Buch Noch ist Europa nicht verloren

Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2

Noch ist Europa nicht verloren. Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2. Berlin: Distanz-Verlag, 2020 + 1 Bild
Noch ist Europa nicht verloren. Kritik der kabarettistischen Vernunft. Band 2. Berlin: Distanz-Verlag, 2020

Bei Brock liest man, was man bei anderen Autoren schmerzlich vermisst. Seine Argumentationen scheinen zunächst provokativ, eröffnen aber immer völlig neue Sichten auf die behandelten Themen. Nie zuvor las man, wie das Wort Fleisch wird, so wie bei ihm. Niemand erkannte die 68er als erfolgreichste Generation ohne eigenes Tun. Niemand bekannte sich zum Bekenntnisekel. Niemand beklagte, dass wir noch niemals wahrhaft kapitalistisch gewesen sind. Und wie herrlich eröffnet sich den den Lesern die Hymne „Noch ist Europa nicht verloren“, weil man nicht verlieren kann, was es gar nicht gibt. Brock war immer seit 1963 Kritiker dessen, was es nicht gibt, aber deswegen unsere Vorstellungen beherrscht.

Bazon Brock ist ein verführender, also führender Polemosoph. Ein Denker im Dienst gegen die Gemeinheit, vor allem die Allgemeinheit. Ja, ist es denn nicht hundsgemein, dass für die Historiker die Rangfolge der bedeutendsten Persönlichkeiten von der Zahl der Leichen bestimmt wird, die sie zu hinterlassen wussten? 15 Morde – lächerlich –, das ist eine lokale Auffälligkeit für zwei Tage; erst bei 1,5 Millionen Toten beginnt der Aufstieg in die ewige Bestenliste, die heute Mao, Stalin und Hitler mit mindestens 40 Mio, 20 Mio oder
mit 15 Mio Toten anführen. Von diesen Herren der Geschichte redet alle Welt seit Jahrzehnten und für die nächsten hundert Jahre. Sie haben es geschafft, die Hall of Shame zur Hall of Fame werden zu lassen.

Zum Titelbild: 

Vor 50 Jahren manifestierte Bazon, dass er den tiefsten Eindruck auf dieser Welt mit seinen Füßen hinterlassen wird. Heute ist der ökologische Fußabdruck die Metapher für aufgeklärte Zeitgenossenschaft schlechthin.

Themen:

Einheit durch Verschiedenheit – Europa fällt, Europa bleibt · Theoretische Kunst · Wie sterben Götter? · 68er: erfolgreichste Generation aller Zeiten · Alle Bildwirkung ist pornografisch · Und das Wort wird Fleisch · Vom Sturm zum Stürmer · Kunstwerk, nicht Wissenschaftsgetue · Weiße Romantik, die gute Unendlichkeit · Konservatismus heißt Verpflichtung auf das Neue · Gott lebt, der Markt stirbt · Bekenntnisverhütung · Durch’s Wurmloch in die nächste Welt · Entrümpeln bei guter Beleuchtung · Geisterreich der Moderne · Tränen sind Schmelzwasser der Seele · Sommerdenken – Winterdenken · Bewirtschaftung der Gnade

Erschienen
22.05.2020

Autor
Bazon Brock

Herausgeber
Marina Sawall

Verlag
Distanz-Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
978-3-95476-336-8

Umfang
400 S.

Einband
Broschiert

Seite 370 im Original

Sommerdenken

Alle Bildwirkung ist pornografisch grundiert (2016)

Bazon Brock: Jetzt schreiben wir erst einmal auf: Marina Sawall kontrolliert das Rattengift im Lager der Denkerei. Ja, das wird hier eingefügt, und dann wird vor dem Gespräch gesagt: Es herrschen hochsommerliche Temperaturen, ein typisch mitteleuropäischer Himmel mit sehr vielen großen, aber hellen Haufenwolken vor blauem Himmel. Die Gemütslage ist dementsprechend hoch gestimmt. Die Interviewerin entwickelt eine hohe Affinität zum Interviewten, man könnte also auch sagen, die beiden könnten eine leichte tänzerische Bewegung des gedanklichen Unternehmens entwickeln.

Beate Klompmaker: Und diese tänzerische Bewegung reflektiert auch die gläserne Oberfläche der Murano-Vase, die hier auf dem Tisch steht.

Wenn wir jetzt ins Schwimmbad gingen, könnten wir das Gespräch nebeneinander schwimmend führen: Wie ändert sich das Interview in Hinblick auf den vorgegebenen Sachverhalt, wenn man es als Patient im Bett macht oder als Mitschwimmender oder als Wanderer durch den Sommerwind. Je etwas anderes müsste ja eigentlich herauskommen.

Bei unserem Gespräch im Winter sprachen wir über den denkenden Künstler und jetzt, ein halbes Jahr später, sprechen wir nochmals darüber. Es wird sicher etwas anderes dabei herauskommen.

Die Antwort auf Thomas Huber: Er ist ein pictor doctus, ein gelehrter Künstler und vereinigt in sich zwei Ebenen: erstens, die gestalterischen Fähigkeiten, zweitens, die wissenschaftliche Fähigkeit zur Kritik am Ausdruck. Denn notwendig sind beide Seiten: die Fähigkeit zur Expression, zur Darstellung, und gleichermaßen die Fähigkeit zur Kritik an diesem Ausdruck. Mit der Darstellung erzeugen wir Evidenz, also Augenscheinlichkeit, das, was einleuchtet. Da man aber von sich weiß, dass man wie jedermann in der Wahrnehmung täuschbar ist, muss Evidenz, der Augenschein kritisch geprüft werden. Und jetzt kommt der Witz: Die Kritik der Evidenz muss ihrerseits wieder durch Evidenzerzeugung glaubhaft werden. So müssen zum Beispiel Physiker ihrer natürlichen Wahrnehmung misstrauen. Die Kritik an der Überwältigung durch das möglicherweise Einleuchtende, aber Falsche wird ihrerseits dadurch sichtbar, dass sie erst den Zeigerausschlägen oder dem Zahlenrattern als Objektivierung der Wahrnehmung vertrauen. Man kann die Leistung der bildenden Künstler in summa als Kritik am Augenschein auffassen. Oder, auf ein anderes Feld bezogen, sagen, dass Künstler diejenigen sind, die das Bilderverbot durch Bildermachen erfüllen.

