Radiobeitrag Kassels große Bilderschau

Autoren: Peter Iden und Gisela Brackert

Der Autor hält die starke Präsenz der Amerikaner auf Grund der hohen Qualität ihrer Bilder für gerechtfertigt. Die Dominanz der US-Künstler wird von documenta-Ratsmitgliedern, Kunsthändlern und Künstlern bestätigt. Kritik wird an der allgemeinen Auswahl der Bilder und an der architektonischen Gestaltung der Ausstellung geübt. Abschließend führt Brackert ein Gespräch mit Brock über die neueingerichtete 'Besucherschule' in Kassel //
Abstract (ab 06:15) (O-Ton engl. darüber dt. Übers.) Michael Sonnabend: (zu Kritik der Dominanz amerikanischer Künstler bei der documenta) „Ich glaube, dass die Leute, die diese Ausstellung zusammengetragen haben, daran interessiert waren zu zeigen, was in der modernen Bildenden Kunst im Augenblick am Wichtigsten ist, und da fanden sie eben mehr in Amerika als in Europa. Die Amerikaner haben seit dem abstrakten Expressionismus die technologische Seite der Kunst entwickelt und sie haben da einen enormen dynamischen Aufschwung bekommen. Die Verantwortlichen der documenta sind sicher keine Nationalisten, denn wären sie welche, würden hier wesentlich mehr deutsche Künstler vertreten sein. Man hat so viele Amerikaner eingeladen, weil es so viele Amerikaner gibt, deren Arbeiten wichtig sind für die Zukunft und in dieser Richtung weitergeführt werden können.“ (1'09); überrascht, dass der documenta-Rat so viele Richtungen der amerikanischen Kunst vorstellt, „...die Amerikaner haben auch eine Eigenschaft, die den Europäern fehlt, eine gewisse naive Einsatzfreude. Wenn sie aufgefordert werden, eigens für die documenta eine große Arbeit herzustellen, tun sie das eben ... Ich glaube, dass die Europäer sich selbst aus der documenta gedrängt haben, aber ihnen ist hier eine große Sache gelungen. Ich habe nie zuvor eine derartig gute Schau gesehen. Es ist einfach alles besser, als man das in Amerika arrangieren könnte und von besserer Qualität.“ (1'01) /
(ab 09:00) (O-Ton) Herbert von Buttlar: (zur Dominanz amerikanischer Künstler bei der documenta) Auswirkung europäischer Emigration nach Amerika während des 2. Weltkriegs macht sich bemerkbar. Originalität und höhere Qualität in der Ausführung liegt bei den Amerikanern (1'13) /
(ab 10:45) Interview mit (O-Ton) Hein Stünke: Gründe für Dominanz amerikanischer Beiträge, „...wer aufmerksam durch die Welt geht und erfahren will, wo die wichtigen Dinge heute passieren, der wird eben lange in Amerika sein müssen...“; empfindet Protest deutscher Künstler unberechtigt; zur documenta-Foundation; Streit einiger deutscher Kunsthändler mit Stünke (5'21) /
(ab 16:36) (O-Ton) Rudolf Zwirner: Einschätzung der documenta 4, begrüßt die amerikanische Dominanz, kritisiert aber den seiner Meinung nach zu großen Raum, der Künstlern gegeben wird, die eher im zweiten Glied stehen. Kritik an Diskrepanz zwischen ausgestellten Werken und Räumen, in denen sie ausgestellt sind (2'01) /
(ab 19:41) (O-Ton) Herbert von Buttlar: kontert Kritik der zu starken Verflechtung der documenta mit dem internationalen Kunsthandel (3'02) /
(ab 23:15) (O-Ton engl. darüber dt. Übers.) Michael Sonnabend: Künstler machen Kunst nicht primär, um sie zu verkaufen (0'30) /
(ab 24:27) (O-Ton) Rupprecht Geiger: glaubt nicht, dass der Marktwert seiner Bilder durch die documenta gesteigert werde, „wichtiger ist für einen Künstler die Konfrontation mit anderen Künstlern, darin sehe ich die Hauptaufgabe der documenta...“ (0'23) /
(ab 26:32) (O-Ton) Joseph Beuys: Einschätzung der documenta 4, „...vielleicht die beste aller documentas...“ (0'27); zu Protest gegen documenta 4 (0'27); (0'30); glaubt, das Publikum kann sich auf seine Stücke einstellen (0'59) /
(ab 29:54) Interview mit (O-Ton) Bazon Brock: über seine Besucherschule bei der documenta (4'51) /
(ab 35:16) (O-Ton) Herbert von Buttlar: skeptisch über Zukunft der documenta in Kassel (1'42) //

Produzent: Literatur (Hessischer Rundfunk)

Quelle: HFDB

Erschienen
06.07.1968

Station
HR 2 (Hessischer Rundfunk)

Length
37 min

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

documenta 4 im Überblick

Interviews

Transkript des Interviews mit Bazon Brock (ab 29:26 bis 34:52):

Autor:
Ist der Stand der Aufnahmefähigkeit auf den Stand der Herstellung von Kunst zu bringen? Die Frage könnte (...) eine der wichtigsten im Zusammenhang mit der documenta 4 werden, an der sie sich exemplarisch stellt. Und Bazon Brock könnte mit der von ihm geplanten Besucherschule eine der schwierigsten Aufgaben der Ausstellung übernommen haben. Dieses Projekt ist eine Novität. Gisela Brackert unterhielt sich mit Bazon Brock.

Gisela Brackert:
Herr Brock, Sie wollen ab Juli der documenta eine Besucherschule angliedern? Was für eine Idee steht dahinter und wie soll sie praktisch aussehen?

