Magazin Die beste Zeit

Die beste Zeit, Bild: Nr. 1/2020.
Die beste Zeit, Bild: Nr. 1/2020.

Erschienen
01.01.2020

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

Issue
01/2020 Januar-März

Seite 9 im Original

Wiedergeburten?

Friedrich Engels frisst Cola wie die Revolution ihre Kinder

In den 1970er Jahren wurde vom Barmer Engels-Haus eine bestimmte historische Epoche als geeignetes Feld der experimentellen Geschichtsschreibung eröffnet. Experimentelle Geschichtsschreibung ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Namen Uchronie-Forschung vor allem bei Militärs populär, die sich fragen, was gewesen wäre, wenn .... Cäsar nicht ermordet worden wäre, aber Napoleon doch von der eifersüchtigen Josephine. Auf den ersten Blick scheint das eine Kinderfrage zu sein, auf den zweiten und dritten aber ist es sehr sinnvoll, jede Handlung und Entscheidung von Menschen mit Blick auf Alternativen im Spektrum des prinzipiell Möglichen zu kennzeichnen und zu bewerten. Denn historische Entwicklungen, die geschichtlich wurden, folgen keineswegs den immer wieder beschworenen Sachzwanglogiken oder denen der Psychopathologie. Seit Shakespeares experimenteller Geschichtsschreibung auf der Bühne ist das uchronische Denken „Was wäre gewesen, wenn ....“ um eine Sinnebene erweitert worden: „Was wäre, wenn wir aus konkreter Geschichte etwas lernten?“ In der Ausbildung von Militärs wurde „Cannae“ so zum Lehrbeispiel für Umfassungsschlachten, für säkulare Zivilisten hieß die Antwort generell: „Das darf uns nicht noch einmal passieren!“

Was wollte Friedrich Engels aus dem Beispiel Cola di Rienzos lernen oder sogar gelernt haben, als er in den allfälligen Kaffeekränzchen und an den Debattierstammtischen des Biedermeier seinen poetischen Erguss zu den römischen Großereignissen der 1340er Jahre vortrug respektive vortragen ließ? Eine Antwort kann man durchaus gut begründet geben, wenn man die parallel zu Engels’ Hymnik von Richard Wagner konzipierte Huldigung an Cola und den damals populären Roman von Bulwer-Lytton über das Leben des Volkstribuns als durchaus zeittypisch zu Rate zieht. Offensichtlich ging es Engels wie Wagner um eine sinnvolle und angemessene Reaktion auf die Niederschlagung der Juli-Revolution des Jahres 1830 in Paris bzw. auf den Verrat dieser Revolution durch das Bürgertum, nachdem dieses der Inthronisierung des Bürgerkönigs Louis Philippe aus dem Hause Orléans anstelle des Bourbonen Karl X. zugestimmt hatte. Die Antwort, die zum Beispiel Eugène Delacroix mit seinem Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ gegeben hatte, blieb unbefriedigend, denn es reichte wohl doch nicht, sich als „schlotternder Hosenscheißer“ unter dicken Brückengewölben aus dem aktuellen Kampf herauszuhalten, wie es Delacroix laut Zeitzeugen im Juli 1830 getan hatte, um dann seine eigene Rolle in der Gestalt des zylinderbewehrten Bürgers in seiner Bilderzählung zum Mut des Wankelmütigen zu überhöhen. (Die 1848er-Revolutionäre haben denn auch Delacroix’ Gemälde zu den Ereignissen von 1830 als reaktionären Mist entsorgt.)

Die Juli-Ereignisse 1830 waren ein Versuch, gleichzeitig die römisch-französische Republik und das Empire Napoleons vor der Auslöschung von Geschichte zu bewahren, denn die Restauration nach dem Wiener Kongress 1815/16 ließ sich nur durch die Polizeidiktatur Metternichs behaupten, die sich gegen jegliche geschichtliche Weiterentwicklung rigoros zur Wehr setzte und in Frankreich zur Wiedereinsetzung des vorrevolutionären Herrschergeschlechts der Bourbonen führte.

Bulwer-Lytton, Engels, Wagner, ja, die gesamte Undercover-Gesellschaft des angeblich so harmlosen Biedermeier suchten nach einem Ereignis in der europäische Geschichte, das zu erörtern die verbotene Analyse des revolutionären Potenzials in der Epoche der Restauration ersetzen konnte. Und dieses Ereignis bot ihnen die Geschichte des Cola di Rienzo. Cola wollte als eine Art Bildungsenthusiast und Erkunder der Regeln sozialer und politischer Entwicklungen in der Geschichte die tödlichen Machtkonflikte im Rom des 14. Jahrhunderts und speziell der Jahre 1347 bis 1354 in eine wünschenswerte Zukunft überführen. Er glaubte nach Diskussionen mit ersten Humanisten wie Petrarca, dazu befähigt zu sein, weil er die Vision hatte, dass zentrale Vorgänge in der Römischen Republik bis zu Cäsars Tod wieder aufleben könnten. Da er die römischen Vorgänge zu kennen glaubte, fühlte er sich auch befähigt, den Machtkampf zwischen römischen Senatorenfamilien nutzen zu können, um die gesellschaftliche Aristokratie durch die Herrschaft des Volkes zu ersetzen; die Analogie schien umso einleuchtender, als der Papst im 14. Jahrhundert nicht in Rom residierte und damit der Machtfaktor der Übertragung des römischen Imperiums auf das Imperium Christi, regiert vom Vatikan, unberücksichtigt bleiben konnte. (Um die Rom-Vorstellungen Colas, also seine historischen Kenntnisse und die Chancen der Wiedereinsetzung des römischen Beispiels einzuschätzen, lese man Eric Agne, „Die Entwicklung der Rom-Vorstellungen von Cola di Rienzo“, 2006.)

Wir alle sind inzwischen vertraut mit der Typologie solcher Vorgänge, die mit dem geflügelten Wort „Die Revolution frisst ihre Anführer“ treffend bezeichnet werden. Vom Tod der Gracchen-Brüder über den des Arminius/Hermann und Dantons bis zur Eliminierung der letzten Gefährten Lenins durch Stalin in den Moskauer Prozessen von 1937/38 wie aber auch beim Ende der willfährigen Helfer bei der Auslöschung von Revolutionären wie Robespierre oder Jeschow oder Freisler bestätigt sich die sprichwörtliche Weisheit „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“ – es sei denn, man hält die Selbstauslöschung nach dem Beispiel von Sokrates und Christus für die größte gedächtnisstiftende Kraft des geschichtlichen Menschen.

Es verwundert also nicht, dass Cola zunächst damit Erfolg hat, die Volksmacht gegen die Senatorenfamilie Colonna und ihre Rivalen zu etablieren; und es überrascht nicht, dass er seine anfängliche Ausstattung mit Macht gerade den Colonna verdankte, die ihn zu ihrem Agenten machen wollten. Dann aber gelingt es, eben durch die Propaganda mit diesem vermeintlichen Doppelspiel Colas das Volk gegen ihn in Stellung zu bringen und ihn schließlich als Tyrannen (des uns so bekannten Typs Lenin) zu erledigen. Also immer dasselbe Spiel inklusive Liebestragödie, das dort endet, wo man angefangen hatte.

Konnte das beispielhaft werden für die Zukunftserwartung der biedermeierlich getarnten Fortschrittler? Doch, doch, sehr wohl. Und groß gedacht. Die frühen Humanisten durften durchaus glauben, dass die Geschichte gerade wegen ihrer Dauer als Wiederholung derselben Muster in jeweils neuen Zeiten wirksam würde. Derartige Wiederholungen waren für sie mit dem Begriff Wiedergeburt, also Renaissance verbunden. Gerade das Scheitern Colas diente den späteren als Beispiel dafür, dass Wiederholung und Wiedergeburt nicht als identische Reproduktion der vorlaufenden Ereignisse intendiert werden können, sondern vielmehr Exemplifizierungen im Sinne vergegenwärtigender Rückerfindung sind. Den Höhepunkt der Verfolgung dieser Logik des Geschichtlichen im Kontext Renaissance und Humanismus bot der Späthumanist Winckelmann mit seiner Schöpfung eines für die Europäer normativ gewordenen Kontrafakts des griechisch-römischen Schönheits- und Weltsinns „in edler Einfalt und stiller Größe“. Die Winckelmannsche vergegenwärtigende Rückerfindung schuf tatsächlich eine „wahrere“ Antike, als es die historische gewesen ist: jene war ein vielfarbig grelles Disneyland, zum Erbrechen ekelhaft bunt.

Für die Generation Wagner / Engels galt dieses neue Verständnis des Geschichtlichen als eine erst zu denkende, zu schaffende Zukunft. Geschichte ist unsere Zukunft: Sie liegt erst vor uns, und wenn wir sie erreicht haben werden, bleibt sie als Vergangenheit. Und Vergangenheit ist das, was nicht vergeht; denn verginge sie, dann hätten wir ja keine Vergangenheit. In der Aufbruchsgeneration des 19. Jahrhunderts ist das Geschichtlichwerden ein Ziel des Handelns. Die Zukunft von heute ist die Vergangenheit von morgen, aber Vergangenheit ist eben nur das Bleibende, hingegen ist Geschichte ausgerichtet auf das Kommende. Und dafür standen schließlich Marx wie Engels, Helmholtz wie Haeckel, Liebig wie Lasalle.

Der Cola-Hymnus des jungen Engels huldigt demnach nicht einer bloß vergangenen Geschichte, sondern dem Geschichtlichwerden des Konzepts Zukunft. Die treibende Kraft, so Marx/Engels, für die Erwartung der Zukunft ist das Kapital, in dem alle bloß historischen Fakten von der Macht der religiösen Kulte über die Geltung durch Genesis bis zur Gesundheit durch naives Unsterblichkeitsgefühl vereinheitlicht sind. Kapital wird zum Monotheismus der verschiedensten Kulturen, die erstmals in der Geschichte weltweit durch Technologisierung und Kommerzialisierung dem einen obersten, also göttlichen Prinzip der Zukunftserwartung gehorchen. Endlich wissen alle, was die vage Anmaßung geliehener Priesterautorität mit „Deus lo vult“ tatsächlich in Zukunft meinen konnte: „Wir wollen, was wir müssen“ im großen Stoffwechselgeschehen durch die Wandlungskraft des Kapitals, denn diese Anverwandlung ist synonym mit Leben überhaupt.