und auch im Kunstsystem die Gegenposition nahegelegt: Schlag mich, betrüg mich, belüg mich. Das kommt mir gerade recht, um dir gegenüber umso bedenkenloser zuschlagen, betrügen und lügen zu dürfen.

Die heute in Ausstellungen und in Reaktionen auf Ausstellungen wie die documenta offen bekundete Intellektuellenfeindlichkeit und Diskriminierung des Nachdenkens sind Formen der Selbstgeißelung, mit der die eigene Beschränktheit und Lernunwilligkeit als Verschulden Dritter behauptet werden soll. Der allenthalben beklagte Niveauverlust in öffentlichen Medien (von sozialen ganz zu schweigen) wird selbst von Journalisten und Redakteuren auch öffentlich-rechtlicher Anstalten bequemerweise darauf zurückgeführt, ihr Publikum verbiete ihnen, anspruchsvollere Konzepte und intelligentere Rezensionen durchzusetzen. Wer die gedankliche Anspruchslosigkeit seiner Adressaten behauptet, verweigert Selbsterkenntnis zulasten anderer.

Wie kann man dagegen ankommen?

Nur apokalyptisches Denken begründet jegliche Hoffnung aufs Bessere. Nur wer die Aussicht aufs mögliche Ende ernst nimmt, kann vernünftig zu handeln beginnen und den vorhersehbaren Untergang zu vermeiden suchen.

Ein Land, in dem eine „Kanzlerin der Herzen“ pathetisch vor Millionen Zuschauern verkünden konnte, sie habe immer gewusst, dass Putin Europa zerstören wolle, und trotzdem ihr Land seiner Willkür auslieferte (ist das nicht eigentlich Bruch des Amtseids?), wird wohl ertragen können, dass nicht nur im Rest der Welt, sondern auch in großen Teilen Europas Antisemitismus latent wie offensiv zur Geltung gebracht wird. Wer diese Realität leugnet, wird in seinem angeblichen Kampf gegen den Antisemitismus völlig unglaubwürdig.

Wer die Welt zu Gast nach Kassel bittet, um sich selbst in seiner ungeheuren Überlegenheit als liberal, großzügig und human feiern zu lassen, darf die Eingeladenen nicht zu gefälligen Liebedienern des eigenen Wunschdenkens machen.

Leider haben die diesjährigen documenta-Macher geglaubt, sich zu salvieren, wenn sie den Antisemitismus nur in einer indonesischen Version darstellen und behaupten, da diese Version indonesisch sei, könne sie in Deutschland keine Bedeutung haben. Die Behauptung, es handele sich um ein Gemälde im westlichen Kunstsinn ist angesichts der mangelnden künstlerischen Qualität bedeutungslos.

Nur derjenige Urteilende ist wahrhaft glaubwürdig, der seine eigenen Vorurteile nicht nur kennt, sondern der Öffentlichkeit clare et distincte mitteilt. Wer behauptet, er urteile nur nach Recht und Gesetz, ist ein gefährlicher Lügner oder Dummkopf. Erkennen wir endlich den jedermann von der Evolution aufoktroyierten Mechanismus der Vorurteile! Nur dann besteht eine Chance, den Vorurteilen entgegenzuwirken. Man sollte wissen, dass ohne Vorurteile keinerlei Lebenspraxis zustande kommen kann. Vorurteile sind kulturspezifisch vermittelte Hypothesen zum Auf bau von Zielsetzungen und daran geknüpften Erwartungen. Weil die meisten Menschen gern vermeiden wollen, enttäuscht zu werden oder gar zu scheitern, halten sie Vorurteile für Gesetzmäßigkeiten, die sie bestätigen müssen.

Die künstlerische Leitung der documenta verweist nur auf die Vorurteile, die die westlichen Ausstellungsmacher angeblich leiten, nämlich Dominanzstreben – fragt sich bloß, über wen? Vielleicht über die Vorurteile von Ruangrupa, die die in Kassel demonstrierten Konzepte als neu ausgeben, als nie im Westen und schon gar nicht auf der documenta gezeigte. Jeder halbwegs Kenntnisreiche wird zu jeder in Kassel behaupteten Neuheit aus 120 Jahren europäischer Kunstgeschichte beliebig viele Beispiele von erwiesener Qualität nennen können.

