Buch Die ZELTSCHULE

Beispiel einer fruchtbringenden Gesellschaft an einer Kunsthochschule 1970-1975

Achim Lipp: Die Zeltschule, Bild: Hamburg: Philo Fine Arts, 2019..
Achim Lipp: Die Zeltschule, Bild: Hamburg: Philo Fine Arts, 2019..

Mit einem Vorwort von Bazon Brock.

Klappentext: „Paradebeispiel der Zeltschul-Aktivitäten war ihre Beteiligung an der offiziellen Hamburger Gedächtnisfeier zum 250. Geburtstag von Klopstock.
Das Moos vom Ottensener Grabstein des Dichters und seiner Gemahlinnen abzulösen und in Tüten verpackt als Segenspende durch bemooste Häupter unters Volk zu bringen, zielte auf die Segensversprechungen der Shampoo-Werbung.
Die Fotos von Vor-und Rückseite des Klopstock-Grabsteins von einer Sandwichfrau als wandelnden Grabstein durch die Straßen tragen zu lassen, propagierte die innere Mission der Werbebranche: Statt für schnell vergängliche ad hoc-Wirkung von Produkten Propaganda zu machen, stünde es der Gesellschaft gut an, mit „Klopstock bleibt Klopstock“ den Geltungsanspruch von „Persil bleibt Persil“ zu untermauern.
Nur das Vergangene bleibt ewig aktuell: Zum langen Marsch durch die Welt des Dichters boten die Zeltschüler Klopstöcke an als traditionelle Spazierstöcke mit Souvenirmarken für absolvierte Strecken in dessen poetischen Feldern.“ (Bazon Brock)

Erschienen
2018

Autor
Lipp, Achim

Verlag
Philo Fine Arts

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

ISBN
978-3-86572-701-5

Umfang
330 S., 440 Abb.

Seite 10 im Original

Wegweiser, die den von ihnen angezeigten Weg selber gehen? On the road mit dem Zelt durch die pädagogische Provinz

Prolog

Zu den jüngeren der jährlichen Veteranentreffen ehemals bei Brock und Bazon Studierender trug der höchst agile Achim Lipp Erinnerungen an das Studium in Zeiten des großen Aufbruchs vor. Mit steigender Faszination drängten wir den Erzähler, eine Buchversion seines postheroischen Gesanges zu erarbeiten. Sie liegt nun vor, gestaltet von Studierenden der Wuppertaler Brock-Linie und mit stolzem Neid verbreitet von der Wiener Brock-Schule.

Kein Werk, das einer Hochschularbeit zu verdanken ist, kommt ohne Verweis auf wissenschafts- oder kunsttheoretische Rahmenbedingungen aus, wenigstens nicht ohne souveräne Selbstdistanzierung in romantischer Ironie. Im Falle Zeltschule schlug Bazon vor, die Dissertation „Vertell, vertell, du lügst so schön“ von Kristin Jahn aus dem Jahr 2007 als Bezugspunkt zu wählen. Kristin Jahn entschlüsselt das Verfahren des literarischen Großmeisters Uwe Johnson, Erinnerung als Schöpfung aller drei intrapsychischer Vermögen zu verstehen: des kognitiven, des emotionalen und des spirituellen Potentials.

Seit dem Historiker Mommsen der Nobelpreis für Literatur zugesprochen worden ist, wird Geschichtsschreibung vorrangig als literarisch-künstlerische Leistung erkannt. Fakten sind die stimula der Fiktion; das historisch Tatsächliche als Getanes oder Unterlassenes, als Geschehenes oder Verhindertes wird nicht nur durch die Erzählung relativ, weil in größere Zusammenhänge/Relationen eingestellt; es wird auch gemäß Erkenntnisinteresse des Erzählers bewertet und im Mitgefühl der Adressaten gefärbt (blass vor Schrecken, gerötet vor Erregung, gelb vor Neid, grau vor Kummer).

Maßstab ist also die Faszination der faktenstimulierten Fiktion oder die Glaubwürdigkeit der Lüge oder die Wahrheit des Schönen oder die Beweiskraft des Gelingens von Erzählung. Gerade darin sind die biblischen Erzählungen meisterhaft. Jakob läßt durch ein Betrugsmanöver seinen blinden Vater glauben, er sei dessen Erstgeborener Esau, dem nach Stammesrecht die Nachfolge des Vaters zukomme. Eine wirkungsvolle Täuschung, denn gerade der Lügner erweist sich als Agent der Wahrheit: Erst das Wirken Jakobs, vor allem in seinem Ringen mit Gott, läßt die Einheit von Weltgeschichte/Heilsgeschichte und Lebensgeschichte von Individuen glaubhaft werden.