Bazon Brock:
Dahinter steht die Überlegung, dass es bisher nur Ausbildungsstätten von Produzenten für Kunst gibt, aber keine Ausbildungsstätten von Rezipienten, Betrachtern, Aneignern von Kunst. Die Produzenten werden in vielfältiger Weise gefördert, mit den Betrachtern beschäftigt sich niemand. Andererseits wird aber gerade dem Urteil beziehungsweise dem nicht vorhandenen Urteil des Betrachters außerordentliches Gewicht beigelegt – in kulturpolitischer Hinsicht oder auch in der Sphäre der privaten Auseinandersetzung.
Wir wollen versuchen, über diese Schule als erstes und über unsere Hochschulen als zweites an solchen Ausbildungsstätten für Betrachter, für Rezipienten von Kunst zu gewinnen. Die Ausbildung hier in Kassel soll in zweifacher Hinsicht vor sich gehen. Einmal in Analogie zur ärztlichen Praxis, Einzelbetreuung, und einmal in einem Kollektiv. Die ärztliche Betreuung findet tagsüber statt. Die kollektive Rezeption und die kollektive Verarbeitung dessen, was man tagsüber dann getrieben hat, jeweils abends von sechs bis acht. Die Gebühren für eine solche Kurzbetreuung am Tage werden ungefähr bei 20 Mark für den Einzelnen liegen, die abendlichen sind kostenfrei.

Gisela Brackert:
Herr Brock, sind Sie der einzige Lehrer an dieser Schule oder wirken außer Ihnen noch andere mit?

Bazon Brock:
Es wirkt mit ein Herr Schulz, der früher bei mir gehört hat und jetzt Oberassistent an der Klinik in Düsseldorf ist. Er wird die physiologischen Grundbedingungen für das Wahrnehmen mit den entsprechenden Experimenten an den Einzelnen dort vertreten. Dann wirkt mit ein Schauspieldirektor, der die gestischen Momente des Rezipierens, also der Verhaltensweisen Gehen, der Verhaltensweisen Betrachtung als Problem des körperlichen Ausdrucks und der Fortbewegung (behandelt), und ich werde die sozialen und ästhetischen Momente vertreten.

Gisela Brackert:
Sollte die Besucherschule nicht zu einer ständigen Einrichtung werden, denn es ist einigermaßen unbefriedigend, sich vorzustellen, dass sie nur für diese paar Tage oder 60 Tage hier in Kassel existiert. Gibt es dafür schon Pläne?

Bazon Brock:
Zunächst einmal wird während der einzelnen Arbeiten in den Ausstellungen mit uns über Walky-Talky zu sprechen sein. Man kann sich zurückversichern, Informationen zu bestimmten Objekten nachverlangen, nachholen. Dann aber möchten wir gerne, dass Einzelbesucher tage-, wenn nicht gar wochenlang hier in Kassel bleiben und praktisch ihren ganzen Urlaub für einen vollkommenen Umbau ihrer ästhetischen Rezeptionsorgane zur Verfügung stellen. Darüber hinaus möchten wir mit ihnen wenigstens einige Monate noch mit Hamburg, in der Hochschule, in der ich sonst tätig bin, in Verbindung bleiben, um sie weiterhin mit Informationen versorgen und ihnen Ratschläge erteilen zu können für die einzelnen Aneignungstechniken. Und wir planen die Einrichtung an der Hochschule einer Klasse, in der man das Betrachten, Rezipieren, die verschiedenen Techniken der Aneignung so erlernen kann, wie man sonst bei uns eben nur das Produzieren von Kunst erlernen kann. Diese Möglichkeit halte ich für außerordentlich zukunftsreich, denn ich bin überzeugt, dass die Entwicklung dahin geht, dass die nächsten 50 Jahre eindeutig von der Seite der Betrachter innerhalb der bildenden Kunst und der ästhetischen Praxis bestimmt werden.
Zunächst einmal gab es 50 Jahre lang Revolution von Seiten der Produzenten. Dann gab es eine Übergangsphase, in der Produzenten und Betrachter etwa gleichwertig für das Zustandekommen der einzelnen ästhetischen Gegenstände waren. Jetzt verschiebt sich das Gleichgewicht und es schlägt aus zugunsten des Betrachters, der allein von der Quantität, der nummerischen Zahl der Menschen, die daran beteiligt sind, außerordentlich gewichtig zu nehmen ist.

Gisela Brackert:
Ist im documenta-Fonds irgendeine Summe für diese Besucherschule abgezweigt worden, denn sie wird kaum allein aus den Kursgebühren zu bezahlen sein?

Bazon Brock:
Das müssen wir leider doch tun. Wir müssen sie allein aus den Kursgebühren bezahlen. Das heißt, es sind für uns, wenn wir Glück haben, gerade die äußersten Transportkosten und ähnliches drin, keinerlei Verdienst. Wir arbeiten alle honorarfrei, haben aber dafür die Möglichkeit, bedeutende Erfahrungen zu sammeln, die wir auch unter anderem mit den entsprechenden technischen Mitteln auswerten können, um sie dann später für eine Untersuchung zu verwenden. Diese Möglichkeit ist uns eigentlich mehr wert als ausdrückbar in irgendeinem Honorar, das wir dafür erhalten könnten.

Gisela Brackert:
Sollte sich der Besucher, der an der Teilnahme interessiert ist, bei Ihnen anmelden. Wenn ja, ab wann und an welche Adresse?

Bazon Brock:
Wir möchten gerne diese einzelnen Besucherzeiten koordinieren. Man möge sich anmelden. Das ist sehr wichtig. Ab 20. Juli. Über den Informationsstand der documenta auf meinen Namen Bazon Brock.

Autor:
Es mag ein wenig auch von Brocks Erfolg abhängen, ob das Unternehmen documenta mit dieser Ausstellung zu Ende geht. (...)

siehe auch: