Vortrag / Rede Ortslinien – Zeiten überlagern

Symposium mit Ausstellung anlässlich des 90. Geburtstags von Walter Kempowski (1929-2007) zu seinem bisher unveröffentlichten Spätwerk ›Ortslinien‹ in Hamburg (25./26.04.2019)

PROGRAMM

DONNERSTAG, 25. APRIL 2019 (UE AUDIMAX)

10:00 Begrüßung
Prof. Heike Ollertz (Dekanin, UE Hamburg) und Axel Schneider (Intendant, Altonaer Theater)

10:15 Einführung
Prof. Christoph Büch (UE Hamburg) und Prof. Dr. Stephan Günzel (TU Berlin)

11:00 „Ich steige in den Leib der Geschichte“: Kempowskis Ortslinien – ein Überblick
Dirk Hempel (Autor, Hamburg)
Moderation: Prof. Christoph Büch (UE Hamburg)

12:00 Luhmanns Zettelkasten: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Johannes Schmidt (Luhmann-Archiv, Uni Bielefeld)
Moderation: Anton Kaiser (TU Berlin)

Intervention I

13:30 Talk: „Eine Befreiung der Literatur!“ – Visionäre Ansätze im Werk Kempowskis
Prof. Dr. Carla Damiano (Eastern Michigan University), Dr. Volker Hage (Kulturjournalist, Hamburg) und Simone Neteler (Autorin, Berlin) im Gespräch mit Falko Hennig (Autor, Berlin)

Intervention II

15:30 Pathogene Erinnerungen: Glücklich ist, wer vergisst
Prof. Dr. Michael Linden (Charité Berlin)
Moderation: Dr. Jiré Emine Gözen (UE Hamburg)

16:30 Memory Loop
Prof. Michaela Melián (HfbK Hamburg)
Moderation: Prof. Christoph Büch (UE Hamburg)

18:00 Ortslinien – Interfaces: Ausstellungseröffnung und Empfang im Altonaer Museum
Studierende des Studiengangs Kommunikationsdesign der UE Hamburg stellen aus

19:00 Hamburger Autor*innengespräch zu Kempowski mit Karen Duve, Dirk Hempel, Gerhard Henschel, Jan Philipp Reemtsma und Axel Schneider
Moderation: Peter Helling (NDR), Dramaturgie: Dr. Sonja Valentin (Altonaer Theater)

FREITAG, 26. APRIL 2019 (UE AUDIMAX)

10:00 Zugänge zu Geschichte: Videospiele und Inszenierung vergangenen Lebens
Prof. Dr. Angela Schwarz (Uni Siegen)
Moderation: Martin Ziesche (TU Berlin)

11:00 Talk: Ortslinien und Big Data
Prof. Dr.-Ing. H. Siegfried Stiehl (Uni Hamburg) im Gespräch mit Dr. Dirk Hempel
Moderation: Prof. Christoph Büch und Prof. Dr. Stephan Günzel

13:00 Geschichte als Fragment. Gedenken und Gomorrha
Prof. Dr. Knut Ebeling (Weißensee KH Berlin)
Moderation: Prof. Dr. Mirjam Goller (UE Berlin)

14:00 Comic 2.0
Prof. Dr. Wolfgang Kemp (Leuphana Universität Lüneburg)
Moderation: Prof. Friederike Groß (UE Hamburg)

Intervention III

15:30 Gegen-Erzählungen. RomArchive – Das Digitale Archiv der Sinti und Roma
Isabel Raabe (RomArchive, Berlin), André Raatzsch (Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg)
Moderation: Carla Gumbrecht (TU Berlin)

16:30 Zur Möglichkeit von Geschichtsschreibung jenseits zeitlicher Linearität
Prof. Dr. Bazon Brock (Denkerei, Berlin)
Moderation: Johanna Winter (TU Berlin)

17:30 Abschluss
Studierende der UE Berlin präsentieren die visuelle Dokumentation des Symposiums

WAS SIND DIE ‚ORTSLINIEN‘?

In seinem letzten und unvollendet gebliebenen Projekt ›Ortslinien‹ hat Walter Kempowski bis zu seinem Tod an einem digitalen Archiv (bestehend aus Texten, Fotos, Gemälden, Filmen und Musikstücken) gearbeitet. Diese Sammlung war der Versuch, jeden Tag von 1800 bis 2000 durch eine unterschiedliche Anzahl von ihm ausgesuchter ›Kunstprodukte‹ zu repräsentieren. Darunter verstand Kempowski sowohl Werke von Kunstschaffenden wie auch Erzeugnisse der Massenmedien oder Dinge des Alltags. Hiermit verließ er die lineare Form des Buches endgültig zugunsten einer vom ihm stets angestrebten synchronen Darstellung von Geschichte.