Die Erzählung zur Arbeit der Zeltschule in der ersten Hälfte der 1970er Jahre an der Hamburger Hochschule für bildende Künste im Lerchenfeld wird so zur Beglaubigung der objektiven Tendenz jener Zeit, Haushalte und Kindergärten, Schulen und Universitäten, Fabriken und Verwaltungen aus Unvollkommenheit der eigenen Macht, also aus Ohnmacht von neuem zu gründen und zu begründen. Was für eine heroische Haltung, Ohnmacht als Alternative zur Macht verstehen zu wollen! Und als sich das tatsächlich im Sieg des Vietcong über die Macht aller Mächte bewahrheitete, bedurfte es des demonstrativen Beweises nicht länger und die 68er gingen im Zeitgeschehen auf wie Brühwürfel in der Suppe.

Vielleicht ist es ein überzeugendes Beispiel für die Wirksamkeit des Simulierens der Wahrheit in der Wirklichkeit, die vor allem in ihrer unbestimmbaren Vieldeutigkeit und Vielwertigkeit irritiert, wenn wir das Bild eines wandernden Wegweisers wählen, um das Verhältnis von Fakt und Fiktion oder von lebender Realität und Erinnerung zu bestimmen. Der historische Akteur trägt den Wegweiser mit sich, dem er folgen will, um ein erwünschtes Ziel zu erreichen. Notwendigerweise erreicht er schließlich die Einsicht, dass ihm der Weg zum Ziel wurde. Und dass das Ziel seiner Anstrengung, nämlich Vollendung durch Beenden, unerreichbar bleibt, aber gerade darin als Motiv unauslöschlich, unerschöpfbar wird.

Summa: Wenn Lipp heute erzählt, wird es klar, welch ein grandioses Vorhaben die Zeltschule damals hätte gelten können. (Das bezeugt z. B. Klaus Müller im Epilog dieses Bandes.) Dennoch könnte man heute die Zeltschule nicht aus ihrem zeitbedingten Experimentalstadium zu einem Muster der institutionalisierten Kunstschule werden lassen, denn das Potential des Ansatzes, das damals nicht erkannt werden konnte, würde man löschen, wenn man es unter heutigen Umständen verwirklichte. Was also bringt das Beispiel,  wenn wir ihm nicht folgen dürfen, ohne es zu zerstören? Antwort: Auch zu Erinnerungen stimulieren wir uns nicht, um sie in aktuelle Lebensform zu überführen. Das Mögliche, durch Erinnerung erfahrbar geworden, sollte seiner Bedeutung nicht beraubt werden durch den Versuch, es in Wirklichkeit zu überführen – so wie die Kraft des Wünschens nur erhalten bleibt, solange sie nicht durch Erfüllung der Wünsche gelöscht wird. Die Zeltschule würde heute nicht sein können, was sie in der Erzählung einstmals war, denn außerhalb dieser Erzählung gäbe es nur ein paar zufällige Informationen über einen alternativen Versuch von Studierenden, sich zu Kunstlehrern auszubilden.

Damals höchst populär: On the road, der Weg ist das Ziel

Hatte Bazon Brock Pech oder Glück, dass er bei Antritt seiner Lehrtätigkeit an der vier Stockwerke hohen Schule für bildende Kunst am Hamburger Lerchenfeld 1965 nur unwesentlich älter war als die Studierenden? Es ging nicht um das Problem der damals üblichen Duz-Kumpanei – vor dieser  Zwangseingemeindung schützte ihn die unerschütterliche Ausrichtung auf Themen statt auf Liebe zum Nächsten. Ihm scheint es immer noch einzig sinnvoll, Menschen im Hinblick auf die Gedanken zu würdigen, die sie vertreten oder für die sie einstehen; die Aura der nackten Individualität in noch so ansprechender Gestalt erschöpft sich schnell.

Das Gleiche gilt für Artefakte aller Art, auch für „jute“ Kunst; die Objekte, die nicht über sich selbst hinausweisen, bleiben leblose Pflastersteine, unter denen man den Strand des Lebens erst freilegen muß. Seit der frühen Darstellung des notwendigen Scheiterns von Utopien, seit Defoes „Robinson Crusoe“ von 1719 wird das gestrandete Schiff zum Überlebensmittelarchiv. Zweifellos empfand ein großer Teil der später 68er genannten Generation die Universitäten aller Typen als gestrandete Bildungsträger des Fortschrittsglaubens. Das Strandgut aber wollten und konnten sie nutzen als Archiv der „gesellschaftlichen“ Verfehlungen und Irreführungen. Das reine Pathos des Neubeginns schwächt sich zur alltäglichen Kommunikation zwischen Robinson und Freitag ab; das Dominanzgefälle etabliert sich und die alten Beziehungsmuster, denen man entgangen zu sein schien oder denen man entgehen wollte, setzen sich selbst in der Wüsteneinsamkeit oder im polaren Niemandsland fest. Die Aus- und Umsteiger aller Kategorien können, wenn überhaupt, das Ziel ihrer Wünsche nur in der Erfahrung erreichen, dass man den Problemen des Lebens als grundsätzlich unlösbaren nicht entkommen kann, sondern sie zu bemeistern lernen muß.

Konkurrenz belebt das Geschäft, so der gesunde wie der ungesunde Menschenverstand. Für die Studierenden galt es damals wie immer, dem Vorrang von jungen Dozenten zu entgehen, indem sie ihnen Konkurrenz zu machen versuchten. Gerade in diesem Bestreben zeigt sich die Anlage zur wahren Schülerschaft, denn Schüler sind der Sache nach verpflichtet, ihre Lehrer zu überbieten, wie umgekehrt nur der ein guter Lehrer ist, der die Schüler dazu befähigt, ihn tatsächlich zu überfliegen. Die Zeltschüler waren in dieser Hinsicht sehr talentiert. Das zeigt sich in diesem Bericht über ihr grandioses Projekt. So gehen sie heute noch davon aus, dass die Professoren der HFBK ganz selbstverständlich die Zeltschule als Affront verstanden und dass sie zum Beispiel das Programm „Kunst ist Leben“ verwirklicht hätten, unabhängig davon, ob „Beuys bereits in Zeltschulzeiten dieses Diktum propagiert hatte oder nicht“ (Epilog). Natürlich war das Programm „Kunst ist Leben“ während der 60er Jahre jedermann vertraut, weil zum Beispiel Vostell es mit Rückgriff auf die Avantgarde des 20. Jahrhunderts bei jeder Gelegenheit propagierte. Sämtliche Professorenkollegen der HFBK, mit denen Bazon kooperierte, verstanden die Zeltschul-Aktivitäten nicht als Affront. Aber es gehört eben zur Logik der Konkurrenz, im eigenen Tun das erfüllt zu sehen, was man so schmerzlich vermißt, weil man es bei den Lehrern nicht sehen durfte. Die Erfüllung eines vermeintlichen Mankos wird als Beweis für die gelungene Konkurrenzierung gewertet.

Achim Lipp, Initiator und treibende Kraft der Zeltschule, rechtfertigte sich in dieser Funktion nicht als Vorbild, sondern als Beispielgeber – genau das aber hatte er von dem jungen Dozenten Brock als Formel der Rechtfertigung für Lehrautorität gehört. Also war der Lehrer Brock erfolgreich dadurch, dass der Student Lipp seine Argumentation übernahm, um als Einzelner die Autorität des Kollektivs Zeltschule zu konstituieren. Anders wäre der Widerspruch zur herkömmlichen Lehrpraxis kaum sinnvoll gewesen. Denn auch Brock hatte sich seinerseits vom konventionellen Lehrbetrieb abgesetzt und es war naheliegend, die Abweichung vom Abweichler als Überbieten des Überbieters mit kabarettistischer Vernunft, mit Ironie und Gelächter vor der Lächerlichkeit zu retten. Übrigens hatte man gerade von Beuys die wiehernde Lache gegen Selbstwidersprüchlichkeit übernehmen können. Nur so läßt sich ertragen, was des Volkes wie des Wissenschaftlers Mund als große Einsicht verlautbart: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe. Die gleichen Machenschaften von Regierungen und Mafia-Organisationen sind danach zu unterscheiden, dass dasselbe Handeln einerseits als legal und andererseits als illegal gilt. Es ist wohl nur mit wieherndem Gelächter zu ertragen, dass gegenwärtig Schwachstellen im Netz von Seiten der Aufsichtsbehörden nicht beseitigt werden, damit im staatlichen Interesse legal das zu tun möglich bleibt, was man den Mafioten als kriminelles Hacken vorhält. Oder wenn vom Friedensfürsten Obama ohne  gerichtliche Beschlußfassung Tötungsaufträge gegen terroristische Mörder erteilt werden, um damit genau das zu tun, was man Terroristen als todeswürdige Schuld vorwirft. Oder wenn man, wie damals üblich, etwa die Bildfindungen eines Magritte bedenkenlos und unentgeltlich für Werbezwecke nutzte, weil sie in diesem Verwertungszusammenhang angeblich nicht als Kunst, sondern als Grafikdesign zu gelten hätten.

Die im HFBK-Seminar abgehandelte Frage „Woher kommen die kleinen Zinsen?“ als zeitgemäße Transformation der elterlichen Aufklärungsformel „Woher kommen die kleinen Kinder?“ wird von Lipp revoziert mit der Frage „Wie sagen wir es unseren Eltern?“ Und die Eltern haben es verstanden, das belegt eine herrliche Karikatur von Greser & Lenz in der FAZ, die bürgerliche Elternautorität nach den Bankenpleiten 2008 in Sorge um das Kind zeigt.

In gewisser Weise bot die Zeltschule die experimentelle Überprüfung der Theoreme in Brocks Seminar, die ja selber aus der Brock’schen Praxis der theoretischen Kunst hervorgegangen waren. Primär war das Theorem der negativen Affirmation, also der Anweisung, jede Wahrheitsbehauptung durch ihre hundertfünfzigprozentige Übererfüllung in sich zusammenbrechen zu lassen. „Alles muß auf den Tisch, bis er bricht“ (so Peter Idens systematische Zusammenfassung der Brock’schen Demonstrationspraxis in der „Frankfurter Rundschau“ zu Zeiten der Experimenta Frankfurt 1966 ff.) Das Prinzip des Wörtlichnehmens, der Affirmation als Strategie der Aufhebung in der Widerlegung bewiesen die Zeltschüler mit ihrem Ausdruck von Bahnsteigkarten für Revolutionäre, denn zufolge eines Lenin’schen Bonmots sei die Aussicht auf Revolution der Arbeiter in Deutschland durch Blockade der Verkehrssysteme äußert gering, weil Deutsche im blinden Wortwörtlichkeitsgehorsam Bahnhöfe nur mit gültigen Bahnsteigkarten betreten würden, für deren Erwerb Arbeiter aber kein Geld hätten.

Die zeitgemäßen Flugblattaktionen des linken Blocks oder des Lagers der Alternativen ließen die Zeltschüler in den Versammlungsräumen des SDS etc. tatsächlich als Papierflugzeuge fliegen. Den Mao-Gläubigen, der der Autorität seiner „chinesischen Weisheit“ verpflichtet ist, düpierten die Zeltschüler mit hohen und breiten Wandpaneelen, auf denen scheinbar leuchtende Weisheiten des Großen Vorsitzenden auf Chinesisch der Anbetung dienen sollten; die chinesischen Schriftzeichen bezogen sich aber nicht auf Maos Erleuchtungen, sondern auf die Speisekarten von Hamburger China-Restaurants.

Die Spencerbrown’schen Anweisungen zur Sinnstiftung durch Unterscheidung mit draw a distinction überführten die Zeltschüler in alltägliche Erfahrung, indem sie Passanten durch einfache Kreidestriche auf der Straße, auf Fußböden oder Wänden die Einsicht nahe brachten, dass alle Sinnstiftung auf  Unterscheidung beruht, primär die von oben / unten, links / rechts, nah /fern.

Höchst erfolgreich demonstrierten die Zeltschüler die metaphorische Gestalt des Bockspringens und der Fingerzeige. Dem von Brock 1963 gegründeten Institut für Gerüchteverbreitung trugen die Alternativen herzlichste Bestätigung zu, indem sie ihre eigenen Aktivitäten als bloße Gerüchte verbreiteten und
damit jeder ordnungsrechtlichen Verantwortung entgingen.

Paradebeispiel der Zeltschul-Aktivitäten war ihre Beteiligung an der offiziellen Hamburger Gedächtnisfeier zum 250. Geburtstag von Klopstock. Das Moos vom Ottensener Grabstein des Dichters und seiner Gemahlinnen abzulösen und in Tüten verpackt als Segenspende durch bemooste Häupter unters Volk zu bringen, zielte auf die Segensversprechungen der Shampoo-Werbung. Die Fotosvon Vor-und Rückseite des Klopstock-Grabsteins von einer Sandwichfrau als wandelnden Grabstein durch die Straßen tragen zu lassen, propagierte die innere Mission der Werbebranche: Statt für schnell vergängliche ad hoc-Wirkung von Produkten Propaganda zu machen, stünde es der Gesellschaft gut an, mit „Klopstock bleibt Klopstock“ den Geltungsanspruch von „Persil bleibt Persil“ zu untermauern.

Nur das Vergangene bleibt ewig aktuell: Zum langen Marsch durch die Welt des Dichters boten die Zeltschüler Klopstöcke an als traditionelle Spazierstöcke mit Souvenirmarken für absolvierte Strecken in dessen poetischen Feldern.

Da lachte Bazon das Herz, denn er hatte ja im 24-Stunden-Happening Wuppertal 1965 in endloser Folge die „Schwingungsweiten des Krückstocks meines Großvaters“ demonstriert und mehrfach im Unterricht Klopstock als den einzigen gerühmt, der in der nachgriechischen Welt noch täglich handfest erfahre, was Metaphysik heißt: Klopstock fasste vor Freunden sein herzliches erstes Weib Meta um die Taille und erwies damit sinnfällig, was Meta-Physik sei. Und Bazon hatte in der Hamburger Kunsthalle dem von Direktor Werner Hofmann programmatisch präsentierten „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich zugebrüllt: „Dreh dich endlich um, Kerl“, worauf der erschreckt in der schnellen Drehbewegung seinen Krückstock aus dem Bilde schleuderte.

Die vielen Exkursionen der Zeltschule imitierten zum einen den Wanderzirkus, damals noch Attraktion mit exotischer Tierschau und den Bewegungskurven geschleuderter Körper vor nachtblauem Sternenhimmel hoch über der Manege. Und das Leben der Zirkusleute in mobilen Gehäusen war das Urbild der Bohème auf faszinierenden Lebenswegen. Zirkusse boten vor allem mit ihren Zauberkunststückchen den Inbegriff aller Erkenntnissuche in der kognitiven Differenz, in der Unvereinbarkeit dessen, was man weiß, mit dem, was man sieht. Das ist schließlich die Wirkweise aller Kunst.

Zum anderen folgten die Zeltschüler etwa mit dem Besuch der documenta V 1972 dem Impuls zur Nomadisierung, früher viaggio mundi genannt. Der Sache nach aber war das ein Vorgriff auf die heute jedem vertraute „Diaspora für alle“. Endlich haben uns die Juden teilnehmen lassen an ihrer Antriebskraft Modernität: Keine Heimat nirgends, aber nächstes Jahr wieder in der Aussicht auf ein nächstes Jahr in alle Ewigkeit! Die Zeltschüler waren so ziemlich die einzigen documenta-Besucher, die die von Bazon vorgegebenen Leitmotive „Neue Bilderkriege“, „Der Wirklichkeitsanspruch der Bilder“ oder „Mediation / Vermittlung anstelle des Urteils“ begriffen. In feierlicher Selbstverständlichkeit brachten sie Denkraum, Vorstellungsraum und Realräume zur Deckung und wechselten, als sei ihnen das Ganze durch Studium geläufig, die Ebenen. Und Bazon als Programmator der dV erschloß den Zeltenden den Anschluß an die Geschichte der Aufklärung, wie sie der Volksmund bis dato verstanden hatte: Die französischen Revolutionskrieger haben in der eroberten und zur Bekehrung bereiten Republik Mainz den jungen Mädchen zugerufen: „Visitez ma tente!“ Die besorgten Eltern verboten den Töchtern derartige „Fisimatenten“. Die Gegenrevolution siegte am Ende als Restauration und nur den Künstlern blieb die einsichtige Selbstkennzeichnung vorbehalten, sie seien als Fisimatentenmacher permanente followers der immer weiter gedachten Revolution.

Achim Lipps bewundernswerte Spurensuche läßt nun die Zeltschule als Sammlung verführerischer Fisimatenten erkennen, in der Nachfolge von Alfred Jarry, den Dadaisten und den Fluxus-Flößern, die an die Strände gestrudelte Zufallsobjekte durch das Sammeln nach neuen Unterscheidungskriterien geschichtsträchtig werden lassen. Die Zeltschule ist auch eine Zeitschule.

Jürgen Johannes Hermann Brock

siehe auch:

  • Vortrag / Rede

    Die ZELTSCHULE – Das Narrenschyff legt an

    Vortrag / Rede · Termin: 07.06.2019, 15:30 Uhr · Veranstaltungsort: Hamburg, Deutschland · Veranstaltungsort: Cap San Diego Museumsschiff, Überseebrücke, 20459 Hamburg