Worin liegt der Unterschied, wenn Thomas Huber oder Bazon Brock vor einem Bild spricht?

Wenn Huber vor seinem Bild spricht, dann ist das höherwertig, weil er als Urheber dieses Bildes sich selbst im Hinblick auf diese Urheberschaft kritisiert, anzweifelt oder misstraut. Er weiß als Künstler am besten über sein Versagen, seine Schluderei, seine Flüchtigkeit Bescheid. Er weiß, wo er alle Fünf hat gerade sein lassen, das heißt, wo er mit ein paar formalen Akrobatiken konzeptuelle Leere überbrückte.

Wiederum auf eine andere Ebene gehoben, heißt das, kein Faschist ist nur, wer von sich weiß, dass er jederzeit einer hätte werden können. Dass er es nicht wurde, verdankt er seiner Fähigkeit zur radikalen Selbstkritik. Aufgepasst: Diese Selbstkritik ist das Gegenteil jener Selbstkritik, die totalitaristische, fundamentalistische Regimes unbotmäßigen Anhängern abverlangen, weil die sich den Dogmen nicht unterworfen hätten.

Was bedeutet eigentlich der Vorname Bazon?

Wir sagen den Leuten immer: »Wissen Sie, Bazon heißt Schwätzer.« Dann denken die: »Oh, jetzt bin ich ja ihm überlegen. Ich schwätze ja nicht, er schwätzt, wie er selber sagt.« Solche Leute plappern nur nach, ohne eigene Kenntnis und Überlegung. Bazon heißt bei den Sophisten, den Gegnern des Wahrheitsfanatikers Platon, jemand, der spricht, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Das heißt dann im heutigen Sinne Plädieren, wie man das etwa im Parlament oder vor Gericht zu tun pflegt, um den eigenen Klienten oder die eigene Sache zu stützen.

Das heißt, Bazon Brocks Prinzip liegt eigentlich darin, etwas durch Zielgerichtetheit zu erreichen, während Huber mit seinen Mitteln auf Beglaubigung zielt, ja?

Das heißt doch das Gleiche. Es geht nicht um Beglaubigung im Sinne von höherer Autorität, die sagt: Dieses ist große Kunst! Das wäre ja dummes Zeug. Dann wäre Huber ja ein Naivling. Aber er fragt: Kann ich mir trauen? Und das kann ich nur, wenn ich eben diese doppelten Schritte der Evidenzkritik durch Evidenzerzeugung durchlaufen habe.

Wann haben Künstler begonnen, vor Bildern über ihre eigenen Bilder zu sprechen?

Seitdem man nicht mehr naiverweise glaubt, Bilder seien Fenster zur Welt, also anerkennen muss, dass man auf dem Bild nicht das Gleiche sehen kann, wie wenn man aus dem Fenster guckt.

Ein Bild ist ein Zeichengefüge von Bezeichnetem und Bezeichnendem. Die Einheit ist das Zeichen selbst. Nur im Zeichen lässt sich das Bezeichnete und das Bezeichnende unterscheiden. Es gibt diese ästhetischen Problematiken bereits in der Antike, aber damals bezog man das nicht auf künstlerisches Arbeiten, sondern auf technisches. Die Produzenten waren damals nicht Künstler, sondern Techniker, die wussten, wie man etwas macht. Sie waren keine Schöpfer im Sinne unseres heutigen theologisch begründeten Begriffs von Schöpfung und schöpferischer Arbeit. Erst Mitte des 14. Jahrhunderts treten Individuen auf, deren Aussagen als Texte oder Bilder oder Skulpturen nicht wichtig sind, weil hinter ihnen ein Fürst steht, ein Bischof, ein hochrangiger Auftraggeber oder sonst eine soziale Autorität.

Zum Luther-Jubiläum sollte man sich erinnern, welch ungeheure Bedeutung die christliche Überzeugung hat, dass jedes menschliche Individuum in seiner Gottesebenbildlichkeit auch per Gebet in unmittelbare Beziehung zu Gott treten kann. Diese Auffassung ist fundamental für die Emanzipation der Einzelmenschen, der Individuen, aus der Kollektivität, welcher Art auch immer.

Weil seit dem 14. Jahrhundert derartige Emanzipation zum Motor der Entwicklung moderner Gesellschaften geworden ist, war es von überragender Bedeutung herauszufinden, was denn ein einzelner Mensch, erst recht mit seinen optimalen Fähigkeiten als Künstler und Wissenschaftler, von der Welt noch wissen kann im Vergleich zu dem Wissen, das die Kollektive hervorbringen und anwenden. Was weiß einer, der nur für sich selbst und nicht im Namen einer Institution, als delegierter Repräsentant einer Regierung, eines Unternehmens oder einer Kirche spricht? Seit den Arbeits- und Lebenszeiten Petrarcas gestatteten Kommunen den Individuen die »freie Rede«, die nicht autorisierte Meinung, die Hypothesenbildung, weil hinter diesen Individuen erklärtermaßen keine Mächte standen.

Mit Beginn des 15. Jahrhunderts entfalteten Tausende, von Florenz ausgehend, ihre individuelle Erkenntnis- und Schaffenskraft. Dadurch entstand eine Entwicklungsdynamik, die man bald als grenzenlosen Fortschritt glaubte verstehen zu können. Aber Individualität und Kollektivität schließen einander gar nicht aus. Denn auch das, was Kollektive an Wissen und Fähigkeiten ansammeln, kann ja jeweils nur von Individuen umgesetzt werden. Zum Beispiel repräsentieren Bibliotheken in überwältigendem Umfang kollektives Wissen, das aber nur durch die Arbeit einzelner Leser partiell und selektiv genutzt werden kann. Gerade in den Bibliotheken entstand die neue Wirkform des Individualismus, nämlich die Autorität durch Autorschaft. Was ein Autor sagt, bezieht sich nur auf andere Autoren, nicht auf weltliche oder geistliche Gewalten. Ein Künstler wird nicht durch den Markt produktiv oder durch die Anerkennung der Mächtigen, sondern durch Bezug auf das, was andere Künstler vor und neben ihm erarbeiten. Daraus begründet sich übrigens die geläufige Kennzeichnung von Künstlern wie Thomas Huber und Gerhard Merz als Künstler für Künstler, als Künstlerkünstler.

