Audiowerk Peter Heeren: Urschall & Klangstrom

Studien zur planetarischen Gongsymphonie

Peter Heeren: Urschall & Klangstrom, 2021
Peter Heeren: Urschall & Klangstrom, 2021

Der Text von Bazon Brock findet sich im Booklet der CD.

Erschienen
01.01.2021

Erscheinungsort
Itzehoe, Deutschland

Medium
Audio - CD

Kosmiker und Heeren

Wäre man als Heutiger autorisiert, wie ein Domprobst von Bach ekklesiastische Ritualmusik einzufordern oder als ein Esterhazy Haydn zur musikalischen Produktion zu stimulieren – was würde man von Peter Heeren erwünschen? Sicherlich keine Popsongs zur Beförderung eigener besserer Verdauung von Konsumekstasen oder Kirchentagsgesäusel der spirituellen Unverbindlichkeit. Als Gründer und Leiter der Berliner Denkerei, Amt für Arbeit an prinzipiell unlösbaren Problemen, wünschte ich mir von Heeren die Erfüllung einer Gestaltanalogie zwischen seinen in Reihe gehängten Gongs und den gereihten Planeten unserer Sonne. Die Sonne emittiert Energie als Licht wie der Gong den Klang als Erschütterer der Seele. (G. Benn ging so weit, die sich auf dem Boden des unbelaubten Waldes bewegenden Anemonen Erschütterer zu nennen.)

Vom Merkur, dem sonnennächsten Planeten, wird die Energie transportiert, wie der Bote Nachrichten übermittelt. Also wäre der zweite Gong modifizierender Transmitter des Ausgangstons. Die energetische wie akustische Nachricht trifft auf die Venus. Der zweite Planet modifiziert das bisher abstrakte Tönen zum identifizierbaren Ausdruck von Liebeserweis in Tätigkeit. Die Botschaft der Liebe trifft auf den dritten Planeten, die Erde der Menschen, die leider jederzeit erfahren müssen, dass die Liebesenergien gelöscht werden können von der Kraft des martialischen Streites. Denn Mars, unser nächster Nachbar als vierter Planet, repräsentiert ja die evolutionäre Wucht des Kampfes um Vorherrschaft im Ressourcenbesitz, sei es materieller oder ideeller Art, also Territorien oder religiöse Mission. Das steht unter der Aufsicht von Jupiter, der obersten Gottheit, des Trägers der höchsten spirituellen Energie oder des Weltverständnisses. Er weist die Insignien der Herrschaft vor, sphaira und Zepter, die sich in den Saturn-Ringen und dem Asteroidengürtel manifestieren. Das Ganze über dem uranischen Urmeer, das herkömmlich mit dem Dreizack des Neptun gekennzeichnet wird, bedroht vom schwarzen Loch des Pluto, durch den alltagsbildlich die Lebenschöpfung der Sonne ins Nichts abläuft wie das Badewasser durch den Ausguss der Wanne. Die Gongfolgen also liefen von M zu V zu E zu M zu J zu S zu U zu N zu P in jeweils modifizierbarer Stimmung, die durch die historisch ausgewiesenen Grundstimmungen des menschlichen Weltverständnisses vorgegeben würden: Also einmal vorsokratisch, dann platonisch, aristotelisch, greco-römisch, frühchristlich, mittelalterlich, humanistisch und schließlich rationalistisch positiv. Das ergäbe ein Konzert ganz im Sinne unseres Modernitätspathos. Inwiefern?

So manchen erstaunt es immer noch, dass das Zeitalter der Rationalität, der Vorurteilsfreiheit, des Vorteilskalküls und der Logik der Macht zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch angeblich ganz gegenläufige Tendenzen repräsentiert wurde. Kandinsky etwa, immer wieder zum Vater der modernen, also abstrakten Malerei ausgerufen, bezog sich in seinen Programmdarstellungen stets auf Geisterseher und Spiritisten, worin es ihm so gut wie alle deutschen, russischen, italienischen, französischen Avantgardisten begeistert gleichtaten. Bemerkenswert ist, dass sie sich dabei auf die zeitgenössischen Kultur- wie Naturwissenschaften berufen konnten. Röntgenstrahlen und Élan vital, Einsteins Diktum, alles Gegebene werde nur bestimmbar aus seiner Beziehung zu Anderem, also alles sei relativ, Plancks Definition herkömmlicher gespenstischer Träger des Geistes als Quanten sowie die wilhelminische 1-zu-1-Übersetzung Wagnerscher Mythologien in militärische Operationspläne bewiesen sinnfällig die Einheit von Sinn und Unsinn, von Rationalität und Irrationalität oder von Gefühl und Verstand. Das ging so weit, dass sogar die Vernunft der Gefühle oder die Logik des Irrationalen hantierbar wurden. Freud ließ das Unbewusste bewusst werden. Künstler aller Sparten setzten auf den Ausdruck der Eindrücke; der Expressionismus der Impressionen öffnete Pathosschleusen und beförderte den Heroismus der Selbstzerstörung als Erlösung.

Die beteiligten Kunstschaffenden firmierten mal als die „Enormen“, mal als „Kosmiker“, als „Futuristen“ oder „Suprematisten“.

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts blieben sie vorbildlich, ob in Gestalt des Stadtlärmdirigenten Rodtschenko, des soundscape-Artisten Varese, des Radikalreduktionisten John Cage, des Gestaltanimisten Joseph Beuys oder des blauenden Himmelsreiters Karl Heinz Stockhausen, der schon in seinem Namen die Banalität des Alltagslebens von Karl Heinz mit der inneren Musik und Sphärenfantasie des Eingekerkerten verbindet.

Und wie recht sie alle hatten, die Engel auf den Leinwänden und auf den Gitarrensaiten zu zählen, wenn selbst das mathematische Genie des Jahrhunderts, Erwin Schrödinger, sein Alltagsleben durch Zahlenmystik bestimmte und jeden Einwand gegen Para-, Pata- und Metaphysik widerlegte, worauf die berühmteste Anekdote des Wissenschaftlerlebens abzielt: Als Niels Bohr in Kopenhagen die Jünger der Kleinteilchen- und Astrophysik ermahnte, der Presse nicht weiter geschäftsschädigende spiritistische Bekenntnisse zu bieten, wies er direkt auf Schrödinger, der über den Türen seines Göttinger Instituts Hufeisen habe anschlagen lassen. „Mein Lieber, kann denn der größte Mathematiker unserer Zeit an so einen Unfug glauben?“ Worauf Schrödinger geantwortet habe: „Natürlich nicht, mein lieber Bohr, aber ich habe mir sagen lassen, dass das auch wirkt, wenn man nicht dran glaubt.“

Das saß und sitzt erst recht heute, wo jeder Doppelblindversuch zeigt, dass Placebos, also Substanzen ohne Wirkkraft, doch zu wirken vermögen; ja, schlimmer noch, dass Placebos selbst dann wirken, wenn man den Probanden mitteilt, sie erhielten in der Versuchsreihe nur wirkungslose Tabletten.

Wer je sich genötigt sah, die Urgründe, die Abgründe oder auch die Letztbegründung und damit die Statik unserer Weltbildbauten auszuweisen, ist der von Künstlern immer schon gezeigten Einheit von Sinnlichkeit und Verstand, von Vernunft und Wahnsinn, von Methode und Willkür, also der Kraft der Form nachgegangen. Und fündig geworden. Heute kann man das am besten an den gegen alle Vernunft sich durchsetzenden „Verschwörungstheorien“ nachvollziehen. Das unwiderstehbar Logische des Unsinns liegt in der „Erzählung“ oder in der „Theoriebildung“. Das grammatische Aussagengerüst ist von größter Belastbarkeit und erträgt damit jede inhaltliche Beliebigkeit. Die Grammatik ist der weltbeherrschende Algorithmus. Denn, das ist der Weisheit höchster Schluss, Formkraft zu gewinnen, ist der einzig unabweisbare Zweck des Gestaltens von Inhalten. Mit heeren Worten: Im Musizieren schaffen wir der Zeit eine Form, die sich selbst zum denkbar höchsten Inhalt hat.

Uraufführung der Planetarischen Gongsymphonie von Peter Heeren und Bazon Brock für die Denkerei Berlin unter der hellen Sonne des Sommers 2021.