Buch Angela Zumpe: Und die Geister nehme ich mit ...

Ein persönlicher Werkstattbericht

Angela Zumpe: Und die Geister nehme ich mit ..., Bild: Berlin: Distanz, 2019.
Angela Zumpe: Und die Geister nehme ich mit ..., Bild: Berlin: Distanz, 2019.

Dieses Buch erscheint anlässlich der Ausstellung Angela Zumpe / Oliver Held: Things to Come – ein Lichtspiel über Laszlo, Lucia und Sibyl Moholy-Nagy.

Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), 23.06.-25.08.2019

Lyonel-Feininger-Galerie Quedlinburg, 2.10.-2.12.2019

Anhaltische Gemäldegalerie Dessau, 15.12.2019-12.1.2020

Erschienen
2018

Verlag
Distanz-Verlag

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

ISBN
978-3-95476-288-0

Umfang
212 S.

Seite 206-209 im Original

Schwestern geistern durch die Bruderschaft der Moderne

Bazon Brock zur Autobiografie von Angela Zumpe

Baudelaire und seine Kohorte hatten Mitte des 19. Jahrhunderts proklamiert: „Man muss absolut modern sein.“
Mackintosh begann mit der Arts and Crafts-Bewegung die Umsetzung.
Pater, Ruskin und Jakob Burckhardt bewiesen, dass das Postulat bereits in mehreren historischen Epochen erfüllt worden war. Karl Marx wollte plausibel machen, dass Modernisierung die Logik des Kapitalismus sei, also keiner individuellen Anstrengung bedürfe. Lebensreformbewegung und Deutscher Werkbund, vor allem aber die Künstler des Expressionismus orientierten die Baudelairesche Modernitätsforderung an der lebensstimulierenden Kraft von Erotik, Musik, Tanz, Poesie und Südseereisen – und der euphorisierenden Arbeitsanstrengung: Augiasmus geht über Orgasmus, Lust durch Pflichterfüllung befriedigt länger und stärker als Pflicht zur Lusterfüllung. Und Friedrich Nietzsche wurde zum Propheten der Epoche ernannt.

Ihnen allen, diesen Radikalen des Modernismus, war eines gemeinsam: die seelentriefende Sehnsucht nach Heimkehr in Brüderlichkeit, Gleichheit und Freundschaft als Ausdruck der stärksten Bindung an die Welt. Sie alle wollten am liebsten persönlich anerkannte Mitglieder der Menschheit als großer Bruderschaft werden, im säkularen Kloster genannt Bauhaus, in der Universität, Ateliergemeinschaft oder im Teamwork in einer Fabrik (Warhol war nicht der Letzte). Sie trugen ihre Programmatik wie das Kreuz bei der Prozession.

Was wollte diese scheinbare Imitation der Kulte von Religionsgemeinschaften erreichen? Oder war das Ganze, wie bei den Nazarenern nach dem Rausch der Romantik, die Aufforderung, sich im Heiligen Geist der letzten Lockerung taufen zu lassen? Ja, das wär’s gewesen, weil es ewig gilt! Aber, aber, aber: Für die ewig Modernen gilt, das Sakrale im Säkulare zu finden, das Heilige im Banalen, das Ganze im Einzelnen, Gott im strahlenden Müll, und den Glauben aus der Kraft des Zweifels ins Wissen als Kritik zu überführen.

Die Moderne war und ist der immer erneute Versuch der Gründung einer Gemeinschaft der Heiligen, der Gerechten, der Judasse. Denn Judas war derjenige, der am stärksten an die Mission Jesu glaubte und den Verrat als Initiative zur Revolte, gar Revolution verstand. Die Absolutheit der Moderne liegt im notwendigen Verrat an der konventionell gewordenen Überlieferung, aber nicht, um sie aufzugeben, sondern um sie endlich wieder fruchtbar werden zu lassen. Wahrer Avantgardist der Moderne ist nur, wer uns anleitet, die vermeintlich toten Konventionen, die verschlissenen Traditionen und die im Alltäglichen untergegangenen Hochleistungen der Avantgarden früherer Epochen mit neuen Augen zu sehen. Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen zu begründen durch den neuen, fremden Blick auf die alten schlappen Traditionen: die Mode der 50er Jahre ist heute interessant, die Lyrik des Barock wirkt heute erregend, die nackten weißen Wände der Renaissance-Architektur werden heute bestaunt, El Greco wird als Hochmeister des Expressionismus gefeiert, die Kykladenkultur (1500 v. Chr.) durch Giacomettis Teleskulptur neu entdeckt, etc. etc. Allein die Avantgarde des 20. Jahrhunderts hat uns den neuen Blick auf die Großartigkeit malerischer Werte in den Teppichknüpfereien von Analphabeten vor fünfhundert Jahren erschlossen oder den Respekt vor antiker Hochtechnologie, mit der man vor 2450 Jahren das Akropolis-Programm in zwanzig Jahren realisierte, dessen bloße Reparatur uns heute mit allen unseren angeblich so überlegenen technischen Fähigkeiten in der doppelten Zeit nicht gelungen ist.

Warum waren die Modernen im 20. Jahrhundert so erfolgreich? Sie verstanden Moderne eben nicht als einen Epochenbegriff (z.B. 1908 bis zur Gegenwart); der Begriff Modernität kennzeichnet vielmehr ein immer gefordertes Produktivverhältnis von Neuem und Altem, wobei sich das Neue allein schon aus neuropsychologischen Bedingungen ergibt. Die neuen Generationen können nur ahnen, was ihre Ahnen sich möglicherweise gedacht haben, wenn sie schufen, was wir jetzt als historische Überlieferung geboten bekommen wie die Überlieferungen der Naturevolution.

Aus der Evolution der Natur akzeptierte man als selbstverständlich, dass Frauen mit ihrer göttlichen Fähigkeit, Leben zu geben, prädestiniert seien zur Brutpflege und zum Hüten des oikos, des heimischen Herdes der Verwandlung des Rohen ins Gekochte. Männer hingegen seien für die Nahrungsbeschaffung und Verteidigung des Lebensraums am besten geeignet. Während Männer durch künstlerische Arbeit versuchten, sich selber als Lebengeber (als zoographos signierten sie im 15. Jahrhundert) zu beweisen und so einen Teil der Frauenrollen zu usurpieren, erprobten im Gegenzug Frauen die Möglichkeit, die Verteidigungs- und Eroberungsmachtrollen ihrerseits durch die Erhöhung ihrer Anforderungen an den Beweis von Männlichkeit zu beherrschen. Marienkult und Minnedienst setzten die Standards für die Akzeptanz von Männern so hoch, dass ihre Erfüllung nur noch im Dienst an Frauen möglich schien. Männer wurden zu Delegierten ihrer Frauen als Mütter und ihrer Mütter als Frauen. Wenige nutzen ihre natürliche Veranlagung, um sich als Homosexuelle dem gemütsverhärtenden Machtspiel zu entziehen. Und der Tendenz nach waren die vielen Bruderschaften oder Gesellschaftsstiftungen immer nur und immer schon Versuche, den Geschlechterkampf zu meiden.

Das gelang tatsächlich nur, wenn auch die Schwestern zu Brüdern wurden. Dafür steht unübertroffen der Gründungsmythos des Roten Kreuzes. Henri Dunant soll der Legende nach die kräftigen jungen Frauen der Umgebung zur Hilfeleistung an den Verwundeten auf die Schlachtfelder der Balkankriege der 1850er Jahre geführt haben – Hilfe für Freund und Feind gleichermaßen, was er mit dem Ausruf versuchte: „tutti fratelli“, also alle, die hier liegen, sind Brüder, ob Freund oder Feind; woraufhin die am Boden Liegenden ihrerseits den Mädchen entgegengerufen hätten: „tutte sorelle“, alle sind unsere Schwestern. Dadurch hätten die pflegebereiten Frauen im Tross der Heere den Namen „Schwestern“ (wie heute noch Synonym für Krankenschwester) erhalten. Klaus Theweleit hat dargestellt, wie sich diese Schwesternrolle zur Universalutopie als Phantasie wunder Männerseelen entwickelt hat.

In einem der berühmtesten Kollektivporträts der Versammlung der Bauhaus-Lehrenden ist eine einzige dieser Schwestern zu erkennen, die Weberin Gunda Stölzl als kleine Arachne im Netzwerk der Meister. Herkömmlich wird das als Hinweis auf die soziale Benachteiligung der Frauen gewertet. In Wahrheit ist es wenigstens für das 20. Jahrhundert ein eindeutiges Zeichen für den gescheiterten Versuch der Männer, sich mit göttlicher Kraft zu Lebengebern hochzustilisieren. Schließlich haben sie vor 250 Jahren den Begriff des Genies propagiert, um noch viel radikaler als im Konkurrenzkampf mit den göttlichen Frauen und Müttern sich gegenseitig zu erniedrigen, sogar sich auszulöschen. Nichts ist lächerlicher als die Selbstdarstellung eines Männerchors oder -corps.

Solange die neuen Medien Fotografie und Film noch nicht als genieträchtig galten, überließ man den Frauen die vermeintlich handwerklich-mechanische Mediennutzung. Und selbst wo Männer sich im Genre hervortun wollten wie Moholy-Nagy, waren sie so hochgradig von ihren Frauen abhängig wie Chefs von ihren Sekretärinnen. Wo andere die tatsächliche Arbeit machen, braucht man ein neues Rollenbewusstsein, das im Begriff des Regisseurs weltweit Geltung erhielt. Ein gelungener Coup der männlichen Genialität: Wo andere, vornehmlich Frauen, die Arbeit verrichten, behält Mann sich das Urteil über Qualität und Brauchbarkeit vor. Brecht war für die klassische Bauhaus-Generation ein Künstler als Supervisionär der Arbeit von Margarete Steffin, Elisabeth Hauptmann, Helene Weigel und Ruth Berlau, um nur die wichtigsten zu nennen. Ise Frank wurde in den USA, dem größten Kapitalmarkt des Mäzenatentums, zu Recht als Frau Bauhaus tituliert, denn sie lebte nicht nur mit dem Meister Gropius, sie arbeitete mit ihm. Die erste Frau Gropius, Alma Mahler-Werfel-Gropius-Kokoschka-Zemlinski, ist kein reaktionäres Gegenbild. Sie erschloss all den Herren die sexuelle Energie mit der freudschen Empfehlung, sie aufs Werkschaffen umzuleiten, da sie als Einzelne einer Frau mit Göttinnenformat ohnehin nicht genügen könnten.

Die Produktivität der Frauen ist gerade in der Alma-Rolle unüberschätzbar. Zwar sind sie einerseits gern verschwiegenes Personal der Durchsetzung von Macht als totalitärer Herrschaft, aber in viel höherem Maße eröffnen sie allzu bedenkenlosen Männern das Unterlassen als wesentliche Form des Handelns. Und selbst wenn die Kerle das Nichttun als ein Nichtstun für sich interpretieren, um ihre mangelnden Fähigkeiten als Verzicht im Dienst an der Frau zu adeln, haben Frauen der Weltgeschichte einen großen Dienst erwiesen, indem sie Männer daran hinderten, noch viel größeres Unheil anzurichten, als wir es ohnehin Geschichte nennen.

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