Musealisierung als Zivilisationsstrategie

Das von Bazon Brock seit Jahrzehnten erarbeitete Programm für die Vermeidung kulturalistischer Übergriffe auf Künstler und Wissenschaftler heißt „Musealisierung als Strategie zur Zivilisierung der Kulturen“ (siehe www.bazonbrock.de). Historisches Beispiel: Der türkische Nationalheros Atatürk beendet den Kulturkampf zwischen Moslems und Christen, indem er ein entscheidendes Objekt des Streits, die Hagia Sophia, am 24.11.1934 in ein Museum verwandelt. Damit war Christen wie Moslems die Propaganda für ihre kulturelle Hegemonie genommen, den grandiosen Kultbau für sich zu reklamieren. Erdogan hob aus politischem Opportunismus die Musealisierung 2019 wieder auf. Der Kulturkampf entbrannte erneut aufs Heftigste. Ähnlich barbarische Tendenzen entwickeln sich z.B. in Russland durch das Verbot der zivilen Memorialgesellschaft oder in China durch die Behauptung des Vorrangs der Han-Kultur vor allen anderen im Reich praktizierten Kulturen und Sprachen.

Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass die documenta-Macher in schöner Überstimmung mit den großmeisterlichen Vorbildern Putin, Erdogan und Xi Kunstkonzepte unnachsichtig und hämisch unter die Fuchtel von Kulturgesten zu bringen versuchen.

Nur Künste und Wissenschaften haben bisher Beispiele für Regeln entwickelt, die universell gelten – also über die spezifischen Kulturen hinaus. Wie ging das? Jeder Mensch kann nur als Mitglied einer Kultur, d.h. in einer Sprach-, Koch- oder Glaubensgemeinschaft lebensfähig werden. Über kurz oder lang erlebt er aber Bedrohungen seiner Position bis hin zur Ächtung oder Ausgliederung. Auf der Suche nach den Gründen dafür gerät er in Distanz zu Dogmen, denen er unterworfen war und die ihn dennoch nicht davor geschützt haben, zu scheitern. Der naheliegende Ausweg ist der Kulturvergleich, also die Bewertung der eigenen kulturellen Gewissheiten in Bezug auf andere. Ein bloßer Kulturwechsel ist keine Lösung, weil alle Kulturen ihre Mitglieder in den Überlebenskampf um Ressourcen und machtvolle Selbstbehauptung einbeziehen.

Um beispielsweise als Chemiker zu arbeiten, kann man seine kulturelle Herkunft nicht geltend machen. Chemie betreibt man nicht als Chinese, Jude oder Afrikaner, sondern eben nach den Verfahren der Forschung im Bereich der Chemie.

Das gleiche gilt für die Kunst. Künstler setzen die Rahmenbedingungen für ihr Schaffen mit ihrer individuellen Fähigkeit, nur aus der Logik des Gestaltens heraus einen sinnstiftenden Weltblick darzustellen, ohne Unterwerfung unter religiöse Überzeugungen oder Sitten und Gebräuche der Kulturkollektive. Jede sinnvolle Kunstausstellung gibt also möglichst viele Beispiele dafür, dass es Individuen gelingen kann, jenseits kultureller Dogmatiken der Welt Gestalt zu geben, also Erkenntnis zu gewinnen, die für die Individuen zum zentralen Weltbezug wird. Das Publikum kann sich dann über diese Fähigkeit von Individuen in Kenntnis setzen oder sie gar als beispielgebend akzeptieren. Kunstkritik und Kunstwissenschaften sollten dann auf der Basis ästhetischer, ethischer und epistemologischer Kompetenz die Kriterien der Unterscheidung zwischen den Leistungen der einzelnen Künstler herausarbeiten und für die Öffentlichkeit bewertbar werden lassen.

In Zeiten, in denen nicht nur Westler für sich das Recht reklamieren, als Individuen ihr Leben zu führen, werden die Beispiele von Künstlern und Wissenschaftlern immer wichtiger.

Der nur als Auswahlfreiheit gewährte Konsumindividualismus erfüllt die Bedingungen nicht, da aus der Auswahl keinerlei dem Individuum zugute kommende Befähigungen und Erkenntnisse erwachsen. Er wird als Konsument nur als Mitglied des Käuferkollektivs von der Industrie angesprochen. Die Unsinnigkeit dieser propagierten Form von Individualität wird in dem Bemühen vieler sichtbar, sich mit dem Kauf der gleichen Kleidungsstücke oder Ausrüstungsdesigns zu individualisieren.

Individualität ist kein personalisierter Umgang mit Objekten, sondern eine geistige Haltung, die über seine kulturelle Prägung hinaus von jedem einzelnen zu erarbeiten ist – unter Anleitung von Künstlern und Wissenschaftlern.