Mit dem geometrischen Begriff der ›Linie‹ (der eine Gerade als Menge der auf ihr liegenden Punkte bezeichnet) wollte Kempowski denkbar machen, dass unterschiedliche Zeitebenen miteinander verschaltet werden können und so ein neuer Zugang zur Historie – eine Art ›Geschichtsschreibung 2.0‹ – möglich ist. Als solcher steht er der Struktur des individuellen Erinnerns nahe, bei dem die virtuelle Vergangenheit präsent gemacht wird in der gelebten Gegenwart. Zugleich ist die erzeugte Verbindung jedoch apersonal und aktualisiert sich gleichsam erst in dem durch sie hergestellten Raum.

Ein solcher Geschichtszugang ist im ›Ortslinien‹-Projekt dadurch gegeben, dass ausgewählte ›Kunstprodukte‹ von jeweils zwei Tagen mit exakt einhundert Jahren Abstand gleichzeitig zur Ansicht gebracht werden – also etwa die Dateien vom 5. Mai 1871 und vom 5. Mai 1971. So verbindet sich plötzlich ein Foto dreier Frauen mit vollgepackten Einkaufstüten in einem Bochumer Supermarkt mit einem Heeresbericht des preußischen Hauptquartiers über eine Kavallerieattacke vor Sedan. Über das Wie der ›Ortslinien‹ gibt es nur wenige Aussagen von Walter Kempowski: So spricht er in einem Interview mit der taz im Jahr 2003 von drei Monitoren, die er sich zu einer Auswahl und gleichzeitigen Anzeige der Ereignisse vorstellen könnte. Hiervon ausgehend arbeiten Studierende der University of Applied Sciences Europe in Hamburg seit einigen Semestern an einem adäquaten Schnittstellendesign. Langfristiges Ziel ist es dabei, die Fülle der Daten sowohl online als auch in Ausstellungssituationen zugänglich zu machen.

SYMPOSIUM

Mit dem Symposium soll nicht nur gezeigt werden, inwieweit Kempowskis Vorhaben anschlussfähig ist, sondern auch wie es selbst als eine strukturelle Vorahnung größerer Veränderungen der medialen Wirklichkeit angesehen werden kann. Die Beiträge und der Austausch laden dazu ein, Methoden und Verfahrensweisen im Umgang mit Geschichte sichtbar werden zu lassen, sodass die Frage nach deren Rekonstruktion im digitalen Zeitalter über das Symposium hinaus zu neuen Gestaltungsideen anregt. Da ›Ortslinien‹ ein formal wie medial vielschichtiges Werk ist, bei dem unterschiedliche Themenfelder zusammenfließen, wurden für das Symposium Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen gewonnen, um den interdisziplinären Austausch zu ermöglichen.

ARCHIV, COLLAGE, MASH-UP

Neben Beitragenden aus dem Bereich der Literatur, dem Interfacedesign und der Geschichtswissenschaft sind Referent*innen aus der KI-Forschung sowie Musiker*innen und andere Künstler*innen eingeladen, die sich verwandten Methoden – wie der Collage oder dem Mash-Up – bedienen: Aus Sicht der Informatik etwa lässt sich Kempowskis Vorgehen als Bruch mit dem vorherrschenden Code der kulturellen Deutung verstehen. Vom Standpunkt der Literaturwissenschaften aus kann wiederum diskutiert werden, ob ›Ortslinien‹ überhaupt noch ein schriftstellerisches Projekt ist. Der Versuch, Historie durch teilweise Dekontextualisierung und unmittelbare Anschauung zu erzählen, schreibt dem Werk auch Potentiale eines Lehrmittels aus der Perspektive der Bildungswissenschaften zu. Räumliche Installationen der ›Ortslinien‹ werfen die Frage nach einem multimedialen Denkmal auf. Durch die Collage aus Texten, Bildern, Filmen und Musik rückt das Vorhaben zuletzt in die Nähe des Samplings.

KOOPERATION

Altonaer Theater, Altonaer Museum, Akademie der Künste Berlin, Freie Akademie der Künste Hamburg, Kempowski Stiftung Kreienhoop, University of Applied Sciences Europe Hamburg und Technische Universität Berlin

Termin
26.04.2019, 16:30 Uhr

Veranstaltungsort
Hamburg, Deutschland

Veranstalter
University of Applied Sciences Europe GmbH

Veranstaltungsort
UE – University of Applied Sciences Europe, Audimax, Museumstraße 39, 20765 Hamburg

Zur Möglichkeit von Geschichtsschreibung jenseits von zeitlicher Linearität

Was hat die Literatur der Geschichtsschreibung voraus? Geschichte ist normalerweise die Geschichte des Geschehenen. Inzwischen ist aber das Nicht-Geschehende, weil vernünftigerweise Unterlassene, für den Fortbestand des Lebens auf Erden viel wichtiger als alles gewalttätige Getue. Das Unterlassen als ethisch höchstrangiges Handeln ist genuine Aufgabe der Literatur. Zudem beschränkt die Schilderung der Ereignisse wie der Ereignislosigkeit nicht auf das sich bloß so Ergebende, sondern orientiert sich auf die Macht des Möglichen. Bessere Geschichtsschreibung gibt es nur als gute Literatur.