Buch Gute Aussichten

Junge deutsche Fotografie 2020/2021

Begleitende Publikation zum 2004 gegründeten gleichnamigen Medien- und Ausstellungsprojekt zur Förderung junger Fotografinnen und Fotografen in Deutschland.

Mit Texten von: Stefan Becht, Bazon Brock, Carla Susanna Erdmann, Michael Köhler, Thomas Niemeyer, Josefine Raab, Ulrich Rüter, Marina Sammeck, Fauke Schoor, Katrin Seidel, Babette Marie Werner.

Fotograf/innen und Preisträger/innen: Sophie Allerding, Leon Billerbeck, Robin Hinsch, Jana Ritchie, Tina Schmidt & Kerry Steen, Conrad Veit, Konstantin Weber

Übersetzung: Tas Skorupa

Erschienen
01.04.2021

Herausgeber
Becht, Stefan | Raab, Josefine

Verlag
gute aussichten gGmbH

Erscheinungsort
Neustadt an der Weinstraße

ISBN
978-3-9819355-4-7

Seite 174 im Original

Der Verlust der Autorität des Individuums

Die Wirklichkeitsspionagebüros der Gegenwart

Richtig gute Dinge entstehen meist da, wo sie ohne Absicht, ohne Vorsatz geschehen. Zack! Da sind sie einfach stehen im Raum, in unserem Leben und sind damit nicht mehr aus der Welt zu schaffen. So geschehen in dem Gespräch, das der emeritierte Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung, Bazon Brock, am 2. Januar 2021 mit dem Journalisten Dr. Michael Köhler im Deutschlandfunk in der Sendung „Kultur heute“ in der losen Reihe „Innovationsmotor Kultur“ führte.

Bazon Brock, geboren 1936, der, neben einer Ausbildung in Dramaturgie, Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaften studierte, mischt sich seit den 1950er Jahren in den Kunstbetrieb ein. Aktuell betreibt er in Berlin gemeinsam mit Marina Sawall die „Denkerei/Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen“.

Jetzt können wir sagen, nichts von dem, was Bazon Brock äußert oder erzählt, geschieht ohne Absicht, oder ohne Vorsatz. Das stimmt natürlich. Nur, was dabei herauskommt, wenn zwei kluge Köpfe zusammenstecken und sich unterhalten, das kann niemand vorhersagen. Dieses Gespräch erhält daher an dieser Stelle den Raum, den es haben muss, um s sich nochmals in Ruhe auf der Zunge zergehen zu lassen.
Stefan Becht

Michael Köhler: Bereits Ende der 1950er Jahre wirkte der Professor für Ästhetik und „Künstler ohne Werk“, Bazon Brock, mit dem Maler Wolf Vostell und Joseph Beuys in Fluxus-Aktionen zusammen. 1967 gründeten sie die Deutsche Studentenpartei (DSP), weil jeder Mensch eben nicht nur ein Künstler, sondern auch ein Lernender, ein Student ist. Im Rahmen unserer losen Reihe über Innovationskultur und den Motor Kultur habe ich den Kunsttheoretiker gefragt: Wie sehen denn unter Corona-Bedingungen, wo sämtliche Premieren, Ausstellungen, Theater- und Opernaufführungen gestreamt, entkörperlicht, entkoppelt werden, die Künste weiterhin aus? Die Künstler*innen können ja nicht wie gewohnt auftreten und arbeiten – ist das die Zukunft?

Bazon Brock: Nein. das ist keine Zukunft der Künste, das ist nur eine Zukunft des Zeichenaustausches. Aber wir wissen ja, das Wort muss Fleisch werden, ansonsten hat es keinerlei Übertragungsenergie. Zeichenübertragung ist ein rein mechanischer Vorgang, aber die Zeichen zu lesen und zu deuten verlangt Verkörperung, und wer nicht Verkörperung seines Geistes ist, der landet in der Psychiatrie, tritt neben sich in mehrfachen Gestalten, oder er ist bereits tot.

MK: Was wird da künftig auf uns zukommen? Wenn ich mal so ganz flüchtig schaue: dOCUMENTA (13), 2012, Tino Sehgal, der ein Jahr später auf der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hat. Oder ich springe ins Jahr 2019. Sie entsinnen sich, der Hauptpreis ging nach Litauen für eine Opernperformance, „Surr and Sea“. Auf einem künstlichen Strand wurden unser westlicher Lebensstil, unser Konsumverhalten, das Reisen, der Klimawandel. das Artensterben kritisiert. Oder seit 2011 gibt es ein Künstlerkollektiv, das sich „Forensic Architecture“ nennt, also das Forensische bereits im Titel hat. Verabschieden sich die Künste gänzlich vom Werkcharakter und etabliert sich so eine Art „Wirklichkeitsspionage-Büro“?

BB: Ja, vielleicht ist das die geheime Sehnsucht von schwachen Charakteren. So wie Kinder davon träumen, Chefagent des M16 zu sein nach dem berühmten englischen Beispiel, oder als Großagent aufzutreten. Das sind offensichtlich diese Künstler, die als Individuen nicht mehr die Kraft haben, sich aus eigenem Antrieb heraus zu definieren und so erfolgreich zu bestimmen.
Das ist das Entscheidende: Wer sich nur noch im Kollektiv bewegt, verlässt die Künste und die Wissenschaften, denn Künstler und Wissenschaftler kann man nur als Individuum sein und nicht als Mitglied eines kulturellen Kollektivs. Wenn die kulturelle Kollektiv-Autorität gilt, die der Kirche, die der Bischöfe, die des Militärs, die der Gewerkschaften, die der Banken etc., ist es mit der Kunst und Wissenschaft vorbei.
Es gibt viele Hochkulturen mit grandiosen Leistungen, die nie Kunst und Wissenschaft kannten. Die alten Ägypter, die Griechen, die Perser – kein Mensch wusste da was von Kunst und Wissenschaft. Doch es gab rein technische Fähigkeiten von Individuen, zum Beispiel von Ingenieuren, jedoch keine Autonomie durch Autorenschaft, wie das für die westeuropäische Tradition der Künstler notwendig ist. Das Interessante an der westlichen Entwicklung, dass ab dem 14ten Jahrhundert in Westeuropa eine neue Autorität auf den Plan tritt, jenseits der Kirche, des Hofes, der Militärdiktatur oder der Bürgerschaften: Die Autorität der Individuen als Autoren. Diese Individuen als Autoren haben mit ihrer Autorität die gesamte westliche Entwicklung in Technologie und in den Wissenschaften vorangetrieben. Es waren alles Leistungen von Einzelnen, die sich dann die Kollektive einverleibt haben.

MK: So eine Art Leonardo-Prinzip vielleicht?

BB: Ja. Umgekehrt hat überhaupt nie etwas funktioniert. Die Chinesen hatten eine haushoch überlegene Kultur, aber keinerlei Individualausdruck als Autorität durch Autorenschaft. Der Westen hat 600 Jahre die Welt vorangetrieben mit erstrangigen Leistungen, weil er eben die Autorität der Individuen als Künstler oder Wissenschaftler anerkannte. Das ist jetzt zu Ende. Der Philosoph Hegel hat das schon prognostiziert ...

MK: ... das Ende der Kunst heißt das bei ihm ...

BB: ... die Beendigung ist sozusagen auf die Schwäche der Individuen zurückzuführen. Sie wurden mürbe gemacht durch die Verlockungen des Kapitalmarkts. Am Kapitalmarkt, am Kunstmarkt, am Wissenschaftsmarkt ist nur erfolgreich, wer sich den Anforderungen der Kollektive beugt. Heute ist es so dass, wenn jemand Geld für eine Forschung beantragt, er vorher dem Geldgeber sagen muss, was dabei herauskommt, wenn geforscht worden ist. Das ist natürlich Schwachsinn, denn Forschung bezieht sich ja nun gerade mal auf die Untersuchung dessen, was man nicht weiß, also auch nicht prognostizieren, nicht voraussagen kann.
Mit anderen Worten: Der kapitalistische Markt hat endlich über alle Kunst- und Wissenschaftsgedanken gesiegt. Jetzt gibt es nur noch die Kollektivideologien der Banken, der großen Investmentfirmen und der Technologiekonzerne und das ist das Ende des Westens. Der Siegeszug Chinas ist somit unvermeidlich. Europa, der Triumph, den die westliche Welt hervorgebracht hat, hat sich verabschiedet, und die Künstler machen das mit großem Aplomb mit. Das heißt, die Künstler haben es verdient, keinerlei Bedeutung mehr zu haben, denn sie selbst haben freiwillig darauf verzichtet, ihren Individualausdruck gegenüber den Verhältnissen der Welt noch zur Geltung zu bringen. Sie fühlten sich sicher, wenn sie mal für einen Kindergarten, für die Kirche oder für das Public Imaging gearbeitet haben. Sie fühlen sich erhaben und großartig, wenn sie im Namen von Kollektiven auftreten, weil sie von denen das Geld bekommen haben. Sie haben gar nicht gemerkt, dass sie sich damit selbst aufgeben. Das ist die heutige Situation.

MK: Höre ich da ein Plädoyer für die liberale Stärkung von Autorenschaft heraus oder ist es dafür schon zu spät?

BB: Nein, zu spät ist es ja nie. Es kann Alternativen, im Sinn der Nebenentwicklung geben, die dann möglicherweise auch wieder an Einfluss gewinnen. Also, zum Beispiel kann man sagen, wir befinden uns heute in einem Zeitalter, in dem außerhalb der Kapital gestützten und durch Investitionen gelenkten Aufmerksamkeit nichts mehr geschehen kann. Was aber sind die Kunst und die Wissenschaft jenseits des Marktes? Da kam man auf die Idee, eine neue Art der sinnerfüllten Orientierung des Künstlers und Wissenschaftlers zu erfinden. Das war der Gedanke der Akademie, der seit Platons Zeiten natürlich herumgeisterte, sich jetzt aber neu erfüllt. Eine Akademie ist ein Zusammenschluss von Künstlern und Wissenschaftlern, die sich wechselseitig als Aussagen-Urheber und Adressaten zur Verfügung stellen. Anders gesagt: Eine Gesellschaft der Künstler und Wissenschaftler, die sich selbst genug sind, weil sie in höchstem Maße jeweils auf ihresgleichen stoßen.
Maler wurden in den Akademien dadurch ausgebildet, dass man ihnen gezeigt hat, was andere Maler gemalt haben. Das heißt, die Konfrontation mit dem, was durch Malerei in die Welt kam, war das entscheidende Mittel der Orientierung für die, die Maler werden wollten. Es war also nicht der Erfolg am Markt, es war nicht der Erfolg in der Öffentlichkeit, man konnte sich gar nicht darauf kaprizieren am Markt erfolgreich sein zu wollen, sondern es ging um die Sache selbst! Und die konnte man nur beurteilen, wenn man von der Sache etwas verstand. Also malte man für andere Maler, denn sie waren kompetent, darüber zu urteilen, was da von einem Menschen als Malerei vorgegeben wurde. In der Wissenschaft genauso: War man Astrophysiker, wie zum Beispiel Newton, arbeitete man im Hinblick auf andere, die Astrophysik betreiben wollten oder Kosmologie, egal aus welcher Motivation. Das hat die Arbeit der Wissenschaftler und Künstler so erfolgreich gemacht, dass der Gedanke der Wissenschaftlergemeinschaft, der Künstlergemeinschaft, also der eigentlich ausgeschlossenen Gemeinschaft der Individuen, der Gemeinschaft der Einzelgänger, tatsächlich als die fruchtbarste Form von Gesellschaftsbildung erkannt worden ist. Auch heute sind die berühmten Außenseiter, die Individualisten, die eigentlichen Stützen einer Gesellschaft. Denn wer eine entfaltete Persönlichkeit ist, der fürchtet nicht die Konkurrenz von noch Besseren. Alle Kleingeister fürchten immer die Konkurrenz von Besseren, weil sie ihre eigene Überlegenheit nur glauben entfalten zu können, wenn sie auf anderen herumtreten, die eben schlechter sind, als sie selbst. Gute Leute wollen immer durch bessere Leute informiert werden und orientieren sich an ihnen. Das hat bei uns an der Wuppertaler Universität dazu geführt, dass wir das Ministerium gebeten haben: Berufen Sie bitte nur Leute, die besser sind als wir, die berufen! Mit anderen Worten: das Wilhelm von Humboldt'sche Prinzip der Entwicklung von Künsten und Wissenschaften war: Nur wer sich daran orientiert, mehr zu sein als er selbst, ist überhaupt wer. Wir müssen die Orientierung auf den Markt, auf den Erfolg, auf die Preise, auf die Zustimmung von Feuilletons etc. aufgeben und uns wieder auf die Gemeinschaft der Wissenschaftler und Künstler zurückbesinnen.

MK: Das heißt, für die Zukunft – Professor Brock, dann doch zum Schluss gefragt – wäre Kunst als Kommunikationssystem ernst zu nehmen?

BB: Nein, das ist kein Kommunikationssystem, sondern es ist eine Form der Entwicklung von Problemen. Der naive Mensch glaubt, es ginge immer um die Lösung von Problemen. Der Fachmann weiß, Probleme können nur gelöst werden durch das Schaffen neuer Probleme. Mangel an Elektrizität kann ich nicht beheben durch die Etablierung der Atomwirtschaft. Denn die Entsorgung des radioaktiv strahlenden Abfalls ist ein viel größeres Problem, als der Energiemangel. Mit anderen Worten: Probleme müssen so dargestellt werden, dass sie als prinzipiell unlösbare Probleme erkannt werden. Denn wenn ein Problem gelöst werden könnte, ja bitte, dann lösen Sie es doch, wo ist das Problem? Das gibt's ja gar nicht. Fachleute in der Medizin, oder wo auch immer, wissen: Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker. Das ist der beste Satz dafür. Jede Problemlösung besteht darin, neue Probleme zu schaffen. Es geht in Wirklichkeit darum zu erkennen, wie man mit prinzipiell unlösbaren Problemen umgeht und das verlangt Grips, Verstand und Vernunft. Dies vehement zu vertreten, wäre die eigentliche Aufgabe der Künstler und Wissenschaftler als Autoritäten in Sachen Autorenschaft.

MK: Innovation durch Individuation des Künstlers – ich sprach mit dem Kulturtheoretiker Bazon Brock.

Transkript: Charlotte Kuhn
Bearbeitung: Bazon Brock, Marina Sawall, Stefan Becht

siehe auch: