Buch Erwin Wurm: BIG

Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Kunstraum Dornbirn vom 11. Juni – 16. August 2020

Mit Texten von: Bazon Brock, Thomas Häusle, Gerald Matt

Erschienen
01.11.2020

Verlag
Verlag für moderne Kunst

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
978-3-903796-36-2

Umfang
92 Seiten

Bis zur Wahrheit entstellt

Erwin Wurm als Kundschafter der Geschichte der Karikaturistik über Leonardo, Picasso und Kippenberger hinaus

Einen Höhepunkt der Bildlesekunst stellt die Ankündigung des „Kunstprojekts Wurm im Stephansdom – Die lange Nacht der Kirchen 2020“ dar. Dort heißt es: „Eigenartig entstellte und deformierte Skulpturen von Erwin Wurm laden im Innenraum des Doms ein, über die eigene Begrenzung nachzudenken… Deformierte Gegenstände und Gebäude eröffnen neue Perspektiven auf die Kraft und Möglichkeit unserer Erneuerung aus dem Glauben.“

Das trifft! Entstellung weckt den Wunsch nach Vollkommenheit, Deformation nach formierender Kraft? Bisher jedenfalls ist nirgends, meiner Kenntnis nach, die Erneuerung aus dem Glauben durch die Kraft der Zerstörung anhand der Wahrnehmung von Kunstwerken derart beschworen worden. Der österreichische Nationalökonom Schumpeter hat 1942 im amerikanischen Exil die Wirkung des Wirtschaftskapitalismus als „schöpferische Zerstörung“ gekennzeichnet. Kann man seinen Begriff so entfalten, dass in der Zerstörung das Schöpferische liegt? Oder wird durch Zerstörung als Auflösung Platz für das Neue geschaffen? Oder sollte man annehmen, dass die Zerstörung nicht gewollt war, sondern sich wie durch ein Erdbeben ereignete und danach der Wiederaufbau zu beginnen habe? Ist das Neue gegenüber dem zu ersetzenden Alten per se schöpferisch? Laut Ankündigung der Wurm-Ausstellung im Stephansdom wäre das Neue schöpferisch, weil es in uns den Wunsch nach dem Alten, dem Heilen, dem Wahren und Schönen weckt, weil es durch unsere Erinnerung verklärt wird.

Die Erinnerung an die verlorene Gottesgewissheit, die verlorene Heimat, die verlorene große Kunst überhöht das Gewesene zum Ideal des Glaubens, um ihn auf diese Weise zu erneuern. Im besonderen Fall die Erneuerung des Kunstglaubens und der Kunstreligion: „Natürlich in ihrer eigenen Anstößigkeit, die von keinem oberflächlichen religiösen Gefälligkeitsritual eingeholt werden kann.“ (Wurm im Dom) Das heißt, die auffällige Anstößigkeit der Objekte der Kunstreligion leuchtet ein, denn sie wird natürlicherweise durch den Zweifel hervorgerufen, ob einzelne Artefakte denn tatsächlich jenseits der Gefälligkeitsrituale des Feuilletons und des Innovationsgeredes der Werbung den Kunstglauben zu fördern vermögen. Sehen Sie, das ist Dialektik, dass nämlich gerade der Zweifel an der Kraft konkreter Werke den Glauben an „die Kunst“ über alle Vernunft wunderbar werden lässt – so wunderbar, wie es die erzielten Auktionspreise zwischen 100.000 und 100 Millionen Dollar anzeigen.

Nur wer an den Kunstwerken verzweifelt, kann auch an die Kunst glauben. Der religiöse Zweifel an Christus als Pancrator, als Weltherrscher, wie er zumeist im Triumphbogen vor dem Chor der Kirchenbauten im Porträt mit allsehenden Augen dargestellt wird, lässt sich nicht überwinden, sondern nur noch verstärken, wenn Wurm im Dom hinter dem Altar einen gigantischen PullOver präsentiert, der in seinem Format die kindliche Vorstellung aufruft, der Erlöser, der Retter sei ein ins Gigantische erweiterter Übermensch. Wurm karikiert damit scharf und unmissverständlich die Beschwörung der Einheit von Thron und Altar, die heute noch in vielen Kirchen dadurch erinnert wird, dass im besonderen Gestühl oder Grabmal die einstige weltliche Herrschaft als Patron der Geistlichkeit beraunt wird.