Wann änderte sich grundsätzlich die Art und Weise, wie man vor Bildern spricht?

Mit dem Entstehen der sogenannten abstrakten Kunst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Damals koppelten die Künstler ihre Ausdrucks- und Darstellungsformen von der realen Welt ab, von der Welt der Hühner und der Welt des Saatgutes, der Welt der Tanten und der Welt des Brotbackens, der Welt der Blumen und der Gebirge.

Was durch solche Abkopplung passiert, kann man sehr gut seit der jüngsten Finanzkrise beobachten. Ab 2007 glaubte die Geldwirtschaft, sich vollständig von der Warenproduktion lösen zu können. Resultat war ein sich austobender Allmachtwahnsinn. Nur durch Erpressung der Steuerzahler wurde bis auf weiteres das gesamte System der Weltwirtschaft vor der totalen Selbstvernichtung bewahrt.

Wird die abstrakte Finanzwirtschaft enden wie die abstrakte Kunst? Schließlich haben wir achtzig Jahre gebraucht, bis wir erkannten, dass die »abstrakte Kunst« in die Geschichte des Ornaments gehört, die vieltausendjährige und ausschließlich von Kollektiven getragene. Wie lange wird es dauern, bis man weiß, dass die Finanzwirtschaft in die Geschichte der philosophischen oder theologischen Spekulation gehört und nicht zu den Formen des Wirtschaftens, nicht zur Oikonomie, also nicht zur Geschichte der Erhaltung des Lebens auf Erden, sondern zu dessen Rückführung in die Kälte des kosmischen Nichts, zur Geschichte der Zerstörung?

Die Art und Weise, vor Bildern zu sprechen, veränderte sich fortwährend, das war auch in den 1920er, 30er Jahren der Fall oder später in den 60er Jahren. Zu Hubers »Künstlerreden«: Die Staffelei mit dem Bild darauf ähnelt auf der Bühne einer Schultafel. Der Künstler spricht vor dem Bild, vor ihm sitzt das Publikum in Reih und Glied in den Stuhlreihen. Wenn Thomas Huber vor seinen Bildern spricht, erinnert er mich manchmal an einen Pfarrerssohn, dann wieder an einen autoritären Lehrer. Er versucht, mit der Rede die Grenzen der außer- und innerbildlichen Wirklichkeit zu verwischen: Das heißt, Huber propagiert das »Im Bilde sein« und lockt den Betrachter sprachlich und gestisch an, doch ins Bild zu steigen, um »im Bilde zu sein«. Bazon Brocks Thema war einmal der »Ausstieg aus dem Bild«. Was gibt es hier für Anknüpfungspunkte?

Im Bereich des Schauspiels, in den 1920er/1930er Jahren, entstand ein großer Streit zwischen den Stanislawski und den Brecht-Anhängern über die Einstellung des Schauspielers zu dem, was er darstellt. Im Falle Huber, also in der Rolle des sprechenden Künstlers stellt sich diese Frage auch. Sie fragen sich, wie sie das Publikum, vor dem sie sprechen, erreichen wollen. Soll das Publikum »Ja und Amen«, »Großartig und wunderbar!« sagen? Was hätte Huber davon? Oder wie auf der einen Seite bei Stanislawski: Das Publikum ist in Ekstase, rast und onaniert vor den Bildern usw. Und andererseits sagt Bertolt Brecht: »Nein, das muss ganz kühl und distanziert sein. Wir spielen nur den König, wir sind es aber nicht. Dies ist eine Demonstration, dies ist eine Schulstunde, dies ist eine Parlamentsdarstellung, aber als Kritik an ihr, wie im Kabarett.« Dieses Vorgehen nannte Brecht episch, demzufolge sprach man von epischem Theater.

Auch Huber wird sich zwischen Stanislawski und Brecht jeweils entscheiden oder besser noch, hin- und herpendeln. Einmal wird er wie ein Pastor reden, der Leute überzeugen will, einmal wie ein Lehrer, der sie zu Kritik gegenüber den Glaubensinhalten ja gerade fähig machen will und manchmal wird er den Ekstatiker mimen, der nur noch von der Verschwendung lebt. Der Schauspieler identifiziert sich so komplett mit der Rolle des Königs, den er spielt, dass er selbst dadurch psychologisch zum König wird. Wenn er das Potential hat, kann der Schauspieler aus sich den König, den Bettler, den Geliebten, den Versager machen, weil er komplett in der Rolle aufgeht. Der Brechtsche Profikünstler auf der anderen Seite sagt: »Ich muss mein Publikum ja gerade nicht dazu bringen, dass es sich mit mir oder meinen künstlerischen Ambitionen einfach identifiziert, denn dann hätte ich nur nachbetende Anhänger von der Art der Hitlerjugend oder der Stalinjugend. Ich will ja gerade ihre intellektuelle Fähigkeit schulen, das heißt, ihre Kraft zur Distanzierung.« Der Lehrer kann die Kinder nicht auffordern, sich mit ihm im Sinne eines vorgetragenen Textes, eines Königsdramas zum Beispiel, zu identifizieren; ein Schauspieler, der den König spielt, verführt die Zuschauer dazu, an ihm und in ihm zu sehen, was ein König ist.

Versucht Thomas Huber, Eigengesetze auszuhebeln, indem er die Rolle des sprechenden Künstlers annimmt und gleichzeitig die des Lehrers und des Pfarrerssohns?

Nein, bloß keine Mystizismen, diese ganze Untersucherei braucht man nicht. Es ist doch ganz einfach: Er erfüllt auch sich selbst gegenüber ein bestimmtes Schema in der Begründung von Glaubwürdigkeit seiner Aussagen- und Geltungsansprüche. Er kann dem Publikum versichern: »Ich mache eine für Euch wichtige Aussage, weil ich mich als ihr Urheber von mir selbst distanziere. Ich bin also nicht einer Autosuggestion verfallen, weil ich weiß, was ich tue. Das solltet ihr, liebe Zuhörer, verehrtes Publikum, auch euren eigenen Aussagen gegenüber zu erreichen lernen.«

Ein Beispiel: Wenn er zum Arzt kommt, will der Patient einerseits die Autorität des weißen Kittels genießen. Das Vertrauen in die Autorität des Arztes stützt tatsächlich die Therapie. Die andere Seite des Patienten, die etwas anspruchsvollere, will nicht die Autorität des weißen Kittels anbeten, sondern will wissen, ob der Arzt selber kritikfähig ist und nicht seinerseits bloß Lehrbuchautoritäten folgt. Dann stellt der Patient die Frage: Weiß der Arzt, dass die Medizin, die er verabreicht, gleichzeitig so wie sie hilft, auch schadet? Kennt er die Nebenwirkung der Nebenwirkungen, also die Wirkung mehrerer gleichzeitig verabreichter Medikamente zusammen? Ist er kritisch genug, um überhaupt sein Vorgehen im Vergleich mit Alternativen beurteilen zu können?

Die Beziehungen zwischen beiden Einstellungen des Patienten werden durch den Placebo-Effekt gekennzeichnet. Der Glaube, die Einbildung, die Psyche haben tatsächlich Einfluss auf das körperliche Geschehen. Wiederum auf eine andere Ebene übertragen, heißt das, mir als sicher auf dem Boden stehendem Passanten wird schwindlig, wenn ich eine Person sehe, die sich in großer Höhe ungesichert an einem Felsen oder an einer Fassade bewegt. Ich sehe eine pornografische Darstellung als Bild und reagiere körperlich. Ich bin zufällig einem im Verkehrsunfall verletzten Körper konfrontiert und mir wird schlecht, obwohl ich selbst völlig unversehrt bin. Und schließlich betrachte ich Gemälde und werde durch sie in andere Räume und Zeiten versetzt, obwohl ich mich vor dem Objekt kaum bewegt habe.

Der Placebo-Effekt, die Simulation, das Rollenspiel basieren auf harten Fakten der Psychophysiologie. Der Glaube versetzt tatsächlich Berge und man gibt gerne ein Königreich für einen Pegasus.

Der Unterschied zwischen den Sprechenden Thomas Huber und Bazon Brock ist dann doch folgender: Thomas Huber will mit dem Sprechen vor Bildern eine Identifikation schaffen, es geht um das »im Bilde sein« des Betrachters im Spiel von Bilddarstellung und realer Umgebung. Bazon Brock hat, meine ich, die Kritikfähigkeit des Betrachters als sein Lebensmotto gewählt und erprobt dies im Format der Besucherschulen und der Denkerei. Dies sind zwei unterschiedliche Richtungen oder Rollen.

Ich glaube nicht, dass Huber wirklich ein Stanislawski- Anhänger im Sinne der totalen Identifikation des Schauspielers mit der Rolle ist, wie sie für den Patienten der »Gott in Weiß« darstellt. Nein, dazu ist er viel zu intelligent. Das wäre natürlich eine verflixte Situation, wenn man plötzlich entdeckte, dass er ein naiver Künstler oder ein Malschwein-Künstler ist, also jemand, der darauf besteht, dass die Betrachter vor seinem Bild niederknien und sagen: »Wie phantastisch, ich gehe gleich im Bild auf. Ich versinke in der Andacht des Bildes …«. Das glaube ich nicht, dazu kommt er mir viel zu nüchtern, zu distanziert vor.

Hm.

Er ist aber nicht katholisch.

Nein, er ist, oder eher war, protestantisch.

Man kann sagen, er ist immer noch protestantisch-calvinistisch, wenn auch schwach. Versucht er, einen dritten Weg zu gehen zwischen der bloß totalen Identifikation und der distanzierenden Kritik? In der Figuration des Bildes, im Zeichen, kommt es zur Einheit zwischen diesen beiden Ebenen, also der Einheit zwischen Identifikation und kritischer Distanzierung. Das heißt Evidenzkritik durch Evidenzerzeugung. Evidenzerzeugung als die Form, in der die Evidenzkritik sich zeigt.

Wenn er doctus, also gelehrt ist, wenn er weiß, was er tut, dann wird er sehen, dass er weder pathetisch das bloße Liniengeschiebe, das Farbengekleckse, das Rumschmieren als Beherrschung der syntaktischen Ebenen, noch auf der anderen Seite die reine Semantik des Gemeinten ausführen darf. Es muss also um die Einheit im Zeichen gehen, das ja nur als Einheit von Bezeichnetem und Bezeichnendem seine Funktion erfüllen kann. Das heißt, der Künstler, der doctus, ein Typ wie Huber oder ich, weiß, dass er eben nicht Glaubensanhängerschaft oder Jüngerschaft einfordern darf, wenn er tatsächlich seinen Zuhörern nützen will. Wenn jemand glaubt, mir Anerkennung durch die Versicherung bieten zu können, ich sei ein großartiger Denker, dem er sich anschließen wolle, würde ich sofort rufen: »Auf Wiedersehen! Hier sind Sie falsch am Platze.«

Wie? Würde es nicht heißen: »Kommen Sie doch herein!«

Würde er sagen: »Was tun Sie überhaupt in Ihrer Denkerei, wissen Sie nicht, dass alles sinnlos ist?«, dann würde ich antworten: »Gerade deswegen denke ich dagegen an.«

Aber was geschieht denn jetzt mit dem »dummen Betrachter«?

Vor dem muss man sich hüten, es sei denn, er tritt als Käufer auf. Den größten Erfolg in der Moderne haben diejenigen, die den Dummen anbieten können, sich als Käufer zu rehabilitieren. Es gibt Künstler, die ein unheimliches Talent haben, jemanden davon zu überzeugen, dass er seine Dummheit kaschieren kann, indem er sich als Liebhaber oder als Kenner durch Kaufen bestätigt. Das heißt, wer kauft, braucht keine Argumente. Mit dem Kaufakt selber bekommt er schon bestätigt, dass jeder ihm unterstellt, er wüsste Bescheid, denn sonst würde er ja nicht kaufen.

Bazon, das glaubst Du doch selbst nicht.

Aber selbstverständlich glaube ich das. Das ist die Funktion des Kunstmarktes.

Aber nicht unsere.

Wir kaufen keine Kunst. Wir sind ja gar nicht gemeint. Wir können doch Argumente vortragen, wir sind nicht dumm. Wir gehen ins Museum und haben da alles, was man nur wollen kann.

Huber provozierte einige Male in Podiumsdiskussionen mit dem Begriff des »dummen Malers«. Mit dem »dummen Käufer« schleicht sich jetzt eine ähnliche Polemik ins Gespräch.

Wenn ich nicht fähig bin, den Unterschied zwischen der Darstellung und dem Dargestellten zu sehen, wenn ich nicht weiß, wie sehr sich beim Akt des Ausdrucks das Ausgedrückte verändert, wenn der andere nicht weiß, wie gut ich lügen kann, denn zum Lügen braucht man Intelligenz, dann ist der, der das nicht kann, eben dumm. Lügner können nie dumm sein, weil sie ja bewusst den Unterschied herstellen müssen. Also ist Lügen immer mit der mephistophelischen Intelligenz verbunden, durch intelligente Formen der Polemisierung einen Geltungsanspruch zu bestreiten. Pólemos heißt ja nichts anderes – und dies ist in Deutschland sehr verrufen –, als eine Sache so wichtig zu nehmen, dass man darüber streiten muss. Und am Beginn des Streitens steht das Problematisieren, denn wenn etwas nicht problematisch ist, muss man darüber auch nicht streiten. Also sind die Leute sauer, wenn man ihnen irgendwelche Dinge als problematisch darstellt: ihren schönen Glauben oder ihren Geschmack. In dem Augenblick, wo sie gesagt bekommen: »Leute, das ist sehr problematisch, was ihr da naiver Weise für gegeben haltet, Nation und Rasse oder Bild und Wirkung oder Geltung und Anspruch«, dann fangen sie so an: »Wieso, wir wissen dies doch ganz sicher, wieso ist denn das problematisch?«

Zum Problematisieren benötigt man dann die Notlügen?

Wenn die Leute von Notlügen wüssten, wären sie ja nicht dumm. Sie sind dumm, weil sie nicht problematisieren können. Weil sie den Unterschied zwischen dieser und jener Sicht gar nicht erkennen. Weil sie zum Beispiel eine Fiktion nicht als Fiktion einschätzen können. Weswegen Intellektuelle wie auch Kinder, die wach sind, immer die Fähigkeit des Lügens trainieren. Das heißt ja nichts anderes, als der Wirklichkeit die Potenzialität, einige Formen des Möglichen entgegenzusetzen. Ich muss intelligent sein, um zu erkennen, dass dieser Zustand genauso ein anderer hätte sein können.

Seid ihr, Huber und Du, vielleicht zu intelligent, um in Deutschland noch bekannter zu sein? Das ist ja nicht gerade populär, was ihr macht.

Populär ist es auf keinen Fall. Populär ist ja nur das, was sich den allgemein als geltend angenommenen Urteilen fügt. Aber diese Menschen muss man fragen, wie sie je etwas lernen wollen, wenn sie darauf bestehen, immer nur das gesagt zu bekommen, was sie schon wissen.

Ist das in anderen Ländern anders?

Nein, das ist prinzipiell menschlich, das gehört zur Anthropologie und deswegen zur philosophischen Grundüberlegung seit der Antike. Denn die Philosophen beschäftigen sich mit dieser konstitutiven Grundlage durch die Naturevolution des Gehirns. Seit Kant ist bekannt, dass das alles Logiken der Naturevolution des Gehirns sind.

Punkt.

Punkt. Dich müsste man auch noch einmal in die Mangel nehmen.

Warum?

Weil Du auch noch Reste dieser Eierschalennaivität hast.

Das ist doch schön.

Nee, nee, Du hast eine komische Art von Orientierung auf das Erreichen eines Ergebnisses, das Du Dir vorstellst.

Also: Huber müsste doch diese oder jene Sehgewohnheit aufheben wollen oder müsste dieses oder jenes tun, was allgemeine Anerkennung findet. Du musst ihn aber lieben und achten, gerade weil er nicht Deinen Erwartungen entspricht, sondern Dich dazu nötigt, Deine Annahmen zu ändern.

Doch, doch. Huber versucht, einige Eigengesetze auszuhebeln. Erstens stellt er seine Gemälde auf die Staffelei, so dass sie als Objekte, ja sogar als Schilder wirken, und spricht davor. Und zweitens bezeichnet er sie ganz allgemein als Bilder und nicht als Kunstwerk oder als Gemälde.

Das macht doch jeder. Alle Gemälde stehen auf der Staffelei.

Nein, in den 1980er Jahren hat sie keiner darauf gestellt, außer den Hobbymalern.

Das ist doch nur eine Metapher, sonst nichts. Und man darf die Metapher nicht mit der Realität verwechseln. Dadurch, dass ich das Bild auf eine Staffelei stelle, ist gar nichts gesagt, denn natürlicherweise stehen Bilder auf einer Staffelei, so wurden sie ja gefertigt.

In den 1980er Jahren war das Stellen des Bildes auf eine Staffelei als Präsentationsform ein Novum.

Nein.

Ja, wirklich.

Es war doch so, dass nach der großen Welle der Freilichtarbeiten kaum jemand im Atelier vor festem Arbeitsplatz sitzen oder stehen wollte. Aber ob das entstehende Werkstück auf dem Boden liegt oder auf der Staffelei steht, ob es an die Wand gepinnt ist oder schräg an der Wand lehnt, so dass das Licht besonders einfallen kann, ist für die Intention des Fertigwerdens unerheblich. Ab 1860 ging es um die Frage: Arbeit im Freien oder im geschlossenen Raum des Ateliers…

Wie Nietzsche gesagt hat: »Traue keinem Gedanken, der nicht im Gehen entsteht«, so haben die Franzosen gesagt: »Traue keinem Bild, das nicht in freier Natur entsteht.« Aber das sind normale zeitgemäße Angleichungen, die selbst wenig zu sagen haben. Es geht nicht um Staffelei oder nicht Staffelei, ob es an der Wand hängt oder nicht. Die Museumstaffelei ist ja nur ein Exponier-Podest. Also ist egal, wie …

… doch, es hat dort eine spezielle Bedeutung, wo das Bild zur Schautafel wird.

Lies doch mal die Abhandlungen von Werner Hofmann über das Atelier, dem zentralen Weltort des 19. Jahrhunderts, da kommt das doch alles vor.

Ja, kenne ich, aber das Atelier hat keine Bedeutung in der strengen Aufführung der Künstlerrede vor Staffeleibild im Museum oder in den Vortragsräumen.

Selbstverständlich hat das eine ganz gigantische Bewandtnis. Seit schon…

… natürlich, aber nicht mehr als öffentlicher Ort.

Natürlich, das ist doch gerade, was Hofmann zeigt. Wenn Courbet und andere Leute…

…natürlich stellt er es dar. Es ist aber nicht der reale Ort.

Das ist der reale Ort, an den die Leute kommen, um zum Beispiel als Käufer die Bilder zu sehen.

Nein.

Die gehen seit den 1830er Jahren alle in die Ateliers.

Nein, bei Huber geht das Publikum nicht ins Atelier, sondern in die Galerie oder ins Museum.

Ja, das ist wieder etwas anderes. Aber de facto als historischer Sachverhalt ist es so, wie die großen Ateliermaler es darstellen: Das Publikum kommt ins Atelier in Gestalt von Käufern und Freunden, sie sitzen herum, gruppieren sich und werden Bestandteil des Ateliers selbst. Das konstituiert das Atelier als Weltort. Die Galerie ist wieder ein anderer Weltort, das Museum ist ein anderer Weltort. Der öffentliche Raum ist ein anderer Weltort, das Wohnzimmer ist ein anderer Weltort.

Wenn Magritte in Belgien nur im ehelichen Wohnzimmer mit Spitzendecke malt – allerdings vor der Staffelei –, ist das eine Demonstration seiner Verortung in der Welt und diesem belgischen Gemütstief.

Das Bild auf der Staffelei ist genauso ein Modell der »Anschauung« wie Thomas Hubers Atelier, das er 1984 in der Ausstellung »von hier aus« in einer Messehalle als begehbares Modell gebaut hat. Trat man in das Atelier hinein, hatte man einen Abdruck der Türklinke auf der Hand: Seinen Gesichtsabdruck. In einer Messehalle hatte er den »Besuch im Atelier« also ausgestellt.

Das gab es im 19. Jahrhundert reihenweise. Lies doch mal das »Atelier« als Weltort von Hofmann, wenigstens mal blättern, damit man nicht solche Behauptungen aufstellt. Im Übrigen, selbst bei Vermeer Mitte des 17. Jahrhunderts gibt es das alles schon. Sie waren Bürgerkünstler, die für den Markt arbeiteten und nicht mehr für den Fürsten.

Ich habe das Gefühl, dass manchmal bei Deinen Ausführungen der Wirklichkeitsbezug verloren geht. Seit den 1980er Jahren wurde »site specific« populär. Orte außerhalb des Ateliers wurden motivisch ins Bild geholt. Die Bilder wurden für einen speziellen Ort oder Auftrag hergestellt und die Wahrnehmung des Betrachters bekam einen höheren Stellenwert.

Das macht doch jedermann auf der Modellebene. Auch die Feldherren haben ihren Sandkasten, in dem sie alles, was sie vorhaben, durchspielen.

Nein, es geht um den Einbezug des Betrachters und die Thematisierung der Betrachtung im Werk. Das siehst Du wahrscheinlich anders.

Kennst Du in der Literatur die »Lesende«? Überall wird dargestellt, wie eine Frau auf dem Sofa liegt, sie knabbert Schokolade oder trinkt im 18. Jahrhundert Schokolade aus dem Tässchen und denkt nun anhand des gelesenen Stoffes an eine amouröse Situation. Das ist doch überall das gleiche, der Betrachter ist doch der Akteur. Das gilt erst recht für die Gattung der Vedutenmalerei; wie der Name »Vedute« schon sagt, wird das Sehen und Gesehenwerden zentrales Motiv.

Du hast auch von dem sprechenden Bild gesprochen: »Das sprechende Bild ist da!« Erklär!

Das war als Zitat zu der Reklame für den Tonfilm gedacht. Als der Stummfilm 1927/1929 innerhalb von zwei Jahren vollständig durch den Tonfilm ersetzt wurde, war die Frage: Was ist denn das Neue? Und das war ganz klar: Man verlor die Expressivität, die im Stummfilm notwendig ist. Wenn Du ohne Ton Liebe, Schmerz oder Hass ausdrücken wolltest, musstest Du unvergleichlich viel größeren expressiven Aufwand betreiben, mimisch und körperlich. (Brock schwallt) Und wenn Du Ton hast: »Also, hörn Sie mal, Sie Schlampe, hauen Sie ab!« (mit mittellauter Stimme), da passiert expressiv gar nichts, schon die Artikulation gibt die Konfliktsituation wieder.

Das ist das »sprechende Bild« und das war deswegen wichtig, weil die Leute ja auch meinten, die Gemälde sprächen ähnlich von sich aus, wie das Kinobild von der Leinwand spricht. Und das hatte fatale Wirkungen, man fand das plötzlich »ansprechend« – und »ansprechend« war ein Kriterium für die Akzeptanz. Oder man fragte, was das zu sagen habe. Nicht, was man selber zu fragen wüsste, sondern was das Bild zu sagen hatte. Und wenn man nun vor einem abstrakten Gemälde steht, das mit der gegenständlichen Lebenswelt nichts zu tun hat, dann muss man überhaupt erst einmal einen Kommentar hören, um zu wissen, in welchem Sinne man das angehen soll. Wenn ich eine Maschine vor mir habe, brauche ich die Gebrauchsanweisung. Wenn ich Auto fahre, brauche ich eine Betriebsanleitung.

Was heißt denn »Betrachter« auf Latein?

Auf jeden Fall nicht »Rezipient«. In gewisser Weise kann man das aus einer Differenz von zwei Begriffen darstellen. Das Muster dieser Differenzbildung ist tatsächlich das, was heute den Begriff der patientia ausmacht: nämlich Geduld haben zu müssen. Einerseits also ist der Betrachter derjenige, der Geduld haben muss.

Jetzt bin ich gespannt auf die zweite Ebene.

Und die zweite Ebene ist die auf die Kontemplation angewiesene Observierung. Da gibt es ja das spectaculum einerseits und die observatio andererseits. Diese Differenz zwischen spectaculum und Observanz führt ab 1712 zur Entwicklung der Zeitschriften »The Spectator« und »The Observer« oder bei Luhmann zum Beobachter erster und zweiter Ordnung. Huber interessiert, dass man die Beobachtung eines Bildes dadurch stimulieren kann, dass man beobachtet, wie andere Leute das Bild wahrnehmen. Also sagt Huber wie jeder reflektierte Künstler: »Ich sehe mir an, wie andere reagieren. Aus der Beobachtung des Verhältnisses zwischen dem Ereignis und dem Spektateur mache ich eine Beobachtung zweiter Ordnung. Ich male also nicht ein Bild, sondern ich male ein Bild in der Wahrnehmung durch andere Menschen. Und das Verhältnis von Bild und Betrachtung ist schon selbst konstitutiv für das Bild.«

Thomas Huber malt also immer ein Bild plus die Art und Weise, wie es wahrgenommen wird. Und da ist natürlich besonders interessant, ob er als Gelehrter, also auch anthropologisch Gebildeter, weiß, welche Voraussetzung die Natur dafür liefert. Denn in der Natur gilt das Gesetz des Zeichens. Es verlangt von den Angehörigen derselben Spezies eine bestimmte Reaktion, das heißt, hier wird ein Reiz gesetzt und darauf gibt es eine Reaktion, also ist der Reiz ein Auslöserreiz, darauf reagiert artspezifisch, also instinktsicher jeder, der zur selben Art gehört. Das heißt, es gibt nur gewisse unmittelbare Reaktionen auf bestimmte Auslöser.

Wenn diese Auslöser in der Malerei nicht mehr so bestimmt sind, dass man nur eine Art der Reaktion ausbilden kann – Fresslust, Saufen oder Zerstörungsakt oder was auch immer –, dann verliert sich dieses natürliche Verhältnis von Auslöserreiz-Figuration und Reaktion, also das, was wir instinktgeleitete Orientierung auf Auslöser nennen. Und dann ist die Frage: Wie kann man außerhalb dieser natürlichen, also pornografischen Verhältnisse von Bild und Wirkung tatsächlich noch die Wirkungsformen überprüfen oder garantieren? Gibt es eine Haftung des Malers für die Wirkung seines Bildes?

Die entscheidende Frage, die sich mir eher aufdrängt, ist diese: Ist dem ›pictor doctus‹, dem gelehrten Künstler, ein gelehrter Betrachter gegenüberzustellen, der die Beobachtung zweiter Ordnung versteht? Gibt es den ›observator doctus‹, den gelehrten Betrachter? Welche Rolle spielt dann noch der Instinkt?

Anthropologisch ist das Verhältnis von Auslöserreiz und Reaktion bestimmt: Das definiert den Instinkt. Da ist festgelegt, ob ich nun mit dem Genital, mit dem Kopf, mit den Augen oder mit der Hand reagiere.

Ich habe selber als Gutachter 1966 an Gerichtsverhandlungen gegen Frauen teilgenommen, die sich so hergerichtet hatten, durch Minirock und entsprechende Brustdrapierung, durch Haaraufbau und Schminken, dass sie wie ein »Bild« wirkten, auf das Männer in einer bestimmten Weise reagieren. Die Frage war, ob es Männern erlaubt sei, auf das Bild einer Hure, das eine Frau präsentierte, entsprechend zu reagieren.

Das glauben ja heutzutage immer noch einige Leute.

Wer die Verschleierung von Frauen fordert, geht offenbar von einem solchen Reizauslöserschema aus. Männer, vor denen man Frauen durch Verhüllung glaubt schützen zu müssen, werden ja als unzivilisierte Barbaren gekennzeichnet, die wie Tiere instinktgefesselt auf Auslöserreize reagieren und die nicht gelernt haben, ihre Antriebsenergien durch Sublimierung zu steigern – also sich nicht einfach in der Reaktion auszuleben, sich abzureagieren, sondern die Energien in Formen der kulturellen oder künstlerisch-wissenschaftlichen Produktion zu überführen.

Folgt Huber dem pädagogischen Eros oder dem pornografischen bei seinen Künstlerreden, z.B. in der »Rede in der Schule«?

Nein, die Schule soll doch gerade die Ablösung oder die Kontrolle der instinktiven Reaktion ermöglichen, das heißt, dort lernt man, dass man nicht einfach, unmittelbar, spontan auf einen Reiz reagieren darf, sondern dass man sich die Art der Reaktion überlegen muss.

