Buch Anton Christian

Katalog anlässlich der Ausstellung im Tiroler Volkskunstmuseum (4.09.20-7.02.2021), im Rabalderhaus Schwaz (11.09.-26.10.2020) und in der Villa Schindler Telfs (12.09.-30.10.2020).

Mit Beiträgen und Texten von H.C. Artmann, Peter Assmann, Karl C. Berger, Bazon Brock, Günter Dankl, Ruth Haas und Christa Hauser.

Erschienen
01.09.2020

Herausgeber
Assmann, Peter / Christian, Anton / Dankl, Günther

Verlag
Tiroler Landesmuseum

Erscheinungsort
Innsbruck, Österreich

ISBN
978-3-900083-88-5

Umfang
220 Seiten

Einband
Broschiert

Seite 11-13 im Original

Alle Schuld der Kunst auf sich nehmen

Anton Christians Opfergang

Woran bemisst sich der Rang eines Künstlers? Einerseits sicherlich an der Originalität seines künstlerischen Gestus; andererseits an der Kraft, mit der er sich auf jene Themen einlässt, die gerade nicht kunstspezifisch sind. Das sind Ausdrucksformen, die nicht von Künstlerindividuen, sondern von Kollektiven der Kulturen zur Wirkung gebracht werden, zum Beispiel in den Ritualen des Alltagslebens wie in religiösen Praktiken oder in Selbstdarstellungen säkularer Herrschaft.

Seit rund 600 Jahren, also seit es überhaupt ausdrückliche Legitimation von Autorität der Individuen gibt, konkurrieren Künstlerindividuen mit Kulturkollektiven. Künstlern und Wissenschaftlern wurde seit dem 14. Jahrhundert, aber ausschließlich in Europa, Autorität durch Autorschaft zugestanden, während kulturelle Kollektive Autorität nur kraft Erbfolge, Wahl, Delegation, Berufung oder Repräsentation von Kollektiven wie Kirchen, Ständen, Gewerkschaften, Parteien anerkannten. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts als der entscheidenden Phase der Ausgrenzung von Künsten und Wissenschaften aus den Kulturen stellten sich immer wieder gerade die leistungsstärksten Künstler der Konkurrenz durch kulturell vermittelte Bildgebung oder architektonische, musikalische, literarische Gesetzgebungsmacht der Kulturen. Erinnert sei an die Besuche von Picasso und Braque im Musée de l’Homme in Paris. Die dort gesammelten Objekte afrikanischer Kulte faszinierten sie in so hohem Maße, dass sie Einzelaspekte dieses kulturellen Kollektivausdrucks für ihr individuelles Künstlerwerk adaptierten.

Eine herausragende Variante der Klärung des Verhältnisses von Kunst und Kultur im Künstlerschaffen bietet das Werk von Giacometti, von dessen Arbeiten her Kunst- und Kulturgeschichtler sogar erst frühe Kulturen wie die der Kykladen entdeckten. Seither wurde immer wieder die vor- und frühgeschichtliche, archaisch genannte Kraft an Künstlern des 20. Jahrhunderts gerühmt, wodurch einstmals deklassierende Kennzeichnungen wie „primitiv“, „wild, „barbarisch“ ins Positive umgewertet wurden. Den wirksamsten Ausdruck dafür bietet die Karriere des Begriffs „art brut“, unter dem Jean Dubuffet nach dem Zweiten Weltkrieg jede Art von Unmittelbarkeit, von nicht durch Professionalisierung auf Distanz gehaltenen menschlichen Ausdrucksformen, egal ob von Künstlern oder Nicht-Künstlern, versammelte.

Mit dem Lebenswerk von Anton Christian wird unübersehbar, zu welchen Konsequenzen gegenwärtig die Konfrontation von freier Kunst und kultureller Bindung des Lebens und Arbeitens von Menschen führt. Gauguin und Nolde, die sich ausdrücklich in die „primitiven Kulturen“ zu integrieren versuchten, kehrten aus diesen Experimenten nach einiger Zeit in die Kunstwelten Europas zurück. Man kann allerdings auch Einiges über Künstler mutmaßen, die vollständig und für immer in die sie faszinierenden archaischen Kulturen eintauchten und deshalb auf jeden künstlerischen Ausdruck verzichten wollten, so dass man heute nichts mehr von ihnen weiß. Auch für Beuys und den jungen Hundertwasser scheint es Momente gegeben zu haben, in denen sie der Frage konfrontiert waren, ob sie weiterhin auf europäischen individuellen Praktiken des künstlerischen Gestaltens beharren oder sich nicht vielmehr als voll integrierte Mitglieder von gesellschaftlichen Kulten, Riten und Liturgien verstehen sollten.

In Österreich hat der Kulturanthropologe und Psychiater Leo Navratil durch Publikation der Ausdrucksgesten von lange Zeit „geisteskrank“ Genannten vor allem Künstler der Generation Anton Christian fasziniert, die sich, über die Entgegensetzung von Kunst und Kultur hinaus, für die Frage interessieren, ob Gestaltung ein mehr intuitives, assoziatives, sinnliches Vermögen oder geschichtliche Kenntnis, vernünftiges Argumentieren und klärende Begriffsarbeit voraussetzt. Denn „Geisteskrankheit“ scheint ja beide Positionen durch eine dritte außer Kraft zu setzen. Die Generation Anton Christian wurde vom gymnasialen Kunstunterricht über die Einführungssemester an Kunsthochschulen und Studium an Akademien bis zur Verselbständigung als finanzamtlich anerkannte bildende Künstler zur Parteinahme zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Kunstträgerschaft und Kulturträgerschaft, Kunst im Dienste und Kunst in behaupteter Freiheit genötigt. Ich spreche von der Generation Anton Christian und nicht etwa von der Generation Polke, Blume, Kippenberger, Oehlen, Büttner, weil Christian et alia in sehr viel höherem Maße den Zumutungen aller Künstler ausgesetzt sind als die Stars des Metiers. Christian repräsentiert, was für alle Künstler galt und gilt; die Kunstmarktstars sind Ausnahmen, von denen man deutlich die Normalität des Künstlerdaseins in der Gegenwart abheben kann. Die Stars sind durch Erfolg dem entscheidenden Problem ausgewichen und deswegen für unseren Diskurs unerheblich und nur noch für den Kunstmarkt von Bedeutung.

Spuren der Erinnerung

Unter den vielen Stationen seiner Selbstbehauptung als geistesgegenwärtiger Zeitgenosse, die alle aus seinem London-Aufenthalt um 1970 hervorgingen, hebe ich mit Nachdruck drei heraus. Erstens die Faszination durch naturwissenschaftlich medizinische Präparate; zweitens das 1966 in London initiierte Destruction in Art Symposium; drittens die Konfrontation mit der trompe-l’œil- und Stillleben-Malerei. (Die Positionen sind bisher am zutreffendsten und überzeugendsten im Katalog Anton Christian: Ort der Erinnerung des Tiroler Landesmuseums, Innsbruck 2000, dargestellt.)

Erstens: Gut belegbar sind Christians Serien der Präparate in Flüssigkeiten, die es analog zu entsprechenden naturwissenschaftlich/medizinischen Präparaten erlauben, den Tod als eine Form des Lebens zu verstehen. Denn der Tod ist ein Wandlungsprozess – wie das Leben selbst – und ihm nicht entgegengesetzt. Die einzelnen Stufen der Transformation lassen sich auf Dauer stellen, wenn man sie in Formaldehyd oder ähnlichen Flüssigkeiten konserviert. Death is not permanent by itself, sondern Künstler oder Wissenschaftler verhelfen dem Tod erst zu einer andauernden Erscheinungsform.

Christian hatte als Untermieter im Studium erlebt, wie sich mitten im Alltag der Tod in Prozessen des Verfalls, der Chaotisierung, des Strukturloswerdens, des wörtlichen Abfallens unleugbar und unübersehbar macht. Aus diesen Zumutungen entwickelt er Evidenz für Nietzsches Behauptung, das Leben sei nur eine besonders seltene Form des Todesgeschehens, nur eine Momentaufnahme in der umfassenderen, unendlich dauernden Geschichte der natürlichen wie kulturellen Transsubstantiation. Dass ausgerechnet in London später Damian Hirst Haifische, Kühe etc. in Formalin präsentiert, lässt den Unterschied zu Christians Auffassung deutlich werden. Christian ging es nicht um spektakuläre Show-Effekte in den Salons der Kapitalgewaltigen, die sich gerade nicht mit Argumenten oder Kenntnissen beschäftigen müssen, weil man annehmen will, dass jeder, der so viel Geld für eine Gestaltung ausgibt, jedenfalls bestens über Künstler und Werk Bescheid weiß. Tatsache ist aber, dass der Kunstmarkt gerade deshalb so ungeheuerliche Dimensionen angenommen hat, weil Käufer keine Argumente mehr benötigen. Ihnen wird Kennerschaft kraft Kaufkraft zugestanden und nicht mehr als explizite intellektuelle Bekundung abverlangt.

Christians Arbeiten erschöpfen sich nicht in Schaueffekten, sondern fordern die Vorstellungs- und Einbildungskraft heraus, den jeweiligen Moment des Verfalls als eine Form des Lebens zu würdigen. So ergibt sich aus der Orientierung auf Christians Londoner Arbeiten, das Leben und Werken der Künstler nicht mehr dem Leben und Werken der Nichtkünstler entgegenzusetzen, sondern sie als Ausprägung von Normalität, von durchaus nicht banaler Selbstverständlichkeit des Alltagslebens zu verstehen.

Zweitens: Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie ich mich mit großer Verve darüber empörte, dass 1966 ausgerechnet ein aus Deutschland Vertriebener, nämlich Gustav Metzger, mit großem Hallo und Juchhe Zerstörung als Verfahren der Schöpfung feiern wollte. Das war mir zu nahe an dem von uns allen gerade erfahrenen Kriegsgeschehen, ein in ununterbrochener Kette vom Zweiten Weltkrieg über den Korea-Krieg in den Vietnamkrieg fortgesetzter Beweis für Schumpeters euphorische Charakterisierung des Kapitalismus als schöpferischer Zerstörung. Mit Metzgers Londoner Angebot der gefeierten sich selbst zerstörenden Maschinen Tinguelys, der Schrotthaufen Chamberlains, der Explosionstrümmer Arman’scher Spielereien – bei denen sich, nebenbei bemerkt, Yoko Ono und John Lennon zum ersten Mal trafen – schienen sich die Künstler endgültig mit ihrer Präpotenz destruktiver Kraft lächerlich gemacht zu haben. Die offizielle Rechtfertigung hieß aber: Wer mit der Schere Yoko Onos nackten Körper aus ihrem Kleid hervorhole, zeige, dass er gelernt habe, seine destruktiven Antriebe zu beherrschen. In Wahrheit waren diese Veranstaltungen als Kunstaktion getarnter Exhibitionismus; die sich selbst verblödenden Künstler waren einfach unfähig, den wahren pornografischen Exhibitionismus an der ordengeschmückten Brust eines Generals oder den Umsatzsteigerung repräsentierenden Verkaufsstatistiken zu sehen. Diese Künstlerchen waren bestenfalls Opfer der Kunstideologie, der zufolge Kunst die höchste aller menschlichen Handlungsformen sei. Das war die Demonstration jämmerlicher Überheblichkeit von Künstlern; dagegen setzte Anton Christian seine damalige Malerei als Reflex auf die teuflische Zerstörung ohne jede Kreativität, die in den Schattenbildern Hiroshimas als buchstäbliche Zerstrahlung aufbewahrt ist.

Drittens: Die in London zahlreich und prominent präsentierten Malereien des goldenen niederländischen Zeitalters, trompe-l’œil und Stillleben, erschloss Anton Christian in wahrhaft erhellenden Umkehrprozessen. So übertrug er aus der bildlichen Darstellung von toten Tieren, mit denen Wildhändler ihr Angebot propagierten, die malerischen Effekte auf reale tote Tiere wie etwa Schweine. Ein realer Schweinskopf wurde durch Bemalen zum Bild. Es demonstrierte die wahre Wirksamkeit von Stillleben, wenn die Betrachter das jeweils reale Warenangebot der Wildhändler abzuschätzen hatten. Sie kauften dann ein Bild in Gestalt des realen Objekts, wie man heute noch Nudeln in Gestalt der auf der Verpackung dargestellten Nudel kauft. Die nature morte zeigt das Tote als unmittelbar wirksam in den lebenden Adressaten. Längst haben wir uns daran gewöhnt, das tote Zeug der Waren mit unseren lebendigen Wünschen und Vorstellungen zu überformen. Früher Höhepunkt dieser Propaganda für den Tod ist das damals in Amerika selbstverständlich gewordene Verlangen, vor dem Begräbnis den lieben toten Angehörigen noch einmal in der vollen Pracht des geschminkten Gesichts wie lebend als Leugnung des Todes zu sehen.

Wohin führen die Spuren der Erinnerung die sich Erinnernden?

Ein wacher Künstler lässt sich kaum auf Behübschungen ein, mit denen die Gesellschaft ihm anbietet, sein eigenes Treiben als sinnvoll zu erleben. Was hat man ihm nicht alles für Angebote gemacht! Kunst sei die moderne Version der Kirche, die letzte metaphysische Tätigkeit des Menschen im Hochkapitalismus, keine Feier ohne Gefiedel und bildmächtige Inszenierung, denn die Wirklichkeit sei das, was sich ins Bild setzen lasse. Aber ein Kopf wie Christian lässt sich nicht mehr einreden, Malerei sei eine Form des Voodoo-Kults, mit der man Jagdopfer banne oder gesellschaftliches Selbstbewusstsein überhöhe. Seine Puppenbilder z.B. als Hinweis auf ehemals bewohnte Landschaften des Humanismus sind längst überführt in Familienaufstellungen, mit denen Lebensberater soziales Glück zu bewahren versuchen oder Kriminalisten obskure Tathergänge simulieren. Künstler, die auf Derartiges immer noch abfahren, wären bestenfalls als Psychiater, Lebensberater, Polizisten und Kriminalisten gerechtfertigt.

Nein, alles spricht für aufgeklärte Zeitgenossen gegen die gesellschaftliche Zuschreibung von Bedeutung ihres Tuns als Künstler. Fatal ist, dass man die Ohnmachtserfahrung nicht loswird, indem man einfach aus der Kunst aussteigt und sich als Kulturträger inszeniert, wie Beuys das deklariert hat. Man kann eben aus der Not nicht in die Wohlgefälligkeit umsteigen, aus der Vergeblichkeit ins Gelingende oder aus der Kunst ins Leben. Das ganze 20. Jahrhundert rechtfertigt sich, wenn es rechtfertigbar wäre, ausschließlich durch die harte Trennung von Kunst und Leben. Von Hofmannsthal über Benn bis zu Max Frisch reihen sich die Versicherungen aneinander, dass es aus dem Kunstwerk, dem Gedicht, der Malerei, von der Bühne herunter keinen Weg in die Liebesbindung zwischen realen Menschen gebe, keinen Trost in der Verwirklichung des poetischen Gedankens in der Karriere, keine Kompensation für das Faktum der Gewalt von Feuer, Wasser und Stürmen. Wer wirklich Künstler ist, hält eben die Ohnmacht seiner eigenen Position gegenüber dem Leben durch, anerkennt die ungeheure Überlegenheit der kulturell geschaffenen Bedingungen seiner eignen Existenz als Künstler und lebt aus der Dennoch-Erfahrung, dass die Normenvollzugsau-tomatik vor Gericht oder in parlamentarischen Verfahren oder bei unternehmerischen Sachzwangsentscheidungen zwar haushoch jede Autorität von Autorschaft der Individuen an Wirkmacht übertrifft, aber gerade an dieser totalitär werdenden Allmachtsphantastik der normativen Gewalthaber zugrunde geht.

Deshalb zwingt sich Christian ständig in die Konfrontation mit den Kultobjekten afrikanischer Gesellschaften, die ihre grandiose Gestaltdifferenzierung gerade nicht als Kunst entfalten, sondern als das Gegenteil, als Kultgerät. Wer hingegen meint, dann müsse man eben Kunstwerke zu Kultgeräten erheben und etwa mit den Malereien Mark Rothkos der Glaubensversammlung texanischer Ölbarone spirituellen Überbau bieten, ist gerade kein Künstler, sondern ein Gauner, den man heute generell Marketingexperte nennt. Wer wie Anton Christian in seinem eigenen Schaffen immer nur die Vergeblichkeit und Ohnmacht gegenüber solchen Gaunereien zu erleben hat und dabei durchaus die Verführung zum Kultpriestertum in der eigenen Tätigkeit erfährt, ohne ihr tatsächlich nachzugeben, bleibt ein Monument der Unversöhnlichkeit von Kunst und Kultur, von Individualität und Kollektivität – so sehr wir alle doch geneigt sind, nur den als entfaltetes Individuum, als große Persönlichkeit anzuerkennen, der eben mehr repräsentiert als sich selbst und seine Interessen, der sich also durchaus an kollektiven und common goods zu orientieren scheint. Aber wo sind je solche Individuen von den Kollektiven anerkannt worden? Selbst Goethe und Schiller wurden als „Weimarer Sudelköche“ denunziert, als sie es wagten, mit ihren gemeinsamen Xenien-Texten in ihre Kulturen zu intervenieren.

Gnadenlos haben bisher alle Kulturen fast ohne Ausnahmen all jene zur Strecke gebracht, die die Autorität von Autoren über die von Kulturen glaubten setzen zu können, weil sie eben Großartiges geleistet hatten, vor allem auf dem Felde der medizinisch-technischen Erkenntnisstiftung. Jeder Durchschnittsdespot verbreitet seine Kampfparolen mit technischem Gerät, dessen Erfindern er nicht die geringste Autorität in seinem eigenen Felde zuzugestehen bereit ist. Da vertreten nur jene noch die Menschheit, die auf den vom Allmachtswahn produzierten Trümmern die Würde des Lebens gerade im Scheitern zu wahren versuchen. Künstler wie Anton Christian wissen, und das ist ihre Größe, was Samuel Beckett postulierte: Es kann nur darum gehen, immer besser zu scheitern, und das heißt, die gewalttätige Wahrheit der Machtverhältnisse radikal aus der Kraft der Ideen und Vorstellungen des anderen Lebens zu bannen.