Damit ist der zentrale Begriff angesprochen: die Karikatur als Vermittlung des Wahren durch das Falsche, des Heilen durch das Kaputte, des Schönen durch das Hässliche, des Guten durch das Böse. 1957 kennzeichnet der junge österreichische Kunsthistoriker und Museumsleiter Werner Hofmann in seinem bis heute richtungweisenden Band Die Karikatur von Leonardo bis Picasso diese fundamentale Bedingtheit menschlichen Sprechens, Denkens und Handelns: Wahrhaft subversive Kraft entwickeln Bilder und Texte nur aus einer hundertfünfzigprozentigen, also zerstörerischen Zustimmung zu behaupteten Wahrheitsansprüchen. Seit Mitte der 60er Jahre beschreibe ich das als Strategie der subversiven Affirmation oder Negation der Negation als Affirmation, weshalb sich action teacher, action painter und action musicians selbst als NegAffen auswiesen. Karikierte Leitfigur wurde damals der gestauchte Bundesinnenminister Hermann Höcherl, der verkündete, man könne nicht in allen Alltagssituationen mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen. Das besagt: Wer eine Anleitung zum glücklichen Leben, wer eine Weltanschauung oder Religion oder sonstiges moralisches Prinzip wortwörtlich durchzusetzen versucht, zerstört damit gerade das, was er zu bewirken beabsichtigt. Selbst wer die reine Sittlichkeit von Revolutionären oder Frauenverbänden wortwörtlich nähme, landete schnell im Selbstwiderspruch, denn die reine Sittlichkeit ließe sich nur mit unreiner Macht durchsetzen. Und damit höbe sich das Prinzip durch radikale Beachtung selber auf. Wie überzeugend Wurm diese Zusammenhänge für seine Arbeiten nutzt, zeigt seine Bereitschaft, im Wiener Leopold Museum der Präsentation des „biedermeierlichen“ Malers Spitzweg eigene Arbeiten zuzuordnen. Denn das Biedermeier wurde gerade nicht von Biedermännern beherrscht; vielmehr gab sich biedermeierlich harmlos, wer an der Metternich’schen Politzensur vorbei eine subversive politische, soziale Stellungnahme in die Öffentlichkeit tragen wollte. Und was kann heute durch bildende Künstler als subversiv propagiert werden? Eben der Zweifel an der Kunst durch sich selbst in Frage stellende Werke.

„Wem die Welt als ein vernünftiger Sinnzusammenhang erscheint, in dem das Schöne die höchste Stelle einnimmt, der erlebt alles Niedrige als komisch, alles Alltägliche als grotesk – dem muss sich schließlich die Karikatur als gefährlicher Verstoß gegen die Regel und als provozierender Widerspruch darstellen, kurz: als eine Art Ausschweifung der Einbildungskraft, wie es in der Enzyklopädie von 1751 heißt. … Erst im 19. Jahrhundert, als die Romantik, besonders in Frankreich, die Ausdruckskraft des Hässlichen und des Unscheinbaren nicht mehr nur als bloße Kuriosität bewertet, sondern als Sinnbild einer bestimmten Daseinsstufe versteht, nimmt Baudelaire in der Karikatur einen diabolischen, tiefen und mysteriösen Wesenszug wahr … Die Karikatur, ursprünglich Gegenkunst außerhalb der ästhetischen Normativität der Akademien, wird zum Kunstwerk als positive, sinngebende Ausdrucksleistung. … Sie überhöhte, was bis vor kurzem noch als lächerlich gegolten hatte, und fand sich nun Seite an Seite mit dem Teuflischen und Grotesken, versehen mit dämonischer und satanischer Gewalt. … (Die Österreicher!) Hugo von Hofmannsthal und Ernst Gombrich haben die Diskussion mit völlig neuen Gesichtspunkten versehen. …“ (Hofmann)

Diese neuen Gesichtspunkte beziehen sich auf die Rolle des Fragendenden, des Behauptenden, des Provozierenden; denn, so sollten wir es heute sagen, in bildlicher Darstellung gibt es keinen Ausdruck für Negation oder für den Konjunktiv oder etwa für die Zeitform Futur II. Derartige Sprachleistungen sind aber grundlegend für gerade dadurch begründbare Urteile. In der Karikatur als Einheit von Verzerrung, Zerstückelung, Entstellung, Übertreibung ins Groteske oder Perspektivenverschiebung werden die besagten prinzipiellen Nachteile der Bildsprache nicht nur kompensiert. Die Bildkarikatur übertrifft kommunikationsökonomisch jede literarische Möglichkeit, einen ähnlichen Effekt zu erzeugen.

In einer Hinsicht fordert Wurm zu besonderer Anstrengung der Begriffe heraus, nämlich zur Abgrenzung vom heute gängigen Verständnis von Comedy, die vor 120 Jahren noch als Kabarett Trägerin subversiver, anarchischer, rebellischer und aller freiheitsliebender Kritik von Wahrheitsbehauptung und Geltungsmacht gewesen ist. In den Großstädten Europas, vor allem in Wien, München und Berlin initiiert, wurde sie im Typus des Cartoon weitgehend alltäglich und durch Etablierung im Unterhaltungsgewerbe neutralisiert. Dabei gingen die Feinheiten der Ironie und Lakonie im provozierten Klamauk unter. Die Karikatur besaß und besitzt den Vorzug, durch schmunzelnde Zustimmung, schulter- und schenkelklopfende Heiterkeit oder durch Transformation in einen wirksam erzählbaren Witz nicht neutralisiert werden zu können.

In Wurms Serie der verfetteten Häuser, Autos, Menschen wird die Karikaturleistung deutlich, die nicht in peinlich harmlose Comedy-Effekte übersetzt werden kann, wie sie in vielen täglichen Nachmittags-TV-Shows vorgeführt werden. Denn in der Logik des kapitalgetriebenen Konsumerismus, der bürgerlichen Pflicht zum Konsum, sind dicke Menschen oder Dinge, die sich in ihnen in XXL-Formaten immer weiter angleichen, nicht Zeichen unbeherrschter Triebstruktur, sondern nur noch religiös würdigbare Opfer-gänger. Man stelle sich vor, es würde das industriell in unglaublichen Mengen hergestellte „Zeug“ nicht durch Konsumieren aus der Welt gebracht. Dem In-die-Welt-Bringen durch Produktion muss logischerweise immer ein Aus-der-Welt-Bringen durch Konsum entsprechen. Mit Blick auf die Nahrungsmittel gelingt Wegwerfen als Konsumieren zum Teil bereits durch natürliche Verwesung. Bei handfesten Objekten braucht es da schon Akte der gewalttätigen Aufhebung in der Zerstörung (geschichtlich erfolgreichstes Modell dafür war der Krieg und ist gegenwärtig der Abriss).
Wurms „Verfettungen“ würdigen schwergewichtige Menschen, die heute bereits etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, als Opfergänger des konsumeristischen Gebots und als Heroen des extensiven Angebots von Nahrung, das im Kern ja durch Verzehr entsorgt werden sollte. Man stelle sich im Wurm’schen Sinne ein Würdigungsritual der fetten Menschen als Märtyrer des Konsumerismus vor, in dem man zudem einen anarchistischen oder zumindest rebellischen Widerstand gegenüber postulierten Schönheitsnormen der die Warenpropaganda tragenden Models erkennen sollte.

Alles in Butter, fragt man sich angesichts der aktuellen Wurm-Ausstellung in Dornbirn? Karikiert das Pathos der bildhauerischen Gestaltung durch das Wegnehmen von Material? Wurm karikiert die berühmten Michelangelo’schen non finiti, indem er sie aus dem Stein entlässt. Nur der ideelle Negativ-Abdruck ihrer Körper wird auf Dauer gestellt. Den Objekten der ebenfalls gezeigten Weapons-Reihe sind die psychischen Reaktionen ihrer Nutzer eingeschrieben, seien es sexuelles Begehren oder das Zittern der schweißnassen Hand am Colt. Zugleich wird an ihnen sichtbar, dass alle Instrumente, Waffen, Gebrauchsgegenstände im McLuhan’schen Sinne als Erweiterung des natürlichen menschlichen Körpers eingesetzt werden: extended arms, extended eyes, extended extremities oder ausgelagerte Organe. Das wird nur bildsprachlich evident. In gewisser Weise wird durch Wurms Arbeit der kunsthistorische oder ästhetische Erkenntnisgewinn der Theoretiker zurückübertragen auf die ursprünglichen Anschauungsobjekte. Das hat den Vorzug, die Reflexion, die gedankliche Aneignung und Kritik der Lebenswelt in ihrer Umgestaltung zu leisten und nicht mehr bloß in externer Literalisierung. So ergibt sich bei Wurm tatsächlich die Einheit von Denken und Gestalten, von Behauptung und Kritik, von Vergegenständlichung und Virtualisierung, von Orientierung auf Physik wie Metaphysik.

Wie hoch das Wurm’sche Gestaltungsideal der Deformation bis zur Kenntlichkeit auch im wissenschaftlichen Kontext zu veranschlagen ist, beweisen nicht nur die Methoden empirischer Untersuchung durch Zerstückeln, Zermahlen, Einfärben, Aufpfropfen, Änderung der Proportionen und Relationen; kein politwissenschaftlicher oder universalgeschichtlicher Analyse- und Beschreibungsaufwand kommt der Aussagekraft gleich, die in den Karikaturen der dargestellten historischen Sachverhalte liegt. Die von Martin Warnke, einem der bedeutendsten Kunstgeschichtler, im Hause der ehemaligen Bibliothek von Aby Warburg zusammengetragene Sammlung von Politkarikaturen der jüngst zurückliegenden Jahrhunderte, beweist, dass die Erkenntnisstiftung durch Karikieren nicht nur kommunikationsökonomisch wissenschaftlichen Darstellungen überlegen ist, sondern einer der alten griechischen Rangordnung der Künste entsprechenden Tatsache folgt, dass die großen Mythen, Tragödien, religiösen Überzeugungen und profanen Machtdemonstrationen erst durch die ihnen nachfolgenden Satiren und Parodien bzw. Paradoxien und Karikaturen in ihrer wirklichen Bedeutung erkennbar und bewertbar werden. Es ist tragisch und zugleich grotesk, dass in dieser Hinsicht nicht verstanden wurde, warum Hannah Arendt gerade große Nazi-Täter als ganz gewöhnliche Zeitgenossen beurteilen konnte. Gewöhnlich ist ja gerade die Unfähigkeit, zwischen Programmpathetik und der Verpflichtung auf Menschlichkeit zu unterscheiden. Das kennzeichnet Bösartigkeit, Brutalität und Mordlust aus schierer Dummheit, die banal ist, weil sie offensichtlich von der Evolution selbst mit großer Konstanz hervorgebracht wurde und wird. Das auszuhalten, ist nur durch die entstelle, verzerrende, die Wahrheit freistellende Karikatur möglich. Die „Banalität des Bösen“ war und ist eine der wirksamsten Karikierungen der unmenschlichen, unerträglichen Wahrheiten des geschichtlichen Geschehens.