Im Museum ist es nicht angemessen, vor einem Bild zu beten, was man in der Kirche ohne weiteres als passend empfindet. Wenn ein Werk ins Museum kommt, das vorher als Dreiflügelaltar gedient hat, dann darf der Museumsbesucher nicht vor dem Bild knien. Das heißt Schule: Anleitung zur Reflexion statt zur bloßen Reaktion.

Und trotzdem habe ich das Verlangen, spontan zu reagieren!

Ja, das Verlangen ist da, aber auch ein Bild, welches das Verlangen herstellt, sagt mir: Dies ist nicht der geeignete Ort oder die geeignete Gelegenheit, um das Verlangen zu erfüllen. Würde das Bild das Verlangen erfüllen, wäre es ja uninteressant geworden. Denn dann wäre der Wunsch durch die Erfüllung gelöscht. Deswegen werfen Leute Pornografieheftchen weg, die sie benutzt haben als typische Reaktion auf einen bildlichen Auslöserreiz. Was würde wohl passieren, wenn wir im Museum oder sonstwo nach etlichen Blicken auf einen Rubens das Gemälde einfach wegwerfen würden wie ein Pornoheft? Das Rubens-Gemälde mit nackten Weibern ist jedem Pornobild überlegen, weil es sich nicht in der Auslösung von einsinnigen Reaktionen erschöpft, sondern einfach nicht dem Verlangen nach Wunscherfüllung folgt, das der Betrachter äußert. Das Gemälde bleibt nicht-konsumierbar, bleibt inkommensurabel. Das drückt sich unter anderem in der Distanzzone aus, die der Museumsbesucher vor dem Gemälde einzuhalten hat.

Ich finde Deine Haltung nicht angemessen Menschen gegenüber, die nicht so schlau sind wie Du.

Warum nicht? Ich biete ihnen ja an, sich selber so schlau zu machen.

Ja, aber mit dem Zeigefinger.

Wie kann man es denn anders machen? Das geht doch gar nicht anders.

Einmal heruntergebrochen: Wenn ich Dich anlächle, ist das genauso viel wert, wie wenn Du mir einen Vortrag hältst.

Nee. (Lacht.) Das möchtest Du Dir gerne einbilden. Wie soll ein Bild Dich anlächeln? Du bist ja nicht gemeint, Du bist als Adressat gar nicht angesprochen.

Es geht mir darum, dass man auch dummen Menschen gegenüber loyal ist. Das ist der Knackpunkt.

Du bist ein bisschen sozialdemokratisch verseucht und so wirst Du Huber niemals gerecht werden können. Wenn Menschen nicht aus ihrer Unbedarftheit, aus ihrer Weltblindheit herausfinden wollen, wenn sie nicht zur Schule gehen wollen, wenn sie nicht alphabetisiert werden wollen, dann nützt alles nichts. Offensichtlich leiden sie nicht genug, um ihren Zustand verändern zu wollen.

Genau das wollte ich von Dir hören.

Du musst eben wissen wollen. Das ist sehr interessant bei Huber, weil Du da auf einer Ebene zwar das ganz natürliche Brimborium mitkriegen kannst, wie die Leute so rumreden über Kunst und Künstler und Wirkung und Preis und weiß der Teufel was, auf der anderen Seite aber angehalten wirst, weit über das hinauszukommen, was Dir normalerweise so zugemutet oder vielmehr vorenthalten wird.

Und das ist wichtig, dass Du das jetzt begreifst, bevor Du Deine Doktorarbeit über Huber mit ungeheurem Aufwand, aber ohne Resultat zusammenschusterst.

Warte ab, Du wirst verblüfft sein.

Das wäre ja wunderbar. Das wäre ja wirklich phantastisch. Sag doch mal irgendetwas, was ich erwarten könnte und nicht selber jetzt schon weiß.

Meine Tochter hat heute ihr Zeugnis bekommen und ich hole sie gleich von der Schule ab.

Na ja, das ist nur als Parallelaktion möglich. Das heißt, da hörst Du einen Stimmungseinschlag, wie im Theater. Es war eine düstere Stimmung oder Morgenluft im Hochgebirge, Zarathustra fängt an, die Glieder zu recken, irgendetwas, aber mehr ist es nicht.

Dort scheinen jedoch ganz andere Phänomene auf.

Ja sicher, aber das sind ja andere als die, die Du hier bei Huber als Bilder sehen willst.

Ja, natürlich.

Na also, wir sprechen hier doch von Thomas Huber und nicht von Deiner Tochter, von Mutterliebe und so was.

Und wir sprechen von Dir.

Ich komme nur insoweit vor, als dass ich bereit bin, mit Dir zu reden. Und ich sage, Du bist hoch angesehen, denn ich spreche mit Dir. Dumm heißt jemand, der nur an dem interessiert ist, was ihm bequem ist, was ihm geläufig ist, so dass er gerade kein Interesse an seinem Zustand ausbilden muss. Und wer kein Verhältnis zu sich in der Notwendigkeit ausbildet, sich ändern zu müssen, hat auch kein Verständnis für die Veränderungswürdigkeit seiner Welt.

Ich denke, eine große Rolle spielt hier auch die Neugierde.

Natürlich. Dumme Menschen kennen ja keine Neugierde.

Dadurch, dass Huber als Künstler kommentiert und spricht, als Professor gelehrt hat und Vorsitzender des Deutschen Künstlerbundes war, stellt er auch eine weitere Verbindlichkeit durch sich als ›pictor doctus‹, dem Denkenden Künstler her. Da steht nämlich dann eine Verbindlichkeit im Vordergrund, die über das Bild und den Künstler hinausgeht.

Vielen Dank für die Gelehrsamkeit der Schülerin. Ich bin sehr glücklich, dass ich Dich als Schülerin gewonnen habe, ab heute müssen wir die Unterredung so häufig wie möglich fortsetzen.

…wöchentlich.

…wöchentlich, stündlich. Und was ist das jetzt, wenn ich Deine Hand halte, was ist das?

Hm, vermutlich der Instinkt.

(Er lässt die Hand los, schüttelt den Kopf und sagt nichts mehr.)

siehe auch: