Magazin Campus

Studium in Schleswig-Holstein und Hamburg

Campus, Winter 2020, Bild: me2be.
Campus, Winter 2020, Bild: me2be.

Erschienen
01.12.2020

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
Winter 2020

Seite 50 im Original

Besucherschule: Langlebiges Konzept in stetigem Wandel

Die „documenta“ gilt weltweit als größte Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst. Alle fünf Jahre verwandelt sie die Stadt Kassel für 100 Tage in einen einzigartigen Kunstraum. Die documenta trat 1955 an, um die Wurzeln und Vorbilder zeitgenössischer Kunst vor allem für ein junges Publikum zu dokumentieren (= documenta) und somit auch im Nationalsozialismus als entartet verfemte moderne Kunst einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.

Vor rund 50 Jahren setzte Bazon Brock auf der „documenta IV“ erstmals ein Konzept um, das ihn bis heute in verschiedenen Formen beschäftigt: die Besucherschule. 1968 lud er das Publikum ein, sich „visuell zu alphabetisieren“. Der Grundgedanke: Die Besucher sollen vor dem Betreten der Ausstellungen so geschult werden, sich einen eigenständigen Zugang zu den zeitgenössischen Kunstwerken zu verschaffen. „Wir haben den Begriff der Professionalisierung des Publikums eingeführt. Was nützt ein hochanspruchsvolles Kunstwerk, wenn niemand da ist, der auf dem Niveau, auf dem das konstruiert wurde, gedichtet wurde, geschrieben wurde, überhaupt mitzugehen vermag“, sagte Brock 2002 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Brock charakterisiert die Besucherschule als „institutionelle Maßnahme“ und als „Partner der Künstler“. Das Besondere: Sie gilt offiziell als Teil der Ausstellung und befähigt das Publikum, die Ausstellung als Ganzes zu erfassen – ohne jemanden während des eigentlichen Besuchs zu stören, weil das Training zuvor in separaten Räumen stattfindet. Dort erarbeiten sich die Teilnehmer ‚Methoden‘ für den Umgang mit den Kunstobjekten, erproben diese danach in den Ausstellungen und können ihre Eindrücke abschließend gemeinsam diskutieren.

Das Konzept der Besucherschule realisierte Brock bis zur „documenta IX“ 1992 in verschiedenen Formen, zuletzt als Videoinstallation. Auch außerhalb der documenta kam das Konzept zur Anwendung: Die Kunstmessen Art Basel und Art Frankfurt boten in den 1980er und 1990er Jahren eigene Besucherschulen an. 2009 begann Bazon Brock für zwei Monate sogar mit einer täglichen Besucherschule. Ein Jahr später initiierte er das Konzept als Weiterentwicklung in Form eines Studium Generale unter dem Namen „Der professionalisierte Bürger“ an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Drei Jahre lang gab es dieses kostenlose Bildungsangebot für „Diplom-Rezipienten, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Bürger und Diplom-Gläubige“. Auch die „Denkerei“, die Brock bis April 2019 in Berlin-Kreuzberg betrieb, stellt eine Ergänzung des Besucherschulen-Konzepts dar. Mittlerweile führt Brock das Konzept unter dem Namen „Denkerei mobil“ an wechselnden Orten fort.

TEXT Lutz Timm