Magazin Focus Magazin

Erschienen
24.04.2021

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
17/21

Seite 86 im Original

Wie bedingen sich Distanz und Menschenwürde?

Die Corona-Pandemie ist von Beginn an geprägt vom Abstandhalten. Um das Virus in den Griff zu bekommen, geht die Gesellschaft auf Distanz: Arbeitstreffen und persönliche Besuche sind stark eingeschränkt, teilweise verboten. Wie wirkt sich diese erzwungene Distanz auf unser Miteinander aus? Wird sie es über die Pandemie hinaus prägen oder gar verändern? Diese Fragen erörtert Convoco-Gründerin Corinne Flick mit Bazon Brock, Kunsttheoretiker und emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung. Ein sehr aktuelles Gespräch, auch im Licht des diese Woche verabschiedeten Bevölkerungsschutzgesetzes. Ein Auszug:

Distanz ist das Gebot der Stunde. Dementgegen steht die Nähe. Müssen wir die Begriffe von Nähe und Distanz neu austarieren?

Ja, ganz sicherlich. Das ist der große Gewinn der Corona-Intervention, denn wir sind seit ungefähr 30 Jahren dem Terror der privatisierten Attitüden ausgesetzt. Man wird pausenlos geduzt, man wird ständig in die Nähe zu demjenigen, der etwas von einem will, einbezogen. Das heißt, die Gesellschaft ist verwahrlost durch angebliche Nähe. Die Corona-Krise erzwingt Distanz, das bedeutet, sie erzwingt ein zivilisiertes Verhalten. Es ist wie um 1900, als Tuberkulose ebenso bedrohlich war wie heute das Coronavirus. Damals schrieb Thomas Mann, Distanz sei die Voraussetzung für belastbare menschliche Beziehungen. Wir verdanken den Interventionen des Schicksals oder der Natur die Notwendigkeit, uns zivilisiert zu verhalten. Von menschlicher Seite aus sind wir eigentlich Kulturbarbaren. Etwas Übergeordnetes wie das zivilisatorische Ganze wird erst durch Not, durch Krieg, durch Vulkanausbrüche und Ähnliches dringlich. Insofern ist die Corona-Krise gegenwärtig die größte Erziehungsmaßnahme. Das heißt: Wahrung der Distanz zu anderen, Wahrung der Autonomie der anderen, Wahrung der Würde der anderen Menschen. Und darauf kommt es schließlich an. Die Distanz ist nichts anderes als der Begriff der Anerkennung des anderen als eines Gleichberechtigten.

Gibt es hier geschichtliche Parallelen, zum Beispiel zum 18. Jahrhundert?

Ja, natürlich ist die Distanzierung eingeübt worden im Feudaladel, und dann im 17. Jahrhundert im englischen Landadel. Wenn sich jemand einem Hoheitsträger näherte, zum Beispiel ein Domestik dem Herrn oder ein Angestellter dem Arbeitgeber, dann nahm er eine bestimmte Art von Distanzhaltung ein. Er maßte sich nicht Intimität an. Respekt zeigte sich in der Maßnahme der Distanz. Das wurde im 18. Jahrhundert als Aufklärung eingeübt. Chodowiecki als Stichemacher und eine ganze Reihe von englischen sowie deutschen Autoren – Lichtenberg zum Beispiel – haben das in Wort und Bild trainiert.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie in der momentanen Entwicklung auch etwas sehr Positives für den Menschen.

Ja. Wenn der Mensch erfährt, dass er nicht autonom ist, dass er nicht tun und lassen kann, was er will, wenn er seine Abhängigkeit von Naturgesetzmäßigkeiten wahrnimmt, wenn er den Allmachtswahnsinn, der dem Menschen so naheliegt, ablegt, dann hat die Zivilisierung, also das vernunftgetriebene Verhalten der Menschen untereinander, eine Chance. Sonst überbordet den Menschen das Machtstreben, die Unterwerfungsgeste.

Wir beobachten momentan einen Wandel in unserer Alltagskultur. Kann man dadurch auch auf einen gesellschaftlichen Wandel schließen?

Das wäre schön, wenn wir das könnten. Ich glaube, alle, die sich etwas besser mit der Sache auskennen, sind skeptisch, ob das wirklich gesellschaftliche Wirkung haben wird. Denn bei allem guten Willen ist der Hintergrund eben doch die kapitalgetriebene Wirtschaft, die auf solche Aspekte leider keine Rücksicht nehmen kann. Man kann Unterwerfung kapitalisieren, man kann Versklavung kapitalisieren, man kann die konsumeristische Abhängigkeit kapitalisieren. Im Gesellschaftlichen dürfte die Corona-Intervention daher kaum Spuren hinterlassen.

Liegt in dem Begriff Social Distancing nicht eigentlich ein Widerspruch?

Ja, denn soziale Distanz war gerade nicht gemeint. Es ging um räumliche Distanz, aber gerade dadurch um soziale Nähe. Das heißt, dass ich einem anderen besonders nahe bin, wenn ich ihn als eine autonome, eigenständige Persönlichkeit mit allen auch von mir selber reklamierten Attitüden würdige. Dann gewinne ich ihm gegenüber eine große Nähe, da ich ihn von Gleich zu Gleich schätze. Entscheidend ist, dass ich trotz der räumlichen Differenz Nähe gewonnen habe. Soziale Nähe wird nur durch die Hoheitszone des anderen geschaffen.

Kann es nichtverkörperlichte Kommunikation geben?

Nein, denn dann würde der Geist sozusagen frei flottieren. Es gibt keinen nichtverkörperten Geist. Popper und Eccles haben das 1975 in ihrer berühmten Londoner Disputation dargestellt. Wir sind auf das körperliche Repräsentieren angewiesen. Jeder gedankliche Ausdruck muss körperlich manifestiert werden. Er muss an der Mimik und im Verhalten ablesbar sein. Er muss eine fein differenzierte Ahnung der Intentionen eines Organismus geben, ob das die Intention der Bewegungsrichtung oder der gedanklichen Bewegung ist, ist irrelevant. Mit anderen Worten: Wir müssen lernen, Verkörperungsformen auch aus der relativen Distanz wahrzunehmen. Es ist durchaus möglich, auf intrapsychische und geistige Prozesse zu reagieren, die sich in der Mimik oder Körperhaltung äußern. Wir nennen das pornografische Transzendenz. Anhand dieser Äußerungen kann man in sich selbst die gleichen Arten von Gedanken oder Vorstellungen erzeugen, die im eigenen Körper entsprechende Verhaltensweisen hervorrufen. Das heißt: Das Wort und der Geist werden Fleisch und verkörpern sich im Verhalten dessen, der spricht, beziehungsweise im Verhalten derer, die er anspricht. Dies setzt sich so fort, dass ein bestimmtes Verhältnis von intrapsychischer Aktivität, von Vorstellungen, von Gedanken, Äußerungen und körperlicher Repräsentanz notwendig ist. Bei der Pornografie ist das am besten erkennbar: Vorstellungen, Bilder und Wortfolgen übersetzen sich sofort in körperlichen Ausdruck. Das ist ein grundlegendes Phänomen der Evolution, eine ihrer genialsten Erfindungen.

Also sind Sie kein Freund der Zoom-Konferenzen und virtuellen Erlebnisse?

Nein. Distanz kann zwischenmenschlich im realen Raum wahrgenommen werden. Aber Distanz durch Medienwechsel, also durch Virtualisierung des anderen, hat keinerlei Bedeutung. Das ist manipulativ und nicht mehr erlebbar. Die Diskussion über die Mediatisierung im elektronischen Bereich ist Unsinn. Das sieht man daran, dass die Befürworter meinen, dass es um eine Virtualisierung der Realität ginge. Aber wenn die Realität virtualisiert wird, ist sie eben keine Realität mehr.

Verändert sich unser öffentlicher Raum?

Er verändert sich dadurch, dass er mediatisiert wird. Ein mediatisierter Raum ist kein öffentlicher Raum mehr, weil jederzeit beliebig interveniert werden kann. Zum Beispiel durch das Ausschalten und das Abbrechen des Kontakts, was ohne Begründung und ohne irgendeine notwendige Erklärung oder Rechtfertigung geschehen kann. Die Realpräsenz lässt sich aber nicht nach Belieben aufheben. Wenn ich mit jemandem im gleichen Raum bin oder Menschen auf dem gleichen Marktplatz stehen, ist die Notwendigkeit, den anderen als den anzuerkennen, der er ist, so stark, dass ich immer darauf bezogen bleibe, wie ich mein Selbstbewusstsein dadurch erhalten kann, dass ich den anderen als diesen anderen anerkenne. Das ist im virtuellen Raum nicht möglich. Virtualisierung ist heute die legale Form der Eliminierung, der Auslöschung. Man glaubte früher, wenn ich jemandes Foto habe, der vor 20 Jahren lebte, dass ich ihn dann gegenüber dem Vergessen und dem Verschwinden bewahre. Heutzutage, wo jedes Foto beliebig manipuliert werden kann, ist die Mediatisierung selbst die Form der Auslöschung. Es gibt kein Bleiben mehr gegenüber dem Vergehen. Dies erleben die meisten irrtümlich als Einlösung ihres demokratischen Rechts auf Verschwinden und auf Vergessen. Einwände gegenüber der Datenverwaltung bestehen darin, dass dieses Recht auf Vergessen und Verlöschen nicht mehr gewahrt wird.

Ist dann auch keine Identität mehr möglich?

Die Identitätsbehauptung ist ohnehin sehr heikel. In der europäischen Tradition bedeutet Identität zum Beispiel für den Bürger einer Stadt, dass er die Stadt als gesamten Lebensraum von Menschen repräsentiert und eben nicht nur für sich, seine Familie, seinen Clan oder seine behauptete Minderheit Rechte einfordert. Das ist die Grundlage von Identitätsbehauptung und nicht die Ausgrenzung oder Abkapselung gegenüber allen anderen. Alle Identität wird gebildet durch die Fähigkeit, über sich hinauszugehen. Identität kann also nur behaupten, wer die Identitätsbehauptung anderer anerkennt, also genau das, wovon er sich selbst ausdrücklich unterscheiden will.

Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung, was Ihre größte Hoffnung?

Meine größte Hoffnung ist zunächst, dass die Entwicklung einer Weltzivilisation eine Chance hat, da das Phänomen der Sars-Infektion die gesamte Menschheit betrifft, sowohl global wie universal. Die Pandemien sind, wie alles, was die Gesamtheit betrifft, immerhin leistungsfähig genug, uns zu einer zivilisatorischen Einheit zu schmieden. Wenn ich heute angehalten bin, mich zum Schutz vor der Verbreitung des Virus anderen Menschen gegenüber zu maskieren und Distanz zu halten, dann übernehme ich Verantwortung für alle anderen, auch wenn sie nicht zu meiner unmittelbaren sozialen Gruppe, Familie oder Stadt gehören. Das ist die Hoffnung, dass durch diese universalen und globalen Ereignisse die Weltzivilisation tatsächlich langsam entsteht. Meine größte Befürchtung besteht natürlich darin, dass der Egoismus der Kulturen umso größer werden wird, wenn man glaubt, nur mit kleinen Einheiten wie etwa nationalen und staatlichen Organisationen den Herausforderungen gewachsen zu sein. Aber auch wenn wir nur auf unserer lokalen Basis und mit unseren jeweiligen Versorgungssystemen reagieren können, müssen wir die gesamte Menschheit im Blick behalten. Diese Balance wird wahrscheinlich nicht gelingen. Ich befürchte, dass kultureller Autonomiefanatismus und Identitätskrampferei die Abkapselungstendenzen verstärken werden, denen zufolge „wir für uns sorgen und ihr für euch“. Es droht, dass die Kulturkämpfe wieder zunehmen. Das ist meine größte Befürchtung: Man tarnt einen Egoismus als Identität. Letztendlich wird das die menschliche Einheit der Weltgemeinschaft noch weiter zerstören.

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