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Der Fluch der guten Tat

Schön aufhängen oder lieber gut abhängen? Bazon Brock zur überaus gegenwärtigen Frage, wie man die Kunst erledigt.

Der deutsche Aberwitz zitiert gern eine altgriechische Weisheit: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge!“ Gemeint ist bei Heraklit aber nicht der Krieg, sondern das Streiten, das Polemisieren, das Pointieren von Behauptung und Gegenbehauptung. Polemosophie ist also augenöffnende Polemik. Wie weit die Deutschen von der griechischen Autorität entfernt sind, sieht man daran, dass von allen Halbgebildeten „Polemik“ als abwertender Begriff gebraucht wird.

Die Summe aus den gegenwärtigen Kasseler Gegebenheiten und der hochmögenden Kunstkritik in den deutschen Feuilletons wird wohl bei allen, die es überhaupt noch der Mühe wert finden, den Eindruck verstärken, dass die Disneylands in Paris oder Florida mehr zu bieten haben als die diesjährige Documenta in Kassel, und auch, dass diese Kunstkritiker durch ihre leider oft kenntnislose Gleichsetzung von Kunst und Kultur die Garantien aus Paragraf 5.3 GG (Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung) missbraucht haben, um die Künstler und Wissenschaftler als Kulturagenten zu verpflichten. Die Methode ist in Deutschland gut bekannt. Alle Feinde der Demokratie sind seit eh und je raffiniert genug, sich rechtsstaatlicher Freiheitsgarantien zu bedienen, um dann die Demokratie zu erledigen.

Paragraf 5.3 des Grundgesetzes stellt ausdrücklich Künstler und Wissenschaftler mit ihren Arbeitsresultaten „frei“, will sagen, dieser Paragraf entzieht sie der Zensur kultureller Kollektive, und damit auch und vor allem fundamentalistischen Absolutheitsansprüchen von Religionen und Weltanschauungen. Wenn man, wie heute gedankenfaul oder in vollster Absicht, Kunst und Wissenschaft für kulturelle Tätigkeiten hält, also Kunst- und Kulturträger nicht strikt unterscheidet (so betonte immer wieder Gottfried Benn), liest man Paragraf 5.3 GG gegensinnig als: Freiheit von Kulturkollektiven. So glauben viele heutzutage ernsthaft, im Namen von Identitätsansprüchen künstlerische und wissenschaftliche Arbeitsresultate zensieren zu dürfen oder gar zu müssen. Die Radikalität der Auseinandersetzung nimmt erheblich zu, wenn wir auf der diesjährigen Documenta die überaus schlichten Kulturleistungen, die vom Kuratorenkollektiv Ruangrupa vorgestellt werden, als Kunst präsentiert bekommen.

Wenn wir uns dagegen jetzt nicht verwahren, wird es keine nächste Documenta geben, denn dann haben die Kulturen der Welt endgültig die Macht über die Künste und die Wissenschaften zurückerobert.

Was soll der viel beklagte Eurozentrismus sein? Und wo diktiert der Westen?

Selbst in ihrer Zeit hochüberlegene Kulturen wie die der Ägypter, Babylonier, Perser, Chinesen, aber auch der Griechen und Römer kannten den Begriff Kunst nicht, ja nicht einmal den Begriff Individualität als Anspruch eines einzelnen Menschen, Träger von Freiheitsrechten zu sein. Selbst die griechische techné oder die römische ars bezeichnen nur das Wissen von einzelnen Menschen, wie man etwas richtig macht in den Augen der sie beauftragenden Kulturkollektive. Mit Kochkunst und Kriegskunst ist diese Position heute noch bei uns gegenwärtig – natürlich ohne jeden Kontakt zur Begriffsbestimmung Kunst, wie sie im Westen vor 600 Jahren entwickelt wurde.

Diese Sonderstellung, wie heute öfter mal üblich, als Eurozentrismus abzuweisen, ist kenntnislos, weil Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Europa von Europäern gegen Europäer überhaupt erst erkämpft werden mussten. Rationalität, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit mussten auch von Europäern gegen Europäer blutig in Europa erfochten werden. Der Eurozentrismus-Vorwurf ist heute aber Kernbestand totalitär-fundamentalistisch behaupteter Herrschaft. Und an die Stelle individueller Verantwortlichkeit setzt sie nun also die Macht der Kulturkollektive. Aus der westlichen Selbstkritik unter dem Programmtitel „Das Unbehagen in der Kultur“ wurde in fundamentalistisch-totalitären Regimen das verordnete „Säuische Behagen in der eigenen Kultur“.

Erstaunlich: Selbst die radikalsten Vorwürfe gegen die westlichen Konzepte werden dabei von den nicht weißen Antikolonialisten und Antiimperialisten mit denselben technischen, ökonomischen und ideologischen Mitteln erhoben, die die weißen angeblichen Herren der Meere und Länder einst in die Welt gesetzt haben. Eine glänzende Ikone dieses Sachverhalts ist der fundamentalistische Prediger, der mit Kamera und Mikrofon über alle Medien den Teufel der technischen Rationalität des Westens austreiben will.

Für sich eine Identität zu behaupten, heißt, sich von anderen zu unterscheiden. Um das zu ermöglichen, muss man wissen, wovon man sich unterscheidet. Also erzwingt die Behauptung von kultureller Identität die Kenntnis der anderen Behaupter von Identitäten. Zu wissen, wer die anderen sind oder sein wollen, verlangt sehr viel Kenntnis, die man nur mit Mühen erwerben kann. Diese Mühen konnten sich zum Beispiel die Deutschen in den zurückliegenden 200 Jahren kaum zumuten, weil das für sie ja bedeutet hätte, stets die kulturelle Identitätsbehauptung der Polen, der Tschechen, der Ungarn, der Österreicher, der Schweizer, der Lothringer etc. im Sinn zu haben, wenn man von sich als Mitglied der Kulturnation Deutschland Kunde gab. Da lag es also nahe, die Dominanz der deutschen Kulturnation mit aller Kraft, sogar mit Kriegen, durchzusetzen.

Richtig verstanden, und darauf sind alle Anstrengungen zur Vereinigung Europas ja gerichtet, ist aber gerade die wechselseitige Anerkennung der kulturellen Differenzen das einzige unverbrüchliche Fundament der Gemeinsamkeit.

Ganz offensichtlich reicht es nicht, sich klassischer, also in allen Kulturen praktizierter Verfahren zur Reinigung des Gewissens und Vergebung von Schuld zu unterwerfen. Nicht nur im Christentum propagierte man die Entlastung von Schuldvorwürfen durch die Sühne in der Selbsterniedrigung. Abgesehen von der Faszination blutiger Spektakel sind die Prozessionen der sich selbst Geißelnden (heute in Form von Political-correctness-Parcours) nur besonders raffinierte Formen der Selbsttäuschung. Allerdings schwer zu durchschauen, selbst von großen Denkern. Wenn Kant noch sagte, „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, so wird dem Zeitgenossen heute auch im Kunstsystem die Gegenposition nahegelegt: „Schlag mich, betrüg mich, belüg mich! Das kommt mir gerade recht, um dich auch umso bedenkenloser schlagen, betrügen und belügen zu dürfen.“

Die heute in Ausstellungen und in Reaktionen auf Ausstellungen wie die Documenta Fifteen offen bekundete Intellektuellenfeindlichkeit und allgemeine Diskriminierung des Nachdenkens sind Formen dieser Selbstgeißelung, mit der die eigene Beschränktheit und Lernunwilligkeit dann als Verschulden Dritter behauptet wird. Der allenthalben beklagte Niveauverlust in den klassischen Medien (von den sozialen zu schweigen) wird selbst von Journalisten und Redakteuren auch öffentlich-rechtlicher Anstalten oder eigentlich anspruchsvoller Zeitungen bequemerweise darauf zurückgeführt, ihr Publikum verbiete ihnen leider, anspruchsvollere Beiträge ins Programm zu nehmen. Wer die gedankliche Anspruchslosigkeit seiner Adressaten behauptet, verweigert aber Selbsterkenntnis zulasten anderer.

Nur apokalyptisches Denken begründet jegliche Hoffnung aufs Bessere: Nur wer die Aussicht aufs mögliche Ende ernst nimmt, kann vernünftig zu handeln beginnen und den vorhersehbaren Untergang zu vermeiden suchen.

Ein Land, in dem eine Ex-Kanzlerin pathetisch und beklatscht vor Millionen Zuschauern verkündet, sie habe immer gewusst, dass Putin Europa zerstören wolle, und die trotzdem ihr Land seiner Willkür auslieferte (ist das denn nicht der Bruch des Amtseids?), ein solches wird wohl ertragen können, dass nicht nur im Rest der Welt, sondern auch in großen Teilen Europas Antisemitismus latent oder eben offensiv zur Geltung gebracht wird. Wer diese Realität leugnet, wird in seinem angeblichen Kampf gegen den Antisemitismus völlig unglaubwürdig.

Wer die Welt zu Gast nach Kassel bittet, um sich selbst in seiner ungeheuren Überlegenheit als liberal, großzügig und human feiern zu lassen, darf die Eingeladenen dann nicht zu gefälligen Liebedienern des eigenen Wunschdenkens machen.

Leider haben die diesjährigen Documenta-Macher geglaubt, sich zu salvieren, wenn sie den Antisemitismus nur in indonesischer Version darstellen und dann behaupten, da diese Version ja nun mal indonesisch sei, könne sie in Deutschland keine tiefere Bedeutung haben. (Die Behauptung, es handele sich um ein Gemälde im westlichen Kunstsinn, ist angesichts der mangelnden künstlerischen Qualität dieses Gemäldes ja ohnehin bedeutungslos.)

Nur derjenige Urteilende ist aber wahrhaft glaubwürdig, der seine eigenen Vorurteile nicht nur kennt, sondern der Öffentlichkeit clare et distincte mitteilt. Wer behauptet, er urteile nur nach Recht und Gesetz, ist ein gefährlicher Lügner oder Dummkopf. Erkennen wir endlich den jedermann von der Evolution aufoktroyierten Mechanismus der Vorurteile! Nur dann besteht eine Chance, diesen Vorurteilen entgegenzuwirken. Man sollte wissen, dass ohne Vorurteile keinerlei Lebenspraxis zustande kommen kann. Weil die meisten Menschen gern vermeiden wollen, enttäuscht zu werden oder gar zu scheitern, halten sie Vorurteile für Gesetzmäßigkeiten, die sie bestätigen müssen.

Die künstlerische Leitung der Documenta verweist nur auf die Vorurteile, die westliche Ausstellungsmacher angeblich leiten, nämlich Dominanzstreben – fragt sich bloß, über wen? Vielleicht über die Vorurteile von Ruangrupa, die die in Kassel demonstrierten Konzepte als neu ausgeben, als nie im Westen und schon gar nicht auf der Documenta gezeigte. Jeder halbwegs Kenntnisreiche wird aber zu jeder in Kassel behaupteten Neuheit aus 120 Jahren europäischer Kunstgeschichte beliebig viele Beispiele nennen können, sogar solche von erwiesener Qualität.

Es ist wie bei Putin, Erdoğan und Xi: Die Kunst muss unter die Fuchtel des Kulturkonzepts

Das von mir erarbeitete Programm für die Vermeidung kulturalistischer Übergriffe auf Künstler und Wissenschaftler heißt „Musealisierung als Strategie zur Zivilisierung der Kulturen“ (www.bazonbrock.de). Historisches Beispiel: Der türkische Nationalheros Atatürk beendet den Kulturkampf zwischen Moslems und Christen, indem er ein entscheidendes Objekt des Streits, die Hagia Sophia, am 24. November 1934 in ein Museum verwandelt. Damit war Christen wie Moslems die Propaganda für ihre kulturelle Hegemonie genommen, den grandiosen Kultbau für sich zu reklamieren. Erdoğan hob aus politischem Opportunismus die Musealisierung 2019 wieder auf. Der Kulturkampf entbrannte erneut aufs Heftigste. Ähnlich barbarische Tendenzen entwickeln sich in Russland durch das Verbot der zivilen Memorialgesellschaft oder in China durch die Behauptung des Vorrangs der Han-Kultur vor allen anderen im Reich praktizierten Kulturen und Sprachen.

Man kann sich nun des Eindrucks schwer erwehren, dass die Documenta-Macher in schöner Überstimmung mit großmeisterlichen Vorbildern Putin, Erdoğan und Xi Kunstkonzepte unnachsichtig und hämisch unter die Fuchtel von Kulturgesten zu bringen versuchen.

Nur Künste und Wissenschaften haben bisher Beispiele für Regeln entwickelt, die universell gelten (teilweise institutionalisiert als Universität, Museum, Archiv oder gar als Unesco) – also über die spezifischen Kulturen hinaus. Jeder Mensch kann nur als Mitglied einer Kultur, also etwa in einer Sprach-, Koch- oder Glaubensgemeinschaft lebensfähig werden. Über kurz oder lang erlebt er aber Bedrohungen seiner Position bis hin zur Ächtung oder Ausgliederung. Auf der Suche nach den Gründen dafür gerät er in Distanz zu Dogmen, denen er unterworfen war und die ihn dennoch nicht davor geschützt haben zu scheitern. Der naheliegende Ausweg ist der Kulturvergleich, also die Bewertung der eigenen kulturellen Gewissheiten in Bezug auf andere. Ein bloßer Kulturwechsel ist keine Lösung, weil alle Kulturen ihre Mitglieder in den Überlebenskampf um Ressourcen und machtvolle Selbstbehauptung einbeziehen.

Um als Chemiker zu arbeiten, kann man seine kulturelle Herkunft nicht geltend machen. Chemie betreibt man nicht als Chinese, Jude oder Afrikaner, sondern eben nach den Verfahren der Forschung im Bereich der Chemie.

Das Gleiche gilt für die Kunst. Künstler erschaffen einen sinnstiftenden Weltblick nur aus der Logik des individuellen Gestaltens heraus, ohne Unterwerfung unter religiöse Überzeugungen oder Sitten und Gebräuche der Kulturkollektive. Jede sinnvolle Kunstausstellung gibt also möglichst viele Beispiele dafür, dass es Individuen gelingen kann, jenseits kultureller Dogmatiken der Welt Gestalt zu geben. Kunstkritik und Kunstwissenschaften sollten dann auf der Basis ästhetischer, ethischer und epistemologischer Kompetenz die Kriterien der Unterscheidung zwischen den Leistungen der einzelnen Künstler herausarbeiten und für die Öffentlichkeit bewertbar werden lassen.

In Zeiten, in denen nicht nur Westler für sich das Recht reklamieren, als Individuen ihr Leben zu führen, werden die Vorbildeigenschaften von Künstlern und Wissenschaftlern immer bedeutender. Der nur als Auswahlfreiheit gewährte Konsumindividualismus erfüllt diese Bedingungen nicht, da aus der Auswahl zu kaufen ernsthaft keinerlei Befähigungen und tiefere Erkenntnisse erwachsen. Der Konsument wird letztlich immer nur als Mitglied des Käuferkollektivs von der Industrie angesprochen. Die Unsinnigkeit dieser propagierten Form von Individualität wird in dem grotesken Bemühen vieler sichtbar, sich mit dem Kauf der gleichen Kleidungsstücke oder Ausrüstungsdesigns zu individualisieren.

Individualität ist kein personalisierter Umgang mit Objekten, sondern eine geistige Haltung, die über seine kulturelle Prägung hinaus von jedem Einzelnen zu erarbeiten ist – unter Anleitung von Künstlern und Wissenschaftlern.

Bazon Brock, geboren 1936 ist emeritierter Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung. 1968 richtete er auf der Documenta 4 eine „Besucherschule“ ein. Zur Documenta 15 erscheint bald „Kürzeste Besucherschule d 15 von Bazon Brock, Denker im Dienst der Polemosophie. Documenta Fifteen: Der Fluch der guten Tat. Kulturalismus erledigt die Kunst“ im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